Operation Gold. Petra Gabriel
wenig romantisch fanden. Aber dieser Gladow ist kein von den Räuberpistolen über Al Capone fehlgeleitetes Jüngelchen, sondern ein kaltblütiger Mörder und Räuber. 127 schwere und schwerste Straftaten, brutal ausgeführt, waren in der Anklage aufgelistet. Einem der Opfer wurden zum Beispiel die Füße angesengt, damit es sein Geldversteck preisgab. Das hat mit Romantik nichts zu tun. Insgesamt 60 Beteiligte gab es, die mit der Bande zusammengearbeitet haben. 26 wurden wegen geringerer Delikte vorerst freigelassen. Es blieben 34, darunter 7 Frauen. Das hier ist eines der vielen Anschlussverfahren, die derzeit noch laufen. Und meiner Meinung nach hat die Kleine, die sie hier vor Gericht gezerrt haben, nichts mit alldem zu tun gehabt. Jedenfalls deuten meine Ermittlungen darauf hin. Sie wissen, dass Gladow im Ostsektor lebte?»
Marie war verwirrt. «Warum betonen Sie das so?»
John Weißbrod antwortete an Kappes Stelle: «Vor der Teilung der Stadt, das war eine andere Zeit. Während der Verbrechen der Gladow-Bande und in den sieben Monaten, in denen die Staatsanwaltschaft unter Generalstaatsanwalt Berg die Anklageschrift zusammengestellt hat, sind immerhin zwei Staatsgründungen vollzogen worden. Einmal mit der Verkündigung des Grundgesetzes fast genau vor einem Jahr die der Bundesrepublik mit West-Berlin. Und dann die der DDR am 7. Oktober ’49, als unter Führung von Wilhelm Pieck in Ost-Berlin der Volksrat zusammentrat. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die Justizbehörden. Jeder will den anderen mit noch besseren Ergebnissen und einer noch höheren Zahl an verurteilten Verbrechern übertrumpfen. Da kann es schon sein, dass einer in der Bewertung von Zeugen und Indizien übers Ziel hinausschießt. Auch Juristen sind nur Menschen.»
Kappe holte Luft, wollte offenbar etwas sagen, entschied sich dann aber anders.
«Natürlich weiß ich, dass Gladow aus dem Osten ist», erwiderte Marie. «Ich komme ja nicht vom Mond.» Der Mann schien ein Besserwisser zu sein, einer, der andere gerne belehrte. Besonders Frauen. Das ging ihr gegen den Strich. Sie lächelte bemüht verbindlich.
«Damals, als es um die Gladow-Bande ging, haben wir mit den Kollegen Ost noch gut zusammengearbeitet. Da konnte uns niemand so schnell gegeneinander ausspielen», schob Kappe jetzt doch noch düster nach. «Das gilt auch für angebliche Zeugen.» Er kniff erneut die Lippen zusammen. Offenbar war er der Meinung, er habe schon zu viel gesagt.
Marie schluckte. Die Träume der Menschen von einem friedlichen Miteinander nach dem Krieg waren ziemlich schnell zerstoben. Es gab schon wieder die Unterteilung der Welt in Freund und Feind, in «wir» und «die». Und schon wieder gab es eine Front. Sie zog sich mitten durch Berlin. Marie zwang ihre Gedanken zurück in die Gegenwart. «Und wie lauteten die bisherigen Urteile im Gladow-Prozess?»
«Drei Todesurteile», meldete sich jetzt der junge Jurist zu Wort. Wie hieß er noch mal? Irgendwas mit Pfingsten. Ach nein, Ostern. Dr. jur. Peter Ostertag. «Für Werner Gladow sowie seine Komplizen Gaebler und Rogasch. Und die werden auch vollstreckt, das garantiere ich Ihnen. Für die anderen gab es Zuchthausstrafen zwischen fünf Jahren und lebenslänglich.»
Marie war erschüttert. «Ist in der Bundesrepublik die Todesstrafe nicht abgeschafft?»
Kappe betrachtete sie nachdenklich. «Eher … ausgesetzt, würde ich sagen. Es gibt immer wieder Bestrebungen einflussreicher Leute, die Todesstrafe erneut aufleben zu lassen. Allerdings wird sie seit mehr als einem Jahr nicht mehr vollstreckt.»
«Und in der Zone ist das anders? Haben Sie deshalb so betont, dass Gladow aus Ost-Berlin stammt?»
«Ja, im Osten ist das anders, da gibt es immer wieder Hinrichtungen», bestätigte Kappe.
Sie atmete tief durch und lächelte zaghaft. «Gut, dass Sigrid Dehne vor einem Westgericht steht. Also ist es wohl besser, Verbrechen im Westen zu begehen, was? Tut mir leid, das war eine dumme Bemerkung. Was hat die junge Frau denn nun genau getan?» Sie zückte Block und Bleistift.
«Sie soll an einem Überfall auf einen Kaufmann beteiligt gewesen sein», antwortete Ostertag. «Und der Herr Kriminaloberkommissar ist heute einmal Zeuge der Verteidigung.» Er warf Kappe einen kurzen Seitenblick zu.
Dieser nickte. «Ja, ich habe damals bei dem Überfall auf den Neuköllner Kaufmann den Passanten vernommen, der das Verbrechen gemeldet hat, einen gewissen Schlüter. Der hat aber nur männliche Täter beobachtet. Er hat mehrfach beteuert, dass keine Frau an dem Überfall beteiligt gewesen sei. Allerdings glaubt die Staatsanwaltschaft aufgrund der eidesstattlichen Versicherung eines wie aus dem Nichts aufgetauchten anderen Zeugen, dass sie doch dabei war.»
«Wann sagt dieser Zeuge aus?»
«Das tut er nicht, zumindest nicht öffentlich», antwortete Kappe. «Er kommt überhaupt nicht hierher. Es wird nur die eidesstattliche Erklärung von ihm verlesen.»
«Und wieso nicht? Ist er einer dieser ehrenwerten Herren, die nicht kompromittiert werden dürfen?»
Kappe warf dem Verteidiger einen hilfeheischenden Blick zu. «Es handelt sich wohl um eine Art V-Mann. Aber mehr weiß ich nicht.»
Marie erkannte, wie unangenehm ihm die Angelegenheit war. Dieser Mann schien sympathisch zu sein. Sachlich und sympathisch. «Einen Namen wird es doch wohl geben, wenn schon kein Gesicht dazu.»
«Krug, Dieter Krug. Der Name steht jedenfalls auf der Tagesordnung, die neben der Tür zum Gerichtssaal aushängt», meldete sich der Verteidiger zu Wort. «Das ist aber sicher ein Deckname. Der Herr Kriminaloberkommissar hat recht, es wird nur seine eidesstattliche Aussage verlesen. Krug behauptet darin, er kenne Sigrid Dehne und habe sie mit Gladow und seinen Leuten ins Haus des Kaufmanns gehen sehen. Das heißt, er müsste vor Ort gewesen sein. Der Zeuge, den Kriminaloberkommissar Kappe vernommen hat, hätte ihn also ebenfalls sehen müssen. Hat er aber nicht. Außerdem fragen wir uns, warum dieser Krug nicht schon für den Hauptprozess gehört worden ist, da er doch alles so genau beobachtet haben will.»
Krug, tatsächlich Dieter Krug. Maries Gedanken überschlugen sich. Also stimmten ihre Informationen, dass der Stiefvater in Berlin war? Sie war allen Hinweisen nachgegangen, die ihre Mutter ihr hatte geben können, war mit dem Foto von ihm, dem einzigen, das sie hatten, von Pontius zu Pilatus gelaufen. Niemand wusste etwas über den Mann zu sagen. Vielleicht auch, weil er auf dem Foto unter einem Baum stand und sein Gesicht im Schatten lag. Marie hatte manchmal das Gefühl gehabt, sie fahnde nach einem Geist. Sie hatte dennoch beim Roten Kreuz eine Suchanfrage aufgegeben. Manchmal geschahen ja Wunder. Doch nichts passierte. Immer wieder hatte sie der Mutter erklären müssen, dass sie ihren Stiefvater noch immer nicht gefunden hatte.
Nach Monaten des vergeblichen Suchens war sie schließlich an einen ehemaligen Kriegskameraden ihres Stiefvaters geraten, einen, der ihm unlängst bei einem Ehemaligentreffen in Berlin wiederbegegnet war. Der mochte den zweiten Mann ihrer Mutter nicht, wollte aber nicht damit herausrücken, weshalb. Nein, hatte er gesagt, die Berliner Adresse kenne er nicht, wolle sie auch nicht kennen. Er könne ihr nur noch einen Tipp geben: Demnächst stehe vor einem Berliner Gericht – vor welchem genau, wisse er nicht – ein Prozess gegen eine Prostituierte an, in den ihr Stiefvater irgendwie verwickelt sei. Der habe bei dem Treffen davon erzählt. Aber nur ganz am Rande. Mehr könne er wirklich nicht sagen. Und wenn er ihr einen guten Rat geben dürfe: Sie solle froh sein, mit diesem Mann nichts mehr zu tun zu haben, und ihn lieber aus ihrem Leben streichen.
Doch das ging nicht. Nicht mit einer Mutter, die sich vor Sehnsucht verzehrte, vor Gram halb verrückt geworden war, Wahnvorstellungen bekommen hatte und nun in einer Heilanstalt dahinvegetierte, mit irgendwelchen Mitteln ruhiggestellt, weil sie mehrmals versucht hatte sich umzubringen. Denn mit diesem Dieter Krug war all ihre Hoffnung, dieses nach dem Tod des ersten Mannes und den Bombenangriffen so mühsam aufrechterhaltene Fünkchen, verschwunden.
Marie hatte ihr Germanistikstudium kurzerhand abgebrochen, ihre Koffer gepackt, ihre kleine Wohnung hinter sich abgeschlossen, war letzten Monat aufs Geratewohl nach Berlin gereist und hatte sich bei verschiedenen Zeitungen beworben. Denn bei einer Zeitung, so ihre Hoffnung, hätte sie gute Möglichkeiten, den Spuren dieses Mannes zu folgen. Da gab es ein Archiv, da gab es Leute, die Gerichtsberichte schrieben, vielleicht sogar über jenen Prozess, von dem der Kriegskamerad ihres Stiefvaters gesprochen hatte. Der Tagesspiegel hatte sie genommen. Deshalb war sie hier. Als sie dann