Behindert? - Was soll’s!. Mario Ganß

Behindert? - Was soll’s! - Mario Ganß


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So erfuhr mein Vater erstmals auch etwas über Spastiker und dass diese Krankheit nicht heilbar sei. Mit dieser tiefgreifenden Erkenntnis fuhr er sofort an seinem freien Wochenende ins Krankenhaus und nahm mich ohne jeglichen Kommentar mit nach Hause.

      Wann immer es die Zeit zuließ, unternahmen meine Eltern und Großeltern mit mir sehr viel, zum Beispiel Ausflüge in die nähere und weitere Umgebung.

      In der Wohnung, aber auch größtenteils im Garten, bewegte ich mich meistens krabbelnd auf allen Vieren vorwärts. Einige Schritte konnte ich jedoch auch mit Unterstützung gehen. Das hieß bei mir immer »battern«. Woher dieser Ausdruck kommt und wer ihn erfunden hat, kann ich nicht sagen. Wenn ich andeutete: »Mal battern«, wusste schon jeder was ich wollte. Dann griff mich derjenige, der gerade in meiner Nähe war, von hinten unter die Arme und stellte mich auf meine Beine. Ich konnte mich dann mit meinem Rücken an den Körper desjenigen, der mir gerade half, anlehnen. Zwar hing ich oft größtenteils in dessen Armen, aber ich bewegte meine Beine doch irgendwie vorwärts. Mit der Zeit achteten meine Eltern und Großeltern immer häufiger darauf, dass ich nicht nur so da hing, sondern meine Füße richtigen Bodenkontakt hatten. Auch wurde zunehmend Wert darauf gelegt, dass mein Oberkörper etwas nach vorn geneigt war und ich mich nicht nach hinten stemmte. Ich sollte lernen, mit einem möglichst aufrechten Gang zu gehen.

      Außer Haus schob mich meine Familie in einem Kindersportwagen. Dieser war etwas größer als ein herkömmlicher Kinderwagen, passte aber dennoch zusammengeklappt in unseren Pkw.

      Das Bild, welches meine Mutti mit mir und meinem vier Jahre jüngeren Bruder Andreas beim Ausfahren mit dem Sportwagen abgab, schien schon ziemlich witzig zu sein. Es war ein Glück und Zufall in einem, dass Andreas schon mit neun Monaten anfing zu laufen. Sonst wäre es für meine Mutti allein fast nicht möglich gewesen, mit uns irgendwo hin zu gehen. Die Blicke der anderen Passanten waren uns dabei gewiss. Da saß ich schon ziemlich großer Junge in einem Wagen und der kleine Knirps musste nebenher laufen.

      Ging meine Mutti einmal kurz in ein Geschäft, ließ sie mich und Andreas draußen stehen. Auffahrten für Kinderwagen oder gar Rollstühle gab es nur sehr selten.

      Kaum war meine Mutti im Geschäft verschwunden, kamen oft größere Kinder und lachten mich und meinen Bruder aus. Dies empfand ich als sehr unangenehm. Da ich spürte, dass mich die Kinder wegen meiner Sprachbehinderung sowieso nicht verstehen und so noch mehr lachen würden, traute ich mich nicht, sie anzusprechen. Andreas war noch zu klein, um die richtigen Worte zu finden. Es kam auch manchmal vor, dass Kinder ihre Eltern fragten, was mit mir los sei. Die Antwort war meist: »Der ist krank.«

      Mit der Zeit passte ich nicht mehr in den Sportwagen. Deshalb bekam ich von der zu DDR-Zeiten existierenden Sozialversicherungskasse (SVK) dann meinen ersten »echten« Rollstuhl. Durch diesen Rollstuhl sollten unter anderem die Blicke der Kinder, aber auch anderer Leute, gemildert werden. Es machte natürlich ein »besseres« Bild, einen etwas größeren Jungen in einem Rollstuhl, als in einem Kinderwagen zu sehen.

      Leider war dieser Rollstuhl für uns fast unbrauchbar. Die Mitarbeiter der SVK mussten ihn aus irgendeinem Lager ausgegraben haben. Wahrscheinlich stammte er noch aus Vorkriegszeiten und war irgendwie ein echtes Geschoss und somit extrem klobig und unhandlich! Der Rollstuhl hatte eine längliche Sitzfläche. Für die Füße gab es einen abklappbaren Fußkasten, welcher den Rollstuhl aber noch länger machte. Vorne hatte er zwei starre Räder und hinten zwei zum Lenken. Eine extrem lange Schiebestange verlängerte den Rollstuhl nochmals. Kein Teil konnte man zügig abmontieren. Schnellsteckverbindungen, wie man sie heute von modernen Rollis kennt, wurden früher nicht verwendet.

      So war es verständlich, dass wir diesen Rollstuhl kaum benutzten. Zum einen passte er kaum in ein Auto, zum anderen ließ er sich nur unter großer Mühe schieben. Die Bordsteinkanten konnte man den Rollstuhl nur rückwärts hochziehen, da sich die starren Räder vorne befanden. So fuhren mich meine Eltern und Großeltern notgedrungen weiterhin mit dem Sportwagen durch die Gegend.

      Die Tage, Wochen und schließlich auch die Jahre, die ich größtenteils tagsüber bei meiner Oma verlebte, vergingen wie im Flug, zumal ich gerne bei ihr war.

      Natürlich machten sich meine Eltern und Großeltern während dieser Zeit immer wieder große Gedanken, ob und in welche Schule ich gehen könnte.

      Mit mir wurde sehr viel geübt und – so gut es Eltern bzw. Großeltern können – mir fast alles beigebracht, was ein Kind mit vier bis fünf Jahren wissen sollte. Ich konnte zählen und kannte alle Farben. Die Geschichten aus dem Struwwelpeter sagte ich auswendig vor. Ich war geistig, entsprechend meinem Alter völlig normal entwickelt. Dennoch war meiner Familie klar, dass sie mir niemals einen Lehrer ersetzen können. Ich musste also irgendwie zur Schule gehen.

      Meine Eltern gingen mit mir zur Vorschuluntersuchung. Frau Dr. Reichelt, eine Allgemeinärztin, war dafür zuständig, Vorschulkinder auf ihre Schultauglichkeit zu testen. Die Frau machte allerdings den Eindruck, als hätte sie noch nie etwas mit körperlich behinderten Kindern zu tun gehabt. Als Frau Dr. Reichelt mich sah, meinte sie daher nur: »Wenn sie dem Kind das unbedingt antun wollen …« und schickte meine Eltern und mich wieder nach Hause.

      Was in den darauffolgenden Wochen wirklich geschah, ist heute für mich leider nicht mehr nachvollziehbar. Eines Tages erreichte uns ein Brief von einer Schule für Körperbehinderte in Oehrenfeld. Ich sollte dorthin kommen und man wollte erst einmal für vier Wochen testen, ob ich überhaupt schultauglich sei. Mit dieser Aufforderung konnte zunächst niemand von uns etwas anfangen. Vermutlich muss sich Frau Dr. Reichelt doch ein Herz gefasst und sich mit dieser Sonderschule in Verbindung gesetzt haben. So sollte ich vielleicht doch eine Chance bekommen, eine Schule besuchen zu dürfen.

      Meine Eltern machten sich kundig, wo Oehrenfeld überhaupt liegt und was das genau für eine Einrichtung war. Ein Blick auf die Landkarte blieb erfolglos. Wir fragten uns: »Gibt es diesen Ort eigentlich?« Aber wenn es so in dem Brief stand, musste es ihn ja geben.

      Die Spur führte in den Harz. Nahe Wernigerode liegt der Ort Darlingerode und Oehrenfeld ist davon ein Ortsteil. So richtig vorstellen, wo es wirklich liegt, konnte sich dennoch niemand. Zwei Dinge standen allerdings fest: Es musste irgendwo im Harz und ziemlich nah an der damaligen innerdeutschen Grenze liegen.

      Zu dieser Schule gehörte ein Internat. Es war gut, dass ich dieses Wort noch nicht kannte und mir meine Eltern immer nur von den schönen Seiten eines Internats erzählten. Aus heutiger Sicht denke ich, dass ich mich strikt geweigert hätte dorthin zu fahren, wenn ich gewusst hätte, was eigentlich auf mich zukam bzw. mich erwartete. Ein Leben in einem Internat bedeutet, getrennt von lieben Menschen zu sein. Dies ist bei Weitem keine leichte Entscheidung für Eltern, zumal sie abwägen müssen, was das Beste für ihr Kind ist. Meinen Eltern, aber auch meinen Großeltern, wurde es mulmig bei dem Gedanken, mich bald in diese Einrichtung abgeben zu müssen. Doch war dies die einzige Chance, mich eine Schule besuchen zu lassen!

      Oehrenfeld liegt zirka 130 Kilometer von Zerbst entfernt; viel zu weit, um jeden Tag mit dem Auto zu fahren. Es führte daher kein Weg daran vorbei: Wenn ich zur Schule gehen wollte – und sollte – musste ich in dieses Internat!

       Oehrenfeld

      Am 3. September 1973, ein Montag, war es so weit. Ein neuer Lebensabschnitt sollte für mich, aber auch für meine Eltern beginnen. Dieser Tag muss so prägend für mich gewesen sein, dass ich mich bis heute nahezu an jede Kleinigkeit erinnere.

      Da noch immer niemand genau wusste, wo Oehrenfeld genau liegt, wurden meine Mutti und ich in aller Frühe von einem Krankentransport abgeholt. Diese Fahrt war eine unvergessliche Tortur für mich, denn ich musste nahezu während der ganzen Strecke hinten auf der schmalen Pritsche liegen. Zudem roch es sehr stark nach Desinfektionsmittel. Meine Mutti saß die ganze Zeit neben mir. Wegen der Milchverglasung konnte auch sie kaum nach draußen schauen. Bei Halberstadt nahm sie mich auf den Arm, damit ich eine bessere Sicht auf die nun zum Vorschein kommenden Berge hatte. Es zeigten sich schon erste Anzeichen der einsetzenden Laubfärbung. Frau Dr. Reichelt, die Ärztin, die mich vor wenigen Wochen noch nicht einmal einschulen wollte, fuhr mit. Sie saß vorn. Als sie sah, dass meine Mutti mich


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