Streifzüge durch meine Heimat. Horst Bosetzky
leicht zu finden, in den Graben. Erst kam die Straßenbrücke, dann das Forsthaus Fahlenberg. Ein paar Hundert Meter weiter begann das Sumpf- und Wiesengebiet, das man auch als ein Delta der Spree bezeichnen kann oder als einen Spreewald en miniature. Rechts mündete ein schmaler Wasserlauf, kaum breiter, als ein Paddel lang ist, in den Gosener Graben. In den bin ich etwa 1956 mit meinem Vater an Bord eingebogen, aus reiner Neugier. Wir paddelten immer parallel zur Gosener Landstraße entlang und mussten uns im Boot lang ausstrecken, um unter einem niedrigen Holzsteg hindurchzukommen. Plötzlich ein Aufschrei. Oben auf der Straße stand ein schwarz-rot-goldenes Schilderhäuschen der DDR-Grenzpolizei, denn hier verlief die Grenze zwischen Ost-Berlin und der DDR – und in diese einzureisen, hätte uns als West-Berlinern eine saftige Strafe eingebracht. Was nun? Zu wenden war in dem engen Rinnsal unmöglich. Also paddelten wir im Rückwärtsgang wieder zum Gosener Graben.
Vom Gosener Graben zweigte auch der sogenannte Große Strom ab, und auf dem erreichte man in der Nähe von Schönschornstein die richtige Spree. Nebenbei: Aus Schönschornstein bei Erkner kommt auch Paul Quappe, der in den Romanen der Reihe Es geschah in Preußen als komischer Hausdiener eine dankbare Nebenrolle spielt.
Auf den nächsten Kilometern gab es dann seltene Tiere, Pflanzen und Bauern zu bestaunen. Letztere beim Heumachen. An einigen kleinen »Ablagen« – so wurden früher sandige Stücke am Ufer genannt – konnte man gut anlegen und Pause machen, jedenfalls so lange, bis eine offenbar nicht ganz ausgelastete untere Behörde der DDR beschlossen hatte, den Gosener Graben mittels einer Spundwand aus eingeschlagenen Pflöcken von seiner Urwüchsigkeit zu befreien. Das hinderte uns aber nicht daran, aus dem Boot zu steigen, um unser Margon-Tafelwasser aus dem Schmöckwitzer Konsum zu trinken. Belegte Brote hatten wir uns immer aus Schmöckwitz mitgebracht. Bei einer Fahrt mit dem Frohnauer Freund Dr. Jürgen Zingler aus West-Berlin hatte ich stattdessen einen Müsliriegel dabei. Als ich in den biss, schrie ich derart auf, dass mein Begleiter, der Internist war, befürchtete, ich hätte einen Herzinfarkt erlitten. Doch ich hatte nur eine teure Brücke aus ihrer Verankerung gelöst und sie um ein Haar verschluckt. »Das wäre ein schöner Bolustod für dich gewesen und hätte dir als Kriminalautor hohe PR-Werte gebracht«, sagte er gelassen. »Allerdings hätte ich dich mit dem Heimlich-Handgriff noch gerade gerettet.«
Bisweilen schlugen wir bei der Fahrt durch den Gosener Graben wild um uns. Die Bremsen hatten uns entdeckt und wollten ihre stilettartigen Saugrüssel in unsere Rücken versenken. Schafften sie es und delektierten sich an unserem Blut, dann hatte man es stundenlang mit irre juckenden »Flatschen« auf der Haut zu tun. Gosen war nichts für Mimosen.
Vom Gosener Graben kam man auf den Dämeritzsee. Durch ihn verlief die Grenze zwischen Ost-Berlin und der DDR, und auf einem Prahm saßen die Grenzposten, um die Papiere zu kontrollieren. Wir West-Berliner mussten nach links abbiegen, wo sich in Hessenwinkel an einem Arm der Müggelspree gut rasten ließ. Zurück nahmen wir dann, ausgebremst im Graben, lieber den Weg über den insektenfreien Kanal.
Oranienburg
Oranienburg ist für mich fast ein Jahrzehnt lang ein Ort der Sehnsucht gewesen, denn als ich 1982 nach Frohnau gezogen war, lag es zwar recht nahe, aber schier unerreichbar hinter Stacheldraht und Grenzsperren. Die S-Bahn fuhr nur bis Frohnau, und nördlich des Bahnhofs war der stillgelegte Bahndamm ein beliebter Spazierweg mit freiem Blick in die grünen Weiten der DDR. Meine Ost-Berliner Verwandten belehrten mich, dass der Ort O-Burg hieße, wie man auch KW für Königs Wusterhausen sage. Ich nenne Oranienburg manchmal Bötzow und werde dann angesehen, als hätte nun auch mich die Altersdemenz gepackt.
Der Ort, eine slawische Siedlung, wurde im Jahr 1216 als Bothzowe erstmals urkundlich erwähnt. Nachdem die Christen das Gebiet erobert hatten, bauten sie in Bötzow, so der »eingedeutschte« Name, eine Burg, die der brandenburgische Kurfürst Joachim II. später zu einem Jagdschloss umbauen ließ. Fünf Generationen später, im Jahre 1650, schenkte der berühmte Große Kurfürst die Domäne Bötzow seiner Gattin Louise Henriette, die dem Hause Oranien entstammte, und ließ an alter Stelle ein neues Schloss in holländischem Barock errichten: Oranienburg.
Nachdem während des 19. Jahrhunderts die Chemische Produkten-Fabrik das Gebäude genutzt hatte und später ein Lehrerseminar hier eingezogen war, musste das Schloss ab 1933 als SS-Kaserne herhalten. Die militärische Nutzung dauerte nach dem Ende der NS-Diktatur an: Nun machten sich die Rote Armee sowie in der DDR-Zeit die Kasernierte Volkspolizei und die Grenztruppen im Schloss breit. Heute ist der älteste Barockbau in Brandenburg Museum und Kulturstätte. In den 1990er-Jahren durfte ich hier einmal zu einer Lesung verweilen.
O-Burg liegt an einem See – aber nicht, wie man denken sollte, am Oranienburger See, sondern am Lehnitzsee. Der hat die Form eines Magens, erstreckt sich über 2,3 Kilometer in Nord-Süd-Richtung und ist mal 250, mal 400 Meter breit.
Am südlichen Ende des Sees fließt die Havel weiter Richtung Elbe, und S- und Regionalbahn überqueren den Fluss auf einer mächtigen Brücke. Unter der kann man auf einem schmalen Weg an der hier kanalartigen Havel entlanggehen. Ein schützendes Gitter gibt es nicht, und unter der Kaimauer scheint in der Dunkelheit der Hades zu lauern. Dorthin wurde ich einmal vom RBB beordert, damit mich Uwe Madel für seine Fernsehsendung Täter – Opfer – Polizei interviewen konnte. Mich packt heute noch die Angst, wenn ich daran zurückdenke.
Steigt man in Lehnitz aus der S-Bahn, kann man von seinem südlichen Zipfel aus fast ganz um den See herumwandern. An seinem nördlichen Ende mündet er in die Havel-Oder-Wasserstraße, und mit Blick auf die Lehnitzschleuse kann man den Kanal auf einer Brücke überqueren. Die L273 wird hier zur O-Burger Magistrale, der Bernauer Straße, zur DDR-Zeit Straße des Friedens. Auf ihr erreicht man nach wenigen Hundert Metern die Gedenkstätte und das Museum Sachsenhausen. Oranienburg kann sich glücklich schätzen, dass sein Name meist zuerst mit dem Schloss assoziiert wird – und erst dann mit dem Konzentrationslager. Unzählige Menschen sind hier gequält worden, wie etwa Jurek Becker, oder ermordet, wie der Hitler-Attentäter Georg Elser. Gott, was wäre der Welt an Schrecken und Elend erspart worden, hätte er am 8. November 1939 im Münchener Bürgerbräukeller sein Werk vollenden können!
Am Ufer des Lehnitzsees kann man im »Eiscafé Dietrich« einkehren und versuchen, die dunkelste Epoche deutscher Geschichte zu verdrängen. So ganz wird das aber nie gelingen, zumal in und um O-Burg regelmäßig nicht explodierte Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden werden, die aufwendig entschärft werden müssen. Weil hier viele Chemie- und Rüstungsbetriebe ansässig waren, war die Stadt ein vorrangiges Ziel der Luftangriffe der Alliierten. Es soll Berliner geben, die sich wegen der ständig gefundenen Blindgänger weigern, nach O-Burg zu fahren.
Wagt man den Ausflug dennoch und steigt an der Enthaltestelle Oranienburg aus der Berliner S-Bahn, sticht einem sofort der riesige Komplex des Gymnasiums F. F. Runge ins Auge. Gleich nach der Wiedervereinigung sind hier auch etliche sitzengebliebene Schüler aus den Nordberliner Ortsteilen Frohnau und Hermsdorf untergekommen. Weil es damals in Brandenburg nur 12 Schuljahre gab, in West- Berlin aber noch 13, konnten sie dann im selben Jahr ihr Abitur machen wie ihre ehemaligen Klassenkameraden.
Rechts vom Gymnasium beginnt die Willy-Brandt-Straße. Gehen wir die hinunter, können wir unter Umgehung der Hauptstraße über den Louise-Henriette-Steg den Schlossplatz erreichen. Ganz hier in der Nähe muss der Ort gelegen haben, an dem mein Ost-Berliner Freund und Kollege Jan Eik und ich gleich nach der friedlichen Revolution gemeinsam lesen sollten. Die Gastgeberin machte es sich leicht und bat uns, als wir vorn am Lesetisch nebeneinander Platz genommen hatten, uns doch bitte selbst vorzustellen. Auf mich zeigte sie zuerst. Und so sagte ich: »Mein Name ist Jan Eik, eigentlich Helmut Eikermann, geboren am 16. August 1940 in Berlin, und ick jloobe, det hört man ooch. Eigentlich bin ich Diplomingenieur für Informationstechnik, seit 1987 aber freiberuflicher Autor. Ich hoffe, Sie kennen meine beiden Kriminalromane hier.« Die lagen vor uns auf dem Tisch, und ich brauchte sie nur hochzuheben. »Das lange Wochenende, Verlag Neues Leben, Berlin 1975, und Poesie ist kein Beweis, 1986, erschienen in der DIE-Reihe.«
Danach stellte sich Jan Eik als Horst Bosetzky vor. Zu unserem Entsetzen durchschaute lange Zeit keiner, was da gespielt wurde.
Fällt das Wort Oranienburg,