Mordgelüste in der Schlossklinik Buchenhain. Herbert Seibold
Blumenstrauß in der Hand und ihrer Lieblingsarie von Verdi, „La donna è mobile“, auf den Lippen ins Zimmer getreten. Doch das Lied blieb ihr im Halse stecken. Sofort rief sie fast hysterisch mit sich überschlagender Stimme und das Schlimmste befürchtend im Konferenzsaal an und war erleichtert, zu hören, dass ihr Chef wohlauf sei und sich gerade auf dem Weg zu ihr mache. Sie hatte Schlimmes befürchtet, als sie schaudernd bemerkte: „Es weht wie Kühle hier!“ Einen Augenblick hatte sie doch tatsächlich geglaubt, ihr Chef sei nach der Versammlung, als sie selbst zum Blumenkauf kurz weg war, zurückgekehrt und habe sich aus dem Fenster gestürzt. Der war schon seit Tagen schlecht drauf und nicht erst seit dem heutigen Telefonat mit seiner Frau. Normalerweise zitierte sie auch nicht Shakespeare – schon gar nicht am Vormittag. Tragik lag ihr sowieso fern, weil sie von Natur aus heiter gestimmt war.
Sie hatte den Vorhang zur Seite geschoben und war sofort blass geworden. Auch ihr Chef hatte – kurz darauf eingetreten – sofort geahnt, warum der weiße Store im Büro sich bei seinem Eintritt bewegt hatte. Er sah entsetzt auf das zerbrochene Fenster und dann sah er auch schon den Stein auf dem Fußboden. Um den Stein war ein Blatt Papier mit einem Teufelsgesicht gewickelt und darauf in Druckbuchstaben geschrieben: „Dem seelenlosen Psychopathen als Warnung. Das nächste Mal ein Bömbchen? Uns ist es todernst!“
Die Sekretärin musste sich setzen. Sie rang um Luft und Haltung. Ein Racheakt oder ein Bubenstreich? Muniel sank ebenso stöhnend auf seinen Sessel. Dabei hatte er heute Morgen gedacht, dass er in diesem Jahr nach ökonomischen Erfolgen einen strahlenden Frühling erwarten könne. Was in diesem Augenblick niemand, auch er, nicht ahnte: Es könnte sein letzter oder vorletzter Frühling sein.
Nach dem Steinwurf hatte Kurt Muniel zum ersten Mal ein mulmiges Gefühl, als würde sich die Romantik des Raums im Jugendstil in einen brutal ausgeleuchteten Tatort verwandeln. Es war ein ähnlich dumpfes Gefühl wie gestern Abend, als er kurz vor Dienstschluss eine unglaubliche E-Mail und zwei Minuten später eine weit schrecklichere erhielt. Die erste Mail vom Vorstand war für ihn einfach nur entmutigend und enttäuschend, weil darin die Unzufriedenheit der Mitarbeiter mit seinem angeblich harschen Führungsstil angeprangert wurde. Der Mitarbeiterwechsel sei beängstigend. Muniel kapierte. Der Druck, den seine Vorstandskollegen auf ihn ausübten, durfte natürlich nicht an die Mitarbeiter weitergegeben werden. Darüber konnte er im Nachhinein sogar noch lachen. Zwei Minuten später verging ihm aber endgültig das Lachen. Eine E-Mail – Spam? – auf seinem Outlook! Mit kaltem Schweiß auf der Stirn las er: „Ab jetzt sollten Sie sich warm anziehen, Herr Geschäftsführer!“
Er fühlte sich, als lastete ein unheimlicher Fluch auf ihm. Dabei hatte doch alles so positiv angefangen. Sein Konzept war eine Kombination aus Sparen und vom Land unterstützten Investitionen in Behandlungsmethoden, die nach dem Verzeichnis des Operationen- und Prozedurenschlüssels, abgekürzt OPS genannt, den meisten Gewinn einbrachten. Okay! Es war ihm tatsächlich gelungen, in den Bilanzen schwarze Zahlen zu schreiben. Wie ein neuer Trainer, der einen Verein vor dem Abstieg rettet. Die Mitarbeiter und der Vorstand hatten anfänglich nicht alle mitgezogen. Er hatte die Reformen auf der Vorstandsebene allein durchfechten müssen.
Jetzt fühlte er sich trotz seiner Erfolge wie auf einem Schleudersitz in diesem herrlichen Schloss im Buchenhain, dem Gebäude der Krankenhausverwaltung. Er fröstelte. In seinem Hirn breitete sich mit seinen trüben Gedanken eine beklemmende unbestimmte Angst aus. Letzte Nacht schon war er in Schweiß gebadet aufgewacht nach einem Albtraum, in dem ihm ein Mann im Talar, wie ihn sein strenger Vater trug, ein schwarzes Band um den Hals gelegt hatte.
Nun rannte er wie in Trance zum Spiegel und sah sein fahles verschwitztes Gesicht. Wegen der Kälte hatte er seinen Mantel angezogen, den er aber wegen plötzlicher Hitzewallungen wieder auszog. Seine trüben Gedanken – das spürte der Geschäftsführer – standen in krassem Gegensatz zu den heiteren Ornamenten der Belle Epoche in seinem Büro.
Er erinnerte sich: Der Bauherr des Schlösschens – ein Textilindustrieller – war auch nicht – es schien ihm jetzt wie ein Fluch – bis zu seinem Tode glücklich gewesen, da die guten Zeiten der Textilindustrie durch die Billigproduktion zuerst aus Indien, dann aus China und Bangladesch beendet wurden.
Dieser Industriezweig war auch ohne Finanzkrise schon vor Jahren in die Knie gegangen. Doktor Muniel hatte die früheren unbeschwerten Zeiten der Kliniken ohne Deckelung der Budgets schon nicht mehr kennengelernt. Seine Assoziationen waren von Anfang an durch die schlechteren Bedingungen der Kliniklandschaft von negativen und düsteren Gedanken an die Zukunft überschattet: In seinem Gesicht hatte sich ein ständiger Verdruss mit tiefen Längsfalten eingenistet. Er entkam dieser Stimmung nur durch bewusstes Planen und den Aufbau seines Selbstbildes von Macht und Bedeutung. Das Unbewusste machte wohl dabei nicht so leicht mit. Die Angst keimte in seinem Körper wie ein giftiges Kraut. Er sprach die Einsamkeit seiner Gedanken schon lange nicht mehr aus.
„Ich müsste doch nicht zuletzt wegen der jetzt erreichten schwarzen Zahlen glücklich sein.“ Das Krankenhaus hatte den Wettbewerbsdruck überlebt und ähnlich strukturierte Häuser in der Umgebung bis vierzig Kilometer einfach weggedrängt. „Unsere Arbeitsplätze blieben erhalten, weil die Bilanzen wieder stimmten. So hart es klingt, war das Krankenhaus wie ein schwer erkrankter Patient gewesen, bevor ich kam.“
Er redete sich das nicht nur ein. Es stimmte tatsächlich. Auch der Vorstand, der sich aus dem Alltag des Betriebs heraushielt, nickte geschlossen den Halbjahresbericht ab. Auch diese Herrschaften waren fest davon überzeugt, dass die Situation fürs Erste entschärft war. Sein Büro in einem Schloss – glaubte er – sei ein guter Ort, in dem er sich wohlfühle und Erfolge plane!
Er hielt die Einsamkeit seiner Gedanken nicht mehr aus. Er griff zum Telefon und bat seine Sekretärin herein. „Frau von Hess-Prinz! Ich brauche Sie, Ihren Optimismus und den Rat einer intelligenten und fühlenden Frau. Sie haben die Gabe, den Dingen ihre bleierne Schwere zu nehmen, als könnten Sie durch Nebel in eine unbeschwerte helle Zukunft schauen.“
Frau von Hess war Sekunden später in seinem Büro. Sie brachte einen Espresso mit. Muniel bot ihr keinen Stuhl an, sondern überfiel sie gleich mit einem Schwall von Worten: „Finden Sie, dass die heitere Atmosphäre des Schlosses nicht zu unserem harten Tagesgeschäft passt?“
Die Sekretärin – eine schlanke blonde Frau in den Vierzigern und im Gegensatz zu ihrem heiteren Gesicht mit strenger Hochfrisur – hatte eine bezaubernde, fast verzaubernde Art, auch unangenehme Situationen mit einem Lächeln zu überstehen. Sie wirkte echt. Keine Masche. Ob der ungewöhnlichen Frage aus dem Munde ihres sonst so spröden Chefs war sie doch sehr erstaunt, fasste sich aber schnell und sprach mit dunkler leiser Stimme und ihrem charakteristischen lächelnden Blick. Sie kannte das Sprichwort, dass nur der, der leise spricht, sich durchsetzen kann. Einen Augenblick fühlte sie sich wie die Pythia von Delphi.
„Ich glaube schon, dass wir für die Zukunft – sollte sich das Glück unseres Hauses nicht im Dunkeln verlieren …“ Sie schaute flüchtig in die Ferne und kurz darauf ihn fest, mit einem fast magischen Blick, an. „Im Umgang miteinander sollten wir entspannter, ja humorvoller sein. Der Alltag darf uns einfach nicht knechten oder niederdrücken! Aber auch die Geschichte von Schlössern – Sie sprachen ja von Schlössern als Paradigmen einer heiteren Welt – zeigt uns die Realität. Schlösser haben – verzeihen Sie, wenn ich etwas aushole – oft auch traurige Geschicke – denken Sie an das Schloss Neuschwanstein, das selbst einem von Geburt begünstigten König Ludwig nur Unglück gebracht hat. Auch moderne Schlösser wie das Schloss Bellevue in Berlin, das erst kürzlich in die Schlagzeilen geriet. Ein Schloss, das bis jetzt als repräsentatives Symbol einer integeren, wenn auch volksfernen Politik galt und seit den jüngsten Schlagzeilen einen komischen Beigeschmack bekommen hat.“
„Wie scharfsinnig und intellektuell Sie argumentieren, Frau von Hess-Prinz! In meinem Fall habe ich aber nie auch nur eine Sekunde an meinen eigenen Vorteil gedacht, sondern immer nur an das Krankenhaus!“
„Deswegen bewundere ich Sie auch so, Herr Doktor Muniel, aber Dank können Sie von den Menschen nicht erwarten“, erwiderte seine Sekretärin und meinte es ehrlich.
„Ja, ich musste viele unbequeme Entscheidungen treffen, unfähige Leute entlassen, trotz nicht voll besetzter Stellen nicht nur Ausländer, die unserem