39 Karate-Kata. Roland Habersetzer

39 Karate-Kata - Roland Habersetzer


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Bunkai«, die anfänglich sehr verführerisch sind, da sie offenkundig erscheinen und einfach darzulegen sind, und es gibt in den Kata verborgene Fallen. – Man darf niemals »den Finger für den Mond halten«3, wenn man zu einem tiefen Verständnis der Kunst der leeren Hand gelangen will.

      Roland Habersetzer

       9. Dan Karatedô

       Tengu no michi no sôke

       Saint-Nabor, Frühjahr 2010

      Es scheint, daß es wie überall auch in den Kampfkünsten Moden gibt. Wie ich bereits im ersten Band dieser Reihe4 herausgestrichen habe, sind die Zeiten gegenwärtig günstig für die Kata, jene Mutterformen und Wurzeln des Karate, die selbst für den leidenschaftlichsten Vertreter des sportlichen Wettkampfs unumgänglich sind. Seit einigen Jahren erregen die Kata wieder ein Interesse, das jene, die damals dabei waren, an die Pionierzeit des Karate in Europa erinnert. Nach dem spektakulären Aufschwung des Sportkarate kam diese offensichtliche Rückkehr zu den Quellen recht überraschend. Jene, die wie ich stets versucht haben, darauf aufmerksam zu machen, daß eine authentische Kampfkunst zusehends verarmte, seit man es zuließ, daß deren traditionellen Kata aufgegeben wurden oder daß daraus moderne »Choreographien« entwickelt wurden, hatten die Hoffnung darauf fast schon aufgegeben.

      Das wiedererstarkte Verlangen nach entsprechenden Informationen bei den Praktizierenden aller Stilrichtungen und jeden Niveaus hat dieses Buch trotz der Spezialisierung seines Inhalts möglich gemacht. Wie jeder weiß oder wissen sollte, gibt es bestimmte Regeln für die Herausgabe von Büchern, wie sie in jedem Geschäftsfeld existieren. Kein Buch, dessen Thematik allzu speziell ist, wird, wenn es überhaupt herausgegeben wird, auf dem Markt lange Bestand haben. Puristen mögen das bedauern, aber ändern können sie es nicht. Ich habe die Gunst der Stunde genutzt und die Gelegenheit wahrgenommen, die Reihe »Encyclopédie des Arts Martiaux« mit den »39 Karate-Kata – Aus Wadô-ryû, Gôjû-ryû und Shitô-ryû« zu bereichern. Diese Stilrichtungen bilden zusammen mit dem Shôtôkan-ryû die vier klassischen Hauptstile des Karatedô. Um den Umfang im Rahmen zu halten, mußte dennoch eine Auswahl getroffen werden, so daß Kata, die sich innerhalb der drei Stile, denen dieses Buches gewidmet ist, nur geringfügig unterscheiden, nicht für jeden Stil in allen Einzelheiten beschrieben werden.

      Dieses Buch ist dafür bestimmt, dem Leser zwei Wege zu eröffnen. Zum einen ist es ein Handbuch für jede der drei Stilrichtungen. Für diesen Zweck sind die darin enthaltenen Informationen klar kategorisiert. Zum anderen ist es aber auch ein Referenzwerk für jene, die sich für die Kunst der leeren Hand generell begeistern, unabhängig von den ursprünglichen Stilrichtungen und ihren angeblichen Unterschieden. Es soll ihnen ermöglichen, durch Vergleiche herauszufinden, daß die »Orthodoxie« einer Kata – ihre »Wahrheit« gewissermaßen – nicht das exklusive Privileg irgendeines Stils ist, und daß nur die Kenntnis verschiedener, dem gleichen Ziel zustrebender Wege, und ein offener Geist zu der Wahrheit führen. Auf diese Weise wird man auch begreifen, daß die künstliche Abschottung der Stilrichtungen in Wirklichkeit nur die Existenz gemeinsamer Kraftlinien verdeckt, die wiederzuentdecken wichtig ist. Denn die Kata, um welche auch immer es sich handeln möge, ist weder für den Anfänger noch für den Fortgeschrittenen lediglich eine Zusammenstellung mehr oder weniger komplizierter Bewegungen, sondern vor allem eine Körpersprache. Sie ist dazu bestimmt, daß man durch Bemühen und Bescheidenheit den Geist, den ihr Schöpfer ihr aufgeprägt hat, erspüren kann. Die Kata ist der Anfang und das Ende des »Weges«. Das ist der Grund, weshalb es gerechtfertigt und sogar notwendig ist, daß keine traditionelle Kata ausstirbt, und deshalb habe ich dieses Buch verfaßt, von dem ich hoffe, daß es in der umfangreichen Literatur über die Kampfkünste Bestand haben wird. Möge die wiedererwachte Neugierde auf die traditionelle Kata mehr sein als eine flüchtige Mode …

Einführung in das Studium der Kata

      Kata ist kein Begriff, der ausschließlich dem Karate eigen ist. Solche Formen gibt es in allen fernöstlichen Kampfkünsten. Sie sind eine Lernmethode, eine Methode, Techniken im Gedächtnis zu behalten und auch ein Weg, die »Muttertechniken« lebendig zu erhalten, die zu Anfang existierten und aus denen sich alle anderen Techniken, wie wir sie heute kennen, entwickelten. Dabei geht es nicht nur um die eigentlichen Kampftechniken, sondern auch um Haltungen, Ortsveränderungen, Empfindungen. Eine Kata ist etwas, das für den Karateka von außerhalb kommt, oftmals aus tiefer Vergangenheit. Während langer Jahre des Trainings läßt man sich von ihr durchdringen. Aus Respekt vor der Tradition, aus Bescheidenheit und auch aus Furcht, daß man am Wesentlichen vorbeigehen könnte, wird man sie dabei nicht verändern. Eine Kata stellt eine Folge von Bewegungen dar, die in ihrer Gesamtheit bis ins letzte Detail auf das sorgfältigste kodifiziert wurden. Immer wird sie auf die gleiche Weise und in die gleichen Richtungen ausgeführt. Auf diese Weise übt der Karateka von Anfang bis Ende je nach Schwierigkeitsgrad der Kata zwischen etwa 20 bis über 100 Techniken. Somit handelt es sich in gewisser Weise um ein Kihon5, das in mehrere Richtungen geübt wird, oftmals verbunden mit Wiederholungen auf beiden Seiten des Körpers und mit unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen der Bewegungen. An der Art der Ausführung einer Kata kann man das tatsächliche Niveau eines Karateka erkennen.

      Im Karate werden die Kata allein, ohne Partner, ausgeführt (Kaishu kata). Zumindest ist diese Art Kata die bei weitem am besten ausgearbeitete in dieser Disziplin. Dennoch gibt es auch die Kumite kata, bei denen man kodifizierte Formen mit dem Partner übt. Dies ist eine Art Yakusoku kumite6, ein Kampf, bei dem alles von vornherein vereinbart ist. Dazu zählen die Ten no kata des Shôtôkan, die Kihon kumite des Wadô-ryû und die Bunkai kumite aller Stilrichtungen. Diese Arten Kata entstanden erst in jüngerer Vergangenheit – keine davon existierte vor 1930. Sie entstanden aus der Notwendigkeit, das alte Karate an moderne Gegebenheiten wie den sportlichen Wettkampf anzupassen oder einfach aus dem Wunsch heraus, mit Partner zu trainieren. Doch auch in dieser Gestalt bewahrt die Kata eine Anziehungskraft und birgt Möglichkeiten in sich, die über die des bloßen Kampfes hinausgehen.

Ziele

      Die hypothetische Ausgangslage ist immer die, daß man von mehreren Gegnern angegriffen wird, die über unterschiedliche Stärke, Techniken und Geschicklichkeit verfügen, was keinerlei Irrtum bei der Einschätzung des Gegners erlaubt. Zuallererst ist die Kata die Darstellung eines Kampfes auf Leben und Tod. Demzufolge ist jeglicher Einsatz von Kraft und Energie, jeder Siegeswille dabei gerechtfertigt. Man muß im Kampf alles geben, andernfalls besteht die Gefahr, daß es der letzte ist. Die Kata ist demzufolge ein rückhaltloser Versuch, alle energetischen Ressourcen – physische und psychische – zu mobilisieren, die für gewöhnlich tief im Innern des Menschen schlummern. Sie ist ein Stimulus, der es dem Praktizierenden gestattet, zu »explodieren«, über das hinauszugehen, was er für möglich gehalten hätte, da er sich plötzlich im Eifer der Aktion selbst entdeckt und feststellen muß, daß er mehr ist, als er geglaubt hat. Es ist interessant festzustellen, daß die Kampfmuster, die durch die Kata dargestellt werden, trotz ihres Alters nicht überholt sind. Sie enthalten sämtliche effektiven Karatetechniken, und im Gegensatz zum modernen Sportkarate, bei dem man mit einem einzigen Gegner konfrontiert ist, versetzen sie den Kampf in eine ganz andere Dimension: Indem die Kata auf intelligente Weise die Bedingungen für einen totalen Kampf schafft, bringt sie den Karateka dazu, daß er in alle Richtungen abwehrt, ausweicht und blockt, über Angriffe hinwegspringt, mit realistischen Abfolgen von Fauststößen und Fußtritten kämpft, zupackt, wirft und den Rhythmus verändert. Es ist richtig, daß manche Sequenzen zunächst schwierig im realen Kampf anwendbar erscheinen, daß an anderen Stellen Blöcke ohne Gegenangriff erfolgen oder daß man mitunter sehr langsam blockt. Solche Dinge lassen beim Anfänger Zweifel entstehen. Doch all dies klärt sich im Laufe der Zeit auf. Je weiter man vorankommt, desto mehr weichen die Grenzen des Nichtverstehens zurück. Man entdeckt, daß manche Gegenangriffe nicht einmal angedeutet werden, damit man sie im Geiste um so besser »sehen« kann, und das selbst die sonderbarsten Abläufe einen ganz präzisen Sinn


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