Am Tag, als Walter Ulbricht starb. Jan Eik

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konnte sich daran erinnern, dass der alte hölzerne Turm irgendwann abgebrannt und von den Ost-Berlinern nach langem Hin und Her durch einen neuen ersetzt worden war.

      Vom Schmetterlingshorst her kam ihnen eine ganze Armada von Paddlern entgegen, angefeuert vom Übungsleiter eines volkseigenen Sportvereins, der in einem Motorboot nebenherfuhr und ihnen mit einem Megaphon zurief, was sie besser machen sollten.

      Zützer grinste. «Die trainieren alle für ihre Flucht über die Ostsee.»

      «Über so was spottet man nicht», sagte Erkenbrecher.

      Dr. Lilienblum wandte sich nun dem Sportdenkmal zu. «Das besteht aus den Natursteinen, die mehr als dreihundert Vereine damals in ihren Heimatorten gesammelt und mit ihren Vereinsnamen versehen haben. WILHELM DEM GROSSEN – DER DEUTSCHE SPORT hat mal draufgestanden. Jetzt sieht es aber mehr nach Ruine aus … »

      «Ja, und die DDR will es abreißen lassen», fügte Erkenbrecher hinzu. «Weil es an die deutsche Einheit erinnert und weil zu viele Städte aus den verlorenen Ostgebieten vertreten sind.» Er sah auf seine Uhr. «Kommt, wir müssen nach Schmöckwitz, Carola wartet auf uns.»

      «Alles dreht sich um Carola», sagte Zützer. «Hab ich noch nie gesehen, die Dame, bin aber schon mächtig gespannt auf sie. Wäre sie was für mich?»

      «Nein», erwiderte Erkenbrecher. «Erstens ist sie in festen Händen und zweitens linientreue Bürgerin der Deutschen Demokratischen Republik.»

       Juni 1972

      EIGENTLICH STIMMTE bei dem, was Erkenbrecher über Carola gesagt hatte, nur das Erste, und auch das nur aus Hartmut Battins Sicht. Mit einer wirklich Linientreuen hätte er niemals etwas angefangen. Nicht mal aus Spaß. Mit Carola aber meinte er es bei allem Spaß, den sie miteinander hatten, durchaus ernst, und es wäre ihm lieber gewesen, sie hätte das auch so gesehen.

      «Das siehst du falsch!», war überhaupt so ein blöder Satz, der einem oft genug an den Kopf geschmettert wurde, wenn man eine andere Meinung hatte als die offizielle, und die hatte Hartmut Battin meistens. «Bis du etwa nicht für den Frieden?», klang dagegen schon halb satirisch, hatte aber häufig auch diesen drohenden Unterton, den Hartmut hasste. Schon in der Schule hatten sie ihn ausreichend mit solchen hohlen Sprüchen belöffelt. Jedenfalls einige von den Paukern, und natürlich immer die miesesten. Ein richtig intelligenter Hundertfünfzigprozentiger war ihm selten begegnet. In der Schule nicht, und im Beruf schon gar nicht. Er arbeitete bei der Post.

      «Die Reichsbahn und die Post, die saufen, wo’s nischt kost!» Das war der erste Spruch, den er von den alten Kollegen gelernt hatte, die schon unter Adolf die Strippen gezogen hatten, über und unter der Erde, und Kupfer und Kabel waren schon damals knapp gewesen. «Der Ain hat den Kabel erschlagen», wie polnische Kollegen es ausdrückten.

      Hartmut arbeitete beim Fernmeldeamt. «Aber zu melden ham wa nüscht!», war der nächste Spruch. In der Rangfolge der Bedeutsamkeit kam die Post ganz hinten und dann noch um zwei Ecken. Selbst der Minister war nur in der CDU, ein abgehalfterter Drogist, den sie Seifen-Schulze nannten. Hartmut hatte ihn einmal reden hören und wusste seitdem, dass es auch zweihundertfünfzigprozentige Unintelligenzler gab, die nicht mal in der SED waren.

      Mit seinen Kollegen verstand sich Hartmut Battin glänzend. Nur die machten die Arbeit im Amt überhaupt erträglich, und eine Kollegin ganz besonders. Sie hieß Carola Weigang und war sieben Jahre jünger als er. Nicht dass er besonders auf ganz Junge abgefahren wäre – nein, sie war mit ihren 24 Jahren eine Frau, die wusste, was sie wollte, und damit wohl genau die Richtige für ihn. Obwohl sie neben all ihren – nicht allein körperlichen – Vorzügen mindestens zwei kleine Fehler besaß: Sie kam aus Sachsen, wo bekanntlich die schönen (und vollbusigen) Mädchen auf den Bäumen wuchsen, und ihre Eltern konnten nichts anderes als Bonzen sein. Das bestritt sie zwar vehement – aber wie waren die wohl sonst aus ihrer Wohnhöhle in einem Nest nahe dem umgetauften Chemnitz zu einer Drei-Zimmer-Komfortwohnung in der Rue de Blamage gekommen, jener auch Halb-und-Halb genannten Ex-Stalinallee, wo die Kacheln von den Hauswänden fielen? Den Namen Karl Marx sprach Hartmut selten aus. Kallmastergrad nannte er Carolas Geburtsstadt, und zu seinen Lieblingswitzen gehörten die vom Parteihochschüler, der annahm, Karl May hätte Das Kapitalgeschrieben, und sich nach hundert Seiten Lektüre wunderte, dass immer noch kein Indianer vorgekommen sei, und noch überraschter erfuhr, dass es sich bei Marx-Engels angeblich um zwei verschiedene Personen gehandelt habe.

      Carola spendierte für solche billigen Späße nur ein müdes Lächeln, hatte aber mit den westdeutschen Urkommunisten auch nicht viel am Hut. Zu Hause und in der Schule war einfach zu viel von den beiden die Rede gewesen.

      Hartmut begründete ihren Überdruss dialektisch mit dem Marx’schen Gesetz der Negation der Negation: Übergroße Quantität schlägt leicht um in eine neue Qualität.

      «Und mangelnde Quantität?», fragte Carola. Ihr Sächsisch klang nur noch ganz leicht an, anheimelnd geradezu. Vielleicht hatte er sich auch nur daran gewöhnt.

      Aber damit waren sie wieder bei der Arbeit angelangt, von der sie in der Freizeit eigentlich nicht reden wollten.

      Sie war die Sekretärin des Mannes, der für die Vergabe der Fernsprechanschlüsse in der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik zuständig war, und wusste, wovon sie sprach. Telefonanschlüsse waren so knapp wie Räucheraal in den Fischläden. Dass es einen Fisch namens Lachs gab, war weitgehend unbekannt. In Carolas Heimatort Limbach-Oberfrohna gab es nicht mal Heringe. «Und dann kommt so ein Holzkopf wie mein Cousin aus dem Westen, schwärmt von Spanien und erzählt von Calamares und Thunfischsteak!», beklagte sie sich.

      «Dein Cousin ging noch», wandte Hartmut ein. «Der andere Typ war noch ein paar Zähne schärfer!»

      «Wenn sie den netten Alten nicht mitgebracht hätten, wär’s richtig furchtbar gewesen», gab Carola zu. «Am meisten hat mich geärgert, dass die Kerle mir nichts, dir nichts zur Olympiade nach München düsen können, während unsereins auf das Geschwätz von Herrn Oertel im Fernsehen angewiesen ist.»

      Ermattet lagen sie auf der breiten Liege in Carolas Einzimmerwohnung, Hinterhaus, vierter Stock, Ofenheizung und die Toilette eine halbe Treppe tiefer, aber eben nicht mehr das fernbeheizte Zimmer mit mütterlicher Ordnung im wörtlichen wie im ideologischen Sinne, aus dem sie sich vor Jahren hierher, mitten in den Prenzlauer Berg, abgesetzt hatte. Demnächst sollte sie eine noch kleinere, wenn auch komfortablere Wohnung der Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft Deutsche Post beziehen.

      «Wohnklo mit Kochnische», spottete Hartmut, freute sich aber doch ein bisschen darauf, nicht mehr die Kohlen vier Treppen raufschleppen zu müssen. Als Nicht-Berliner stand ihm gar kein hauptstädtisches Domizil zu. Polizeilich gemeldet war er am südlichen Stadtrand in einem allmählich verfallenden Eigenheim in Eichwalde, das seine Mutter von ihrem zweiten Ehemann geerbt hatte. Mit dessen Tochter aus erster Ehe befand sie sich seitdem im Kriegszustand. Es war wie mit dem gespaltenen Deutschland: An einen Friedensvertrag war nicht zu denken.

      Hartmut bewohnte auch deshalb das große Zimmer und zwei Dachkammern mit schräger Decke in der oberen Etage, damit alle Versuche seiner ihm weitestgehend unbekannten ehemaligen Stiefschwester, die ihr angeblich zustehende Haushälfte zu beziehen, von vornherein zum Scheitern verurteilt blieben.

      Im Laufe der Jahre war er mehrmals ausgezogen, hatte unter dem Protest seiner Mutter hier und da, kürzer oder länger mit Frauen in deren Behausungen zusammengelebt, war aber immer wieder reumütig heimgekehrt, froh darüber, sein Wohnrecht nie wirklich aufgegeben zu haben. An Mutters Marotten war er gewöhnt.

      Auch in Carolas Vergangenheit gab es einen dunklen Punkt, was die Wohnung in der Winsstraße anging. Jedenfalls ließ sie nie wirklich durchblicken, wie sie zu dieser gekommen war.

      Natürlich hätten sie heiraten können, und über kurz oder lang hätte ihnen ein Arbeiterschließfach zugestanden, aber so weit waren sie nicht miteinander. Er wollte seine Unabhängigkeit nicht ganz aufgeben, und sie hoffte immer noch, ihm vor einer eventuellen Ehe seine Machoallüren und ein paar andere störende Eigenschaften wenigstens zum Teil abzugewöhnen. Zu ihm und der Schwiegermutter


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