Was den Raben gehört. Beate Vera

Was den Raben gehört - Beate Vera


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      Als halbe Schottin feierte Lea das Weihnachtsfest auf eine sehr andere, weitenteils angelsächsische Art. Und sie war sich ganz und gar nicht sicher, ob sie gewillt war, von ihrer Tradition abzurücken.

      »Duncan kommt mit Nina, seiner Freundin. Aber wir suchen noch nach einer angemessenen Form des Feierns, die uns unter den neuen Umständen allen zusagt. Du weißt ja, dass ich Weihnachten immer etwas anders als hier üblich verbringe.«

      Ich, nicht wir. Es war das zweite Weihnachten ohne Mark. Wie die Zeit verging! Unter den neuen Umständen – gemeint hatte sie damit: mit ihrem neuen Mann. Da hatte sie aber fix Ersatz gefunden – Lea wusste, was einige Nachbarinnen so tuschelten. Auch wenn ihr und ihrem Sohn Duncan in der Regel schnuppe war, was über sie getratscht wurde, in diesem Punkt war Lea empfindlich, es traf sie sehr. Alles ging einfach zu schnell, es war zu früh, und – bloody hell! – sie verabscheute Mietweihnachtsmänner und alles, wofür sie standen! Je länger sie darüber nachdachte, desto größer wurde ihr Problem.

      Carola lächelte sie an, ihr blieb Leas innerer kafkaesker Prozess verborgen. »Und ich fand immer, das klingt so entspannt und gemütlich. Ich darf gar nicht an das ganze Weihnachtstheater denken, das mir dieses Jahr wieder blüht. Arnes Mutter verbringt die gesamten Feiertage bei uns, und ich kann ihr nichts recht machen. Die Kinder sind davon auch nicht begeistert, weil sie noch näher zusammenrücken müssen, damit ihre Oma ein eigenes Zimmer hat. Ich ärgere mich jedes Jahr aufs Neue über diesen Ablauf. Na ja«, seufzte sie, »eines Tages fasse ich mir ein Herz und ändere alles. Ihr findet bestimmt eine Lösung. Ich muss weiter, Arne bringt heute die erweiterte Schulleitung mit zum Abendessen. Es ist ihre Weihnachtsfeier, und ich hab noch viel zu tun.«

      In Gedanken versunken, schob Lea ihr Fahrrad zurück nach Hause. Gerne hätte sie Carolas Zuversicht geteilt. Was Weihnachten anging, hatte sie so grundsätzlich andere Wünsche als Martin. Noch mehr als ein schottisches Weihnachtsfest wünschte sie sich aber in diesem Moment ein Bett. Trotzdem wählte sie nicht den kürzeren Heimweg durch ihren Garten, sondern ging durch die Straßen des kleinen Eifelviertels zurück. Schon von Weitem sah sie die Polizeifahrzeuge am Ende des Dürener Wegs. Neben einem Streifenwagen parkte ein großer dunkler Volvo, und in der Einfahrt zu ihrer Zeile standen ein VW LT Kleinbus sowie ein weiteres Fahrzeug, das vermutlich auch der Kriminalpolizei gehörte. Die Autos ihrer Nachbarn kannte sie, diese nicht.

      Prompt hielt sie ein Streifenbeamter am Anfang ihrer Straße auf. »Hier ist im Moment kein Zutritt.«

      »Ich wohne hier. Lea Storm, Hausnummer 60.«

      »Können Sie sich ausweisen?«

      Bevor Lea ihren Ausweis zücken konnte, rief eine ihr bekannte Stimme: »Frau Storm! Ich habe gerade bei Ihnen geklingelt.«

      Kriminalkommissar Harald Fellner, der Assistent von Glanders unsympathischem Exkollegen Rolf Prinz, kam Lea entgegen und wandte sich an den Schutzpolizisten. »Ist schon gut, Uwe, ich kenne die Dame. Sie wohnt hier. Kommen Sie, Frau Storm! Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen, wenn Sie nichts dagegen haben.«

      Lea stöhnte innerlich. Eigentlich wollte sie nur unter ihre warme Bettdecke. Aber was hatte sie erwartet? Sie rang sich ein Lächeln ab, gab Talisker ein Zeichen und bat den Kommissar in ihr Haus.

      *

      Im Norden der Republik war das Wetter nicht besser, es war nass, kalt und für viele sicherlich trostlos. Martin Glander zog den Reißverschluss seiner Softshelljacke bis ans Kinn. Als Kind der Küste kannte er kein schlechtes Wetter, sondern nur schlechte Kleidung. Er verriegelte die Tür seiner Fischerkate in Dänisch-Nienhof und verließ das Grundstück durch den länglichen Vorgarten. Bevor er in sein Auto stieg, blickte er noch einmal auf das kleine Häuschen, das er vor rund zehn Jahren von seinen Großeltern geerbt hatte.

      Seine Eltern waren von der Kieler Förde nach Berlin-Wannsee gezogen, als er sechs Jahre alt gewesen war. Da Mutter und Vater viel gearbeitet hatten, hatten Glander und seine drei Jahre jüngere Schwester Melanie nahezu alle Ferien bei den Großeltern an der Ostseeküste verbracht. Die Bilder seiner Kindheit waren geprägt von diesen Wochen am Meer: Fischen mit Opa Jan mit anschließendem Flicken des kleinen Netzes, der frischgebackene Apfelkuchen seiner Oma Ellie mit dicker warmer Vanillesoße, Bücher, die ihm die Großeltern zuerst vorgelesen hatten und die er dann selbst in der Hängematte im Garten der Kate wieder und wieder gelesen hatte – Defoe, May, Lindgren und Kästner. Dörte kam ihm in den Sinn, das Mädchen, von dem er seinen ersten Kuss bekommen hatte. Was wohl aus ihr geworden war? Glander hatte eine halbe Ewigkeit nicht mehr an seine Sandkastenliebe gedacht.

      Sein Leben hatte einen packenden Verlauf genommen. Nach dem vergeigten ersten Anlauf für sein Abitur hatte er die Chance bekommen, es in Eckernförde mit dem Eintritt in die Marine zu wiederholen. Darauf war die Ausbildung zum Waffentaucher gefolgt. Glander erinnerte sich gerne an diese Zeit zurück. Damals, mit zwanzig Jahren, war er sich unverwundbar vorgekommen. Er liebte das Wasser und war einer der besten Schwimmer seiner Einheit gewesen. Dennoch hatte er sehr schnell feststellen müssen, dass er sich nicht für den Dienst zur See fürs Vaterland eignete. Sein Ausbilder verfügte über gute Kontakte zur Berliner Kriminalpolizei und sorgte dafür, dass man Glander eine Chance als Kommissarsanwärter gab. Glander stieg zum Kriminalhauptkommissar auf und erreichte eine überdurchschnittlich hohe Aufklärungsrate, bevor sich wieder die alte Unruhe in ihm ausbreitete. Er war nicht geschaffen für enge Strukturen, unabhängig davon, ob sie militärischer oder bürokratischer Natur waren. Dennoch hatte er seinen Beruf nicht aufgegeben. Er hatte keine Alternative gesehen, denn er liebte das Ermitteln, die Suche nach Spuren und ihre Auswertung, das Denken out of the box, wie man jetzt neudeutsch zu sagen pflegte, also außerhalb der gängigen Muster. Seit es sie gab, löste er die Eckstein-Rätsel in der Zeit in weniger als einer Stunde.

      Eine ganze Dekade lang hatte sich Glander mit seiner Situation arrangiert und das nagende Gefühl der Unzufriedenheit verdrängt. Erst als er von der Affäre zwischen seinem Kollegen und besten Freund und seiner Freundin Jessica erfahren hatte, war er wach geworden. Das war nun rund zehn Monate her. Er hatte überreagiert, das mochte sein, doch immerhin hatte er seinen besten Freund im Bett mit seiner Freundin erwischt. Und er hatte Kai nur ein blaues Auge geschlagen, damit war der doch noch gut weggekommen. All die Jahre, die man in seine Arbeit investiert hatte, zählten offensichtlich gar nichts, wenn man das Spiel nicht mitspielte. Seine Versetzung nach Brandenburg hatte Glander das deutlich vor Augen geführt. Er hatte schon zu lange auf der Abschussliste gestanden. Auch die schützende Hand seines Mentors Brachniks hatte die Abmahnung nicht abwenden können. Und nachdem kurz darauf im vergangenen Sommer erneut ein Fall an seinen verhassten Kollegen Rolf Prinz gegangen war, hatte Glander endlich den letzten Schritt getan: Er hatte gekündigt. Glander hatte sich eingestehen müssen, noch nie gerne ein Teamplayer gewesen zu ein. Seine Eltern hatten ihm größte Vorwürfe gemacht, immerhin verzichtete er auf einen erheblichen Teil seiner Pension. Sie wussten nichts von der üppigen Abfindung, die der Ausgang seiner letzten, inoffiziellen Ermittlungen als Kripobeamter im Sommer im Zuge seines einvernehmlichen Aufhebungsvertrags mit sich gebracht hatte. Es war ein turbulentes Jahr für ihn gewesen.

      Glander war stolz auf die alte Fischerkate. Sie war ein Kleinod in der durchsanierten Ortschaft im Schwedeneck, in der viele alte Häuschen größeren und mondäneren Eigenheimen gewichen waren. Nichts mehr erinnerte an das pittoreske Fischerdörfchen, das seinen Großeltern Heimat gewesen war und in dem die Wurzeln seiner Familie lagen.

      Glander brauchte das Wasser, Bergurlaube waren ihm ein Gräuel. Und er war froh, dass es im Berliner Südwesten genug Seen und Flüsse gab, in denen er sich, sooft es ging, tummeln konnte. Da er nur wenigen Lastern frönte, hatte er sich auch mit Mitte vierzig eine gute Figur bewahren können. Das Herumsitzen bei gleichzeitigem Leeren von Chipstüten gehörte nicht in sein Feierabendrepertoire. Glander liebte es, in Bewegung zu sein, auch geistig. Er war zufrieden damit, den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt zu haben. Vier Monate zuvor hatte er mit einer ehemaligen Kollegin vom Berliner LKA, Merve Celik, eine eigene private Ermittlungsagentur gegründet.

      Glander nahm noch einen letzten Zug von der rauen Meeresluft, die baldigen Schneefall ankündigte, zog die Jacke aus, warf sie auf den Rücksitz seines Audi A4 und stieg in den Wagen, um nach Berlin


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