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lassen, wenn wir Abgeordnete nicht folgen. Damit wäre Rot-Grün am Ende, alle Möglichkeiten zu gestalten dahin. Es gäbe keine Energiewende und die Sozialpolitik dann wieder von Union und FDP.

      Ich lerne also: Eine Person kann nach eigenen Vorstellungen Leute berufen, die ihr genehm sind, die alles vorgeben, was dann von einer Mehrheit im Bundestag abgenickt wird. Und wenn es knapp werden sollte, dann setzt man die Abweichler unter Druck oder droht, sie nicht mehr zu beteiligen. Am Ende hat man seinen Beschluss ohne die kleinste Veränderung und bekommt Bewunderung dafür, wie man die Volksvertretung einfach mal so eben ausgeschaltet hat. Das ist dann eine lupenreine Demokratie …

      Das Spiel und seine Regeln

      Magengrummeln und geballte Fäuste – mit Rede und Stimme in der Fraktion bin ich gegen diese Art der Politik. Aber nach außen hin bin ich folgsam. Intern versuche ich mich dagegen zu vernetzen, neue Strukturen aufzubauen, wie etwa die Denkfabrik – ein ehemaliger Zusammenschluss vorwiegend junger progressiver SPD-Abgeordneter –, die später dann die ersten rot-rot-grünen Gespräche koordiniert. Was ich in meiner ersten Zeit hier erlebe, ist für mich mehr als ein Riss in meiner Vorstellung von Demokratie.

      Ich führe ein intensives Gespräch mit einer älteren Kollegin, die ich schon einige Male als Neuling um Rat gefragt habe. Sie versteht meinen inhaltlichen Unmut. Bezüglich der Vorgehensweise schränkt sie allerdings ein, dass Schröder es schon sehr schlau angestellt habe. Natürlich dürfe man das eigentlich so nicht machen. Ich stolpere gleich über das »eigentlich«. Aber so sei Politik, und dann wird sie ganz ernst und sagt eindringlich: »Marco, ich weiß, wie du dich jetzt fühlst, aber einen ganz wichtigen Rat und meine Erkenntnis nach mehreren Legislaturperioden gebe ich dir jetzt mit: So läuft das Spiel hier. Du hast zwei Möglichkeiten. Entweder du akzeptierst die Spielregeln, dann hast du vielleicht irgendwann mal die Chance, weiter oben mitzuspielen und kannst vielleicht die ein oder andere Position durchbringen. Oder du akzeptierst sie nicht, dann musst du das Spielfeld bald wieder verlassen.«

      Diese Aussage widerstrebt mir. Sie passt so gar nicht zu meinem Anspruch und meiner Vorstellung von Demokratie. Aber mir dämmert, wie Politik hinter den schönen Reden, der öffentlichen Show und der Fassade, jenseits der Theorie gerade wirklich funktioniert. Diese Sätze prägen sich wie ein Stempel in mein Hirn. Erst versuche ich es mit Ironie zu nehmen, aber mein Trotz und Unbehagen sind zu groß und wachsen mit meinen weiteren Erfahrungen.

      Nein, es gibt eine dritte Möglichkeit. Die Spielregeln sind unfair und undemokratisch. Einige bestimmen viel, die anderen nicken ab und verkaufen es nach außen. Die Parteien werden zu Wahlvereinen. Nur wer lange genug mitspielt und sich in den kleineren Spielen am Rande mit Vitamin B gegen Konkurrentinnen durchsetzt, kommt ans größere Spielbrett. Und die Schlossallee und die Parkstraße voll mit Hotels gehören sowieso Spielerinnen, die sich keiner Wahl aussetzen müssen und nicht abgewählt werden können. Die Bevölkerung ist eine Spielfigur ohne besonders große Relevanz. Lobbykontakte und elitäre Netzwerke sind spielentscheidende Player. Monopoly ist dagegen ein extrem gerechtes und demokratisches Spiel.

      Da werde ich weder so mitspielen noch das Spielfeld verlassen. Die Regeln müssen geändert werden! Natürlich ist mir klar, dass dies leichter gesagt als getan ist. Aber es wird meine Losung, mein Auftrag. Auch deshalb, weil ich immer mehr zu spüren bekomme, wie Argumente und Überzeugungskraft zwar nice to have sind, aber wenig ausrichten im politischen Spiel. Wenn du also wirklich was verändern willst, musst du die Strukturen aufbrechen, das politische System vom Kopf auf die Füße stellen.

      Wendepunkt

      Das will ich heute immer noch, ausgerüstet mit Erfahrungen, Enttäuschungen, Frustrationen, aber auch immer wieder mit Hoffnung. Mein Antrieb war schon immer der Ärger über die ungleichen Verhältnisse, über die Zerstörung der Lebensgrundlagen, aber vor allem über Ungerechtigkeit. Wenn ich einigermaßen zufrieden wäre mit den Verhältnissen und der Politik, dann hätte ich längst aufgehört oder gar nicht erst damit begonnen – gibt es doch so viele spannende und schöne Dinge auf der Welt.

      Als ich Ende 2018 nach 26 Jahren die SPD verlasse, ist für mich klar, das war es mit der Profipolitik. Ich will kein Netz und keinen doppelten Boden. Ich bin überzeugt davon, dass meine SPD-Basis mich wieder aufgestellt und ich den Wahlkreis noch mal gewonnen hätte, auch weil meine Erststimmenergebnisse deutlich über den Zweitstimmenergebnissen der Partei lagen. Oder ich hätte die Chance gehabt, zu wechseln und bei einer anderen Partei unterzukommen, die in Zukunft wieder im Bundestag – höchstwahrscheinlich auch mit mir – vertreten sein würde. Stattdessen war ich drauf und dran, das große Spielfeld zu verlassen, auch wenn ich mich sicher weiter engagieren würde.

      Doch dann passiert einiges. Ich bekomme mehr Rückmeldungen, Anfragen, Post als zuvor. Ich spüre mehr Offenheit, mehr Nähe von vielen Initiativen, Gruppen, Bürgerinnen, die den Glauben in die etablierten Parteien und in das jetzige System verloren haben. Sie kommen jetzt vermehrt auf mich zu. Und dies auf allen Ebenen. Es ist nun viel leichter, Kontakte zu knüpfen. Immer mehr sagen mir auch, dass sie mich wieder wählen würden, auch ohne SPD – oder gerade ohne SPD. Die Klimaproteste nehmen immer mehr Fahrt auf. Insgesamt bewegt sich was in Deutschland 2019, auch auf der Straße, als allein an einem Tag im September über eine Millionen Menschen zum Klimastreik zusammenkommen.

      Ich bin raus aus der Mühle, aus dem Laufrad. Keine Profitlobby, keine Taktikgespräche, keine Bauchschmerzen bei so vielen Entscheidungen. Meine Arbeit wird spannender, vielfältiger. Gerade die vielen sich politisierenden und zu Wort meldenden jungen Menschen machen Mut. Aber ich spüre auch den aufkommenden Frust, weil Millionen Menschen auf der Straße zwar die Umfragen bezüglich der Klimafrage beeinflussen, aber längst nicht die Entscheidungen, die weiter zu Gunsten der Klimaschmutzlobby getroffen werden.

      Für mich ist klarer denn je: Es wird sich nichts oder zu wenig verändern, wenn sich die Spielregeln nicht ändern. Die aktuellen Krisen sind zu groß. Steigende soziale Ungleichheit, das riesige Artensterben und die Klimakrise. Dazu Pandemien, die gerade wegen unserer Lebensweise immer häufiger auftreten werden. Schon allein Covid-19 zeigt uns doch unsere Grenzen auf. Vor allem bei Krisen, die sich langsam steigern, versagt unser politisches System.

      Meine Hauptthese ist deshalb: Wenn wir die Spielregeln nicht ändern, die Demokratie nicht wirklich erneuern, lösen wir die Krisen nicht, sondern verschärfen sie. Es wurde ein Lobbyland geschaffen, welches die Interessen einer immer kleineren Elite bedient und ohnmächtig ist gegenüber den wirklichen Gefahren. Vor allem dann, wenn Handeln bedeutet, dass auch die wirklich Wohlhabenden und Mächtigen davon beeinflusst werden. Die jetzige Politik orientiert sich an der Vergangenheit, nicht an der Zukunft, und ist die Umkehrung von for the many, not the few.

      Das Wort »Krise« leitet sich vom griechischen Wort krísis ab und bezeichnet nicht nur eine bedenkliche Lage. Was viele nicht wissen, es bedeutet auch »Wendepunkt«. An genau so einem Wendepunkt stehen wir. Beugen wir uns den Risiken oder nutzen wir die Chance, wenden wir das Blatt?

      Viele aufmunternde Reden und Schriften würden an dieser Stelle ergänzen, es liege nur an uns, und es sei nicht schwer, wenn man nur wolle. Doch es ist schwer. Und es ist weder mit einigen tollen neuen Technologien getan noch mit einem zartgrünen oder blassroten Anstrich, noch mit dem Engagement einer ganzen Generation, welches sich dann irgendwann in den Parteien niederschlägt und dort auch weitestgehend verebbt. Nein, das ganze verkrustete, lobbyierte politische System muss gesprengt werden, damit wirklich gehandelt werden kann. Man muss sich mit den wirklichen Mächtigen anlegen. Und nein, es geht nicht, ohne jemandem weh zu tun, ohne dass jemand verliert. Kein Update oder eine kleine Reform der Demokratie reicht dafür aus, wie zum Beispiel ein Lobbyregister, ein wenig Bürgerbeteiligung, etwas modernere Parteien … Die Fassaden müssen eingerissen und die Demokratie einschließlich des Wirtschaftssystems demokratisiert werden. Sie gehört auch den nächsten Generationen. Freiheit und Sicherheit ­­bewahren wir für unsere Kinder nur, wenn wir ihre Lebensgrundlagen nicht einschränken oder gar zerstören.

      Wie sieht es hinter der politischen Fassade wirklich aus? Wie dämmen wir den Profitlobbyismus ein? Wie schaffen wir wieder mehr Teilhabe? Wie befreien wir uns davon, dass wir hauptsächlich zu Arbeitskräften, Konsumentinnen und Teilzeitwählerinnen degradiert wurden? Wie verändern, revolutionieren wir unsere Demokratie – damit wir die wirklichen Krisen


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