Der Ring der Niedersachsen. Cornelia Kuhnert
Verlorene Schlachten werden von offiziellen Geschichtsschreibern gern der Unfähigkeit der Befehlshaber zugeschrieben, doch ist dies wirklich immer die Ursache?
Schneidet den Faden durch, Ihr Parzen!
Geh’, Privatus, du kannst mir nicht mehr helfen, versuche dich zu retten. Nimm die restlichen Männer und flieh! Ach, in den Triumph wollte ich euch führen, den Tod habe ich euch gebracht. Den Tod, der mir gebührt, der nicht mehr lange auf sich warten lassen wird. Parzen, zerschneidet endlich den Faden, es schmerzt, nein, nicht die Schwertwunde im Bauch, das Wissen, dass ich versagt habe. Alles ist verloren, unser Plan gescheitert, er hat gesiegt. Oh, ihr Götter, so seid ihr mit ihm, nicht mit mir.
Was sagst du, Privatus? Bist du noch immer hier? Ich kann dich nicht verstehen, es rauscht in meinen Ohren. Weine nicht, ich musste es tun. Privatus, mein treuer Sklave, erfülle mir diesen letzten Wunsch, nimm den Unglücksring, wirf ihn in den Fluss oder vergrabe ihn auf der Insel der Fährmänner.
Ich habe versagt. Sie brennen, sie morden, sie zerstören. Verrat im Verrat.
Lange scheint es zu dauern, bis Morpheus mich holt, für immer. Bist du noch immer da, Privatus, nun denn, so reiche mir einen letzten Becher Wein. Hilf mir, ihn an die Lippen zu führen, meine Hand will mir nicht mehr gehorchen. Oh, es tut gut zu spüren, wie dieser Nektar die Kehle hinunterläuft. Was sagst du, der Blonde ist im Blutrausch? Er wird nicht lange Freude an seinem Siege haben, Tiberius sagte schon damals, sie würden sich gegenseitig zerfleischen, wir bräuchten nicht viel zu investieren. Er wird recht behalten! Tiberius, guter Freund, mit dem ich zum ersten Mal dieses Land betrat, weiter im Süden, damals, vor nunmehr vierundzwanzig Jahren. Seltsam, wie klar die Bilder sind, obwohl mir die Kräfte schwinden.
Wild war das Land, in das wir kamen, wie auch die Bewohner. Tiberius hatte den Oberbefehl, ich kommandierte eine Legion, meine Legion – die heute untergegangen ist. Immer wieder waren die Stämme in römisches Gebiet eingefallen, hatten gemordet, geplündert, zerstört, Verbündete und Bundesgenossen vertrieben. Rom musste handeln, so sah ich das auch. Von Gallien aus zogen wir am Rand der Alpes entlang, bis zu den Quellen der Danubis. Wir unterwarfen sechsundvierzig Stämme. Die ersten hatten sich zum Kampf gestellt. Ich liebte den Kampf, den Rausch, hervorgerufen durch den Gleichschritt von Tausenden von Füßen, schneller werdend, gemischt mit dem Klirren der Waffen, dem Angriffsschrei der Legionäre. Ich liebte es zu sehen, wie die wilden, ungeordneten Horden der Barbaren sich lichteten, wie sie fielen, wie sie flohen; die stolzen Gesichter meiner Männer. Ich fand, Augustus’ Befehl, so viele wie möglich zu töten, Dörfer zu verwüsten, verbrannte Erde zu hinterlassen, damit sie sich nie wieder gegen Rom erhöben, damit sie keine Kinder hätten, die Rache nehmen könnten, war genau richtig. Ich lebte diesen Befehl. Tiberius tat es nicht. Er schlug die Schlachten, die notwendig waren, schlug sie ruhig und besonnen, siegte. Dann verhandelte er. Er schloss Verträge, nahm vornehme Geiseln, schickte sie nach Rom, zu Augustus, verpflichtete die Jugend, im römischen Heer zu dienen. Er hatte Erfolg. Die meisten der sechsundvierzig Stämme unterwarfen sich kampflos.
Wir lagerten am Lacus Brigantinus1. Es war ein schöner Sommer in jenem Jahr, warm, mild, grün lag das Land vor uns, das wir eroberten. Dieses Grün … Ich mochte das Land. Wie jeden Abend bauten die Männer ein Lager, hoben den Graben aus, schütteten den Wall auf, setzten Palisaden darauf. Einige tränkten die Pferde und Maultiere, andere sprangen in das klare Wasser, um sich nach dem Marsch zu erfrischen, doch immer auf der Hut, man konnte den Einheimischen nicht trauen, in jedem Wald, in jedem Tal konnten sie sich verstecken. Indes, wir waren unbesiegbar, dies Gefühl erfüllte mich.
Am Abend saßen wir vor unserem Zelt am Feuer, buken Brot wie unsere Männer, aßen das Wildbret, das dieses Land so großzügig feilbot. Dann zogen wir uns zurück, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Tiberius war akribisch, plante genau, überließ nichts dem Zufall. Ah, Tiberius, guter alter Freund. Wir tranken Wein, und ich wurde streitlustig. »Meine Männer sind unruhig, sie wollen kämpfen, nicht verhandeln, sie wollen Beute machen, wollen Frauen«, sagte ich.
»So können deine Männer ab morgen mit den Landvermessern gehen und unsere Straßen bauen«, erwiderte Tiberius, »dann sind sie beschäftigt.«
»Komm, alter Kumpel, du weißt doch, was Augustus will. Wir sollen das Land erobern, den Leuten hier eine Lektion erteilen.«
»Ich weiß, was Augustus will: Macht. Macht über Rom, über uns, über die Welt. Ja, du hast recht, wenn es nach ihm ginge, würden wir hier alle totschlagen, ein paar nach Rom bringen als Sklaven, die schönsten für ihn. Die kann er dann quälen.«
Gute Götter! Tiberius als Stiefsohn des Augustus sprach solche Worte. »Er hat Frieden gebracht, die ›Pax Romana‹, den Bürgerkrieg beendet. Nie ging es uns besser als jetzt!«
»Ach, Publius, was weißt du schon. Uns mag es gutgehen, dir, weil du aus einer angesehenen Familie stammst, mir, weil ich das Pech hatte, dass er meine Mutter wollte. Hast du die Verbrechen vergessen, mit denen er an die Macht kam? Mit dem Schwert in die Curie zu gehen und die Senatoren zu zwingen, ihn zum Konsul zu machen, ist das eine friedliche Tat? Die Morde, die er beging in Perusia, die Vertreibungen der Bauern von ihren Höfen, um Land für seine Veteranen zu erhalten? Nein, er ist kalt, er ist grausam, ich kenne ihn.«
»Du bist betrunken, Tiberius!«
»Ja, ich bin betrunken, ich habe vor, noch mehr zu trinken. Wenn ich darüber nachdenke, ist es nur im Trunk zu ertragen.«
»Warum dienst du ihm dann?«
»Natürlich müssen unsere Grenzen geschützt werden. Und ich mag das Leben als Feldherr, fern von den Intrigen in Rom. Ich will die Völker nicht ausrotten, ich will sie durch die Vorzüge römischer Kultur an uns binden. Schau dir doch diese Dörfer hier an. Wer einmal eine römische Stadt gesehen, wer ohne Hunger und ohne zu frieren über den Winter kam, der wird sich nicht nach den tristen, kalten, schmutzigen Hütten zurücksehnen. Das ist meine Richtung, so kann ich Rom dienen, das Reich vergrößern, Freunde und Bundesgenossen zählen allemal mehr als Feinde. Erschlägst du hundert von ihnen, wachsen tausend nach. Das gilt in der Außen- wie in der Innenpolitik. Ich diene Rom, nicht Augustus. Ich diene der Res Publica, nicht dem Principat. Und das solltest du auch tun!«
Der Republik. Ich sprang auf, der Wein und die Worte rauschten in meinen Ohren. »Tiberius! Das ist Verrat! Willst du wieder Bürgerkrieg?« Ich war nahe daran, mein Schwert zu ziehen.
Tiberius blieb ruhig sitzen. »Mäßige dich! Oder soll das ganze Lager mithören? Nein, Publius, ohne Legionen wird der politische Wechsel geschehen. Der Widerstand formiert sich in Augustus’ eigenem Haus.«
Nur ein Familienzwist, versuchte ich mich zu beruhigen. Und in der Erfüllung seiner Aufgaben war Tiberius hervorragend. Kein Verräter also. »Du lehnst dich gegen den Stiefvater auf. Hast du ihm nicht verziehen, dass er damals das Herz deiner Mutter gewann, die seinetwegen deinen Vater verließ? Das ist kindisch, Tiberius, und das weißt du.«
Er antwortete mit einem Blick, den ich noch jetzt spüre. Tief, auf mich und doch nach innen gerichtet, wie der Blick einer Götterstatue. »Du weißt nichts«, sagte er langsam, »nichts, nun, woher auch, Marcella merkte nichts davon.«
»Lass Marcella aus dem Spiel!« Vipsania Marcella, Großnichte des Princeps, meine Frau. Schwester der Gattin des Tiberius, und wo diese schön und klug und anschmiegsam war, erging sich Marcella in Missgunst und Spott, ein Biest. Sie empfand sich als hoch über mir stehend, die Heirat mit mir als Katastrophe. Mir gab sie die Schuld, nicht dem Princeps, der dies angeordnet. »Was sollte ich wissen?«, zwang ich meine Aufmerksamkeit zu Tiberius zurück.
Wieder dieser eindringliche Blick. »Der Princeps ist ein kalter, berechnender Verbrecher, an den Menschen wie am Staat. Du denkst, er gewann meine Mutter? Nein, er nahm sie, er lockte sie mit Versprechungen, er kaufte sie unserem Vater ab. Kein Mensch ist unglücklicher als sie. Er mag keine Frauen. Julia ist nicht seine Tochter, nicht umsonst verstieß er Scribonia sofort nach der Niederkunft. Meine Mutter nahm er, weil er den Namen brauchte, die Verbindung mit den Claudiern, geschlafen hat er mit ihr nie. Jungen liebt er, nicht einmal Männer. Er genießt die Macht über