Bubishi. Roland Habersetzer
dar, und sie ließen sich auf Okinawa in dem unweit der Stadt Naha gelegenen Kumemura („das Dorf Kume“ oder „das Dorf Kuninda“) nieder. Diese wichtige chinesische Abordnung setzte sich aus Diplomaten, Händlern und Experten aller Art zusammen, deren Auftrag darin bestand, die chinesische Kultur mit all ihren Facetten auf Okinawa einzuführen. Kumemura wurde somit zur Eingangspforte für die Sprache, die Kunst und die Sitten Chinas. In der Folge gelangten auf gleichem Wege auch militärische Kenntnisse aus dem Reich der Mitte nach Okinawa, darunter die Techniken des chinesischen Boxens (Quanfa). Im 19. Jahrhundert spielte Kumemura schließlich die Rolle einer Schaltstelle, von der aus diese Techniken sich weiterverbreiteten. Verschiedene Okinawaner erlangten hier Zugang zur chinesischen Quelle dieser Techniken oder konnten von hier aus gar ins Innere Chinas reisen.
Unter den ersten Kampfkunstlehrern, die von China nach Kumemura gekommen waren, gibt es einige Persönlichkeiten, deren Namen im Zusammenhang mit den Ursprüngen der modernen Karatestile immer wieder genannt werden, auch wenn zumeist über die genaueren Lebensumstände dieser Männer kaum etwas bekannt ist:
Ason unterrichtete seine Schüler Sakiyama, Nagahama, Gushi und Tomoyori aus Naha in den Techniken des Shaolin Kempô (Shaolin ryû, auch Shôrinji Kempô oder Shôrei ryû, auf chinesisch Zhao Ling Liu), aber diese erste Linie des Naha te endete mit Tomigusuku.
Ko Sho Kun (auch Ku Shan Ku, auf chinesisch Kwang Shang-Fu) kam im Jahre 1756 als Mitglied einer Delegation chinesischer Abgesandter nach Okinawa. Die Kata Kûshankû, aus der im Shôtôkan die Kata Kankû wurde, verdankt ihm seinen Namen. Über ihn ist lediglich bekannt, daß er fähig war, sich gegen einen Angreifer, der größer und schwerer war als er, zu verteidigen, indem er ihn mit Hilfe einer Technik, die heute als „Beinschere“ bekannt ist, zu Boden warf. Man findet diese Technik gleichermaßen im Jûjutsu wie auch im später entstandenen Jûdô.
Ryû Ruko (Ru Ruku, Do Ryûko oder Ryû Ryûko, auf chinesisch Liu Lugong oder Liu Lu Kung oder Liu Lianguo genannt) soll von 1852 bis 1930 gelebt haben. Im Jahre 1874 nahm er Higaonna Kanryô als Schüler an, der aus Okinawa nach China gereist war, um sich in der Technik des Tôde zu vervollkommnen (er hatte diese Kampfkunst zuvor bei Aragaki Seisho, der von 1840 bis 1920 lebte, gelernt). Ryû Ruko wurde auf diese Weise zum Begründer eines Karate-Stils, den Miyagi Chojûn, der Nachfolger von Higaonna Sensei, Gôjû ryû taufte. Welche Techniken lehrte dieser Mann? Tokashi Iken, Leiter des „Okinawanischen Gôjû Tomari te Karatedô Kyokai“, schrieb in seinem 1993 erschienenen Werk „Gohaku“, Frucht ausführlicher Forschungen über den aus der Provinz Fujian stammenden Quanfa-Stil, daß Ryû Ruko (den er Xie Ruru nannte) am Anfang „eines der Stile“ des Weißen Kranichs stand. Ryû Ruko besuchte Okinawa im Jahre 1914. Es besteht die Möglichkeit, daß er das Bubishi mitbrachte. Ebenso möglich ist es jedoch, daß er seinem Schüler Higaonna (1853 - 1916), der mehr als zehn Jahre bei ihm in China verbrachte, eine Kopie des Buches anvertraute.25
Wai Xinxian (Waishinzan oder Woo Lu-chin) ist eine geheimnisumwitterte Persönlichkeit. Es ist nicht einmal bekannt, ob Waishinzan und Woo Lu-chin tatsächlich ein und dieselbe Person gewesen sind. War er ein älterer Schüler Ryû Rukos oder gar Ryû Ruko selbst? Die Quellen widersprechen einander. Sicher ist allein, daß die Namen Ryû Ruko und Waishinzan am Anfang jenes Stils stehen, den Higaonna nach Okinawa brachte.
Wu Xianhui (auf japanisch Go Ken Ki) lebte von 1886 bis 1940. Dieser chinesische Shifu kam 1912 aus Fuzhou nach Okinawa, um dort als Teehändler zu leben. Er lehrte in Naha den Weißen Kranich, und unter seinen Schülern befanden sich einige der zukünftigen Meister der okinawanischen Linie des Karate. Zu ihnen zählten Miyagi Chojûn, dem er gemeinsam mit anderen Shifu chinesisches Boxen beibrachte, Mabuni Kenwa, Matayoshi Shinpô (1921 - 1997) und Kiyôda Juhatsu (1887 - 1968). Letzteren lehrte er die Kata Nepai, die aus dem von Fang Jin Jang entwickelten Weißer-Kranich-Stil abgeleitet worden war. Kiyôda Juhatsu gründete einen eigenen Stil, das Toon ryû. Go Ken Ki immigrierte schließlich nach Japan, wo er den Namen Yoshikawa annahm. Seine okinawanischen Schüler nannten ihn jedoch Busama-gunku, was Samurai bedeutet.
Foto 9: Zahlreiche Kampfkunstexperten aus Okinawa reisten nach China, um dort ihr Wissen über den Kampf mit bloßer Hand zu vervollkommnen. Für gewöhnlich gelangten sie zuerst in die Okinawa gegenüberliegende Provinz Fujian (Fukien). Einer der Reisenden, Matayoshi Shinkô (1888 - 1947), brachte von seiner ersten Fahrt nach Fuzhou nicht nur eine Kopie des Bubishi, sondern ebenfalls diese Grafik mit, die eine Kriegergottheit aus dem alten Zheng Li (der Name von Fujian im Altertum) darstellt. Es ist vorstellbar, daß es sich hierbei um eine andere „Version“ der Darstellung einer Wächter- und Schutzgottheit aus der Provinz Zheng Li (Jiu Tian Feng Huo Yuan San Tian Dou) handelt, die später von Fang Jin Jang, der Schöpferin des Kampfstils des Weißen Kranichs (Hequan) zur Schutzgottheit ihrer Schule erwählt wurde. Diese Göttergestalt erscheint ebenfalls in dem Bubishi-Exemplar, das sich im Besitz Mabuni Kenwas, des Gründers des Shitô ryû, befand. Ebenfalls auffällig auf dem Bild von Matayoshi Sensei ist die Anwesenheit eines Drachen – zweifelsohne eine Anspielung auf den „Neun-Drachen-Tempel“. Dessen Existenz konnte zwar nie bewiesen werden, doch die Legende behauptet, er sei der Shaolin-Tempel des Südens gewesen, der im Chiu-Lung-Gebirge gestanden haben soll, unweit der Stadt Fuzhou in der Fukien-Provinz. Manche Quellen besagen, daß es die dortigen Lehren gewesen seien, die im Bubishi verschlüsselt wiedergegeben wurden. (Quelle: Ogura Tsuneyoshi)
Im Jahre 1915 ebenfalls als Teehändler nach Naha gekommen war Tang Daji (To Daiki), der von 1887 - 1937 lebte. Er wurde für seinen Unterricht im „Tiger-Boxen“ berühmt. Er war mit Miyagi Chojûn befreundet, und sein Stil übte einen beträchtlichen Einfluß auf die unterschiedlichen Richtungen des Karate aus, die sich in jener Zeit, der Taishô-Epoche (1912 - 1925), voll zu entfalten begannen.
Von anderen chinesischen Lehrmeistern des 19. und 20. Jahrhunderts sind uns, obwohl sie deutliche Spuren hinterlassen haben, die Namen nicht bekannt. Über weitere, wie beispielsweise Iwa, Wong-Chung-Yoh oder Shion-Ka, sind die überlieferten Angaben zu ungenau, als daß etwas Sinnvolles über sie gesagt werden könnte. Von Shion-Ka weiß man immerhin, daß er zahlreiche Schüler in dem Ort Tomari auf Okinawa unterrichtete, unter anderem Gusukuma (Shiroma), Matsumora Kôsaku, Kaneshiro, Yamasato und Nakasato.
Es wurden auch Sonderabgesandte durch den chinesischen Kaiserhof nach Okinawa geschickt – man nannte sie Sapposhi oder Sappushi und auch Sakuhoshi –, die gegebenenfalls im Rahmen ihres Auftrags den Inselbewohnern Demonstrationen ihrer Fertigkeit im chinesischen Boxen boten oder ihnen Unterricht darin erteilten.
So viele Möglichkeiten, wie das Bubishi nach Okinawa gelangt sein könnte! Und damit sind noch längst nicht alle erschöpft. Zahlreiche Okinawaner reisten vor allem im 19. Jahrhundert nach China. Es gab gewiß manche Gelegenheit, auf diesen Reisen mehr oder weniger zufällig auf dieses Dokument zu stoßen, in dem die Stile, die sich aus dem Shaolin-Boxen entwickelt hatten, beschrieben wurden, und es mit sich nach Hause zu nehmen.
Pilgerfahrten zur chinesischen Quelle
Einige Okinawaner wurden ermutigt, sich nach China zu begeben, um ihre Ausbildung zu vervollkommnen und ihre Kenntnis der chinesischen Kultur zu vertiefen, mit der sie bereits in Kumemura in Berührung gekommen waren. Man nannte sie Uchinanku Ryûgakusei, „ausländische Studenten aus Okinawa“, und man konnte sie in allen großen chinesischen Städten bis hin nach Peking finden, und natürlich auch in Fuzhou und in der gesamten Provinz Fujian. Andere Okinawaner gingen auf eigene Faust nach China, das Ziel vor Augen, den unmittelbaren Kontakt mit den chinesischen Kampfkünsten zu suchen. Manche von ihnen waren noch Neulinge auf diesem Gebiet, viele aber besaßen bereits ein bedeutendes, doch mehr oder weniger zusammengestückeltes Wissen über Techniken, die in ihren Herkunftsorten verbreitet waren. Sie alle kehrten – oftmals erst nach Jahren – um vieles reicher an Kenntnissen wieder in ihre Heimat zurück. Sie brachten ausgeklügeltere, vollständigere, verbesserte Systeme der Kampftechniken mit. Einige begannen nun ihrerseits, das erworbene Wissen an Schüler weiterzugeben. So entstand das Fundament, auf