Dalriada. Gerhard Streminger
auch daran, dass unter den Hochspannungsleitungen, sobald sie die Straße überquerten, Netze gespannt waren, um zu verhindern, dass gerissene Leitungen direkt auf die Straße fallen konnten. Nach etwa einer halben Stunde hatten wir den Tweed, den berühmten Grenzfluss zwischen England und Schottland erreicht.
Berwick-upon-Tweed war einmal Schottlands wichtigste Handelsstadt gewesen, mit einem starken flämischen Bevölkerungsanteil. Zwischen Engländern und Schotten wechselte die Stadt mehr als ein Dutzend Mal ihre Besitzer, und Berwick könnte überhaupt die am heftigsten umkämpfte Stadt Europas sein. Gegenwärtig gehört sie zu England, aber Berwickshire, die Grafschaft, ist weiterhin ein Teil Schottlands.
In zahlreichen Kämpfen zwischen den beiden Völkern wurden die Stadt und die wenigen Dörfer im schottischen Grenzland immer wieder geplündert und niedergebrannt. Diesseits und jenseits der Grenze war das Land oft Jahrzehnte lang eine menschenleere Wildnis, eine Gegend voller Sümpfe und Moore, die praktisch nur von Schmugglern und Viehdieben durchquert wurde. Schottisches Grenzland ist Ruinenland (die Abteien von Dryburgh, Jedburgh, Melrose, Kelso) – nicht überraschend also, dass auch Berwick von einer mächtigen Wehranlage umgeben ist.
Im Süden der Stadt, in der heute etwa 12.000 Menschen leben, mündet der Tweed in das Meer. Eine lange Kaimauer führt gleich neben der Mündung des Flusses zu einem Leuchtturm. Heather parkte ihr Auto nahe am Kai, und wir schlenderten diesen entlang zum Leuchtturm, vorbei an einigen Ruderbooten, die im Rhythmus der Brandung vor sich hin schaukelten. Die flimmernden Lichtreflexe im Wasser warfen auf den Rumpf der Schiffe die sonderbarsten Muster. Zuweilen ähnelten diese der Haut eines Krokodils, dann wieder glaubte man, in ein offenes Feuer zu blicken. Fasziniert starrte ich auf diese Lichtspiele wie bei einem Popkonzert und genoss die frische, salzige Seeluft, da ich tiefer zu atmen vermochte als üblich.
Knapp über uns flogen unzählige Möwen mit ihren großen gelben Schnäbeln. Ihre miauenden Rufe und ihr gellendes Pfeifen, das mit einem tiefen Ton begann und dann in einem ein oder zwei Oktaven höheren Gelächter endete, empfand ich als ziemlich unheimlich und, da für mich sehr ungewohnt, zunächst auch als einigermaßen nervtötend. Draußen vor der Küste kreuzte ein größeres Fischerboot, das von hunderten kreischenden Möwen begleitet wurde, die nach den Innereien der ausgenommen Fische suchten und das Schiff beinahe verhüllten.
Je weiter wir uns dem Leuchtturm näherten, umso stürmischer wurde der Wind. Am Beginn des Kais war die Luft noch angenehm lau, aber bald erfasste uns eine kalte Böe aus dem Norden. Während ich mich an den chaotischen Luftbewegungen eher erfreute, hatte Heather mit dem böigen Wind ihre liebe Not. Denn als Rückenwind wehte er den Saum ihres langen Kleides immer wieder nach vorne zwischen ihre Beine. An diese Möglichkeit hatte sie offenbar nicht gedacht, wie ein leiser Schrei vermuten ließ. Nach einer kurzen Schrecksekunde versuchte sie, das Kleid nach unten zu drücken und ihren Rücken aus der Windrichtung zu drehen. Aber auch das half gegenüber einem Wind, der ohne Vorwarnung von überallher zu wehen pflegte, nicht wirklich. Also gab sie ihre Bemühungen auf, lächelte nur und ließ den Wind gewähren, der ihr Kleid einmal an den Körper presste, dann wieder wie einen Regenschirm aufspannte.
Am Fuße des Leuchtturms stand eine kleine, relativ windgeschützte Bank, auf die wir uns setzten und lange Zeit auf das Meer schauten. Da gerade die Flutwellen hereinströmten, unterlag das fast schwarze Wasser des Tweed immer deutlicher dem graublauen der Nordsee. Eine halbe Stunde zuvor war das torfreiche Wasser des Flusses noch weit draußen ins Meer geströmt. Aber jetzt bei Flut staute das Meer den Tweed schon auf Höhe der Kaimauer. Damit veränderte sich auch die Gestalt der Wellen. Einige Meter flussaufwärts waren viele kleine, ziemlich ungeordnete Wellen zu sehen, die dadurch entstanden waren, dass das Wasser des ruhig dahin fließenden Tweed auf das Meerwasser traf. Aber schon wenige Meter flussabwärts wurden die Wellen mächtiger und erreichten eine Höhe von vielleicht 40 Zentimetern auf einer Fläche von der Größe eines halben Fußballfeldes. Noch weiter draußen im Meer wurden die Wellen wieder kleiner. Offenbar hatte dort das Meer den Fluss endgültig gezähmt. Ich stellte mir zwei uralte menschenähnliche Roboter vor, die ständig aufeinander eintrommelten und Funken sprühten, wobei – bei Ebbe – die Faust des Flusses kräftiger ist, und dann – bei Flut – die des Meeres.
Lange hatten wir diesem elementaren Kampf zugesehen und dabei fast nicht bemerkt, dass ein schwarzhäutiger Fischer neben uns seine Angel mit besonderer Eleganz ausgeworfen hatte. Schon nach wenigen Versuchen hatte er Erfolg und legte den Fisch, wohl einen großen Kabeljau, auf den Betonboden. Nach einigen Schrecksekunden begann das Tier, sich hin und her zu winden, dann spannte es seine Muskeln an und sprang immer wieder einige Zentimeter, geformt wie ein Hufeisen, vom Boden hoch. Da der Haken noch in einem der Mundwinkeln steckte, blutete der Fisch aus dem Maul. Seine verzweifelten Sprünge wurden immer seltener, und schließlich gelang ihm der Satz vom Boden nicht mehr, sondern er rutschte nur noch nach vorne und zurück. Ich wollte den endgültigen Todeskampf des Tieres nicht sehen und ging den Kai langsam wieder zurück. Heather hatte schon seit längerem mein Unbehagen bemerkt, und sie schlang ihre Arme um meinen linken Oberarm. Aber ich vermochte ihre Berührung kaum wahrzunehmen.
Nur wenige Worte wechselnd, wanderten wir durch die Straßen der Stadt. An einer Ecke stand einsam ein Angehöriger der Heilsarmee, der, ohne sich aufzudrängen, alle paar Sekunden eine Blechbüchse schüttelte. Passanten eilten schnellen Schritts an ihm vorbei, ein paar starrten leicht gebückt zum Boden, andere fixierten das Ende der Straße. Nahe der steinernen, gekurvten Eisenbahnbrücke erreichten wir wieder den Tweed und sahen erneut Fischer. Einige standen mitten im Fluss und warfen mit Hilfe ihrer Fliegenrute einen Kunstköder aus, andere fingen Fische mittels eines Netzes, das sie zunächst mit einem Boot in die Flussmitte zogen. Sobald sie diese erreicht hatten, ruderten sie etwa zwanzig Meter flussaufwärts und dann wieder zurück ans Ufer. Dort zogen sie gemeinsam das Netz ein und befreiten die gefangenen Lachse von den Maschen. Aber anstatt sie wieder ins Wasser zu werfen, wie der hl. Franz von Assisi es angeblich getan hatte, wurden die wunderschönen Lebewesen auf einen großen Tisch gelegt und von einem der Schleppnetzfischer mit einer langen Holzkeule erschlagen, während dutzende Fischaugen ihn anstarrten und um Mitleid flehten.
Einige Lachse waren gewiss einen Meter lang und besaßen riesige Laichhaken. Halb fasziniert, halb angewidert machte ich Heather den Vorschlag, doch weiter flussaufwärts in den Auwald zu gehen. Aber sie hatte dem Tweed schon seit einiger Zeit den Rücken gekehrt und den Weiden zugesehen, wie sie im Wind hin und her wogten, elegant wie riesige Schildkröten, die – langsam in der Strömung treibend – am Meeresgrund grasen.
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