Die Sibyllinen. Friedrich Blass
wahrscheinlichst ursprüngliche zu ermitteln war. Übrigens schließt sich die Übersetzung möglichst genau an das Original an und will namentlich auch nicht deutlicher sein als dieses. Die Verse der Sibylla lesen sich in der von Alexandre verbesserten lateinischen versifizierten Übersetzung Castalio’s ganz elegant und leidlich sinnvoll; aber das Original ist nun einmal nicht so, und wer Sinn und Zusammenhang übersetzend hineinlegt, wo keiner ist oder keiner mehr ist, der verfälscht oder erlaubt sich unzulässige Freiheiten. Ein ziemliches Maß von Widersinn ist somit im Texte zugelassen worden; wo indes die Sache ganz arg wurde, sind Punkte gesetzt und in einer Anmerkung das Nötige angegeben.
Die in den Anmerkungen citierten Namen beziehen sich auf folgende Schriften:
Badt, De oraculis Sibyllinis a Judaeis compositis, Bresl. 1869, u. Urspr., Inhalt u. Text des 4. Buches der sibyll. Orakel. Bresl. 1878.
Bleek, Über die Entst. und Zusammensetzung der uns in 8 BB. erhaltenen Sammlung sibyllinischer Orakel (in Schleierm.’s, de Wette’s u. Lücke’s theol. Ztschr. 1819 u. 1820).
Friedlieb, Die sibyllin. Weissagungen etc. Lpz. 1852.
Gfrörer, Philo II, S. 121 ff.
Ludwich, „Zu den sibyll. Orakeln“, in d. Jahrbb. für klass. Philol. 1878, S. 240 ff.
Maaß, De Sibyllarum indicibus. Greifsw. 1879.
Meineke, „Zu den sibyll. BB.“, im Philologus 1869, S. 577 ff.
Mendelssohn, Zu den oracula Sibyllina, ibid. 1890, S. 240 ff.
Nauck, Kritische Bemerkungen, in den Berichten der Petersburger Akademie, Bd. II-IV (1859-80).
Struve, Fragmenta librorum Sibyllinorum quae apud Lactantium reperiuntur. Regiom. 1817.
Volkmann, De oraculis Sibyllinis Lips. 1853. Lectiones Sibyllinae. Pyritz 1861.
Prooemium
(citiert bei Theophilus ad Autolyeum II, 36).
1 O ihr sterblichen und fleischernen Menschen, die ihr nichts seid, 2 wie erhebt ihr euch so schnell, indem ihr das Ende eures Lebens nicht anseht? 3 Nicht zittert ihr vor Gott, nicht fürchtet ihr ihn, euren Aufseher, 4 den Höchsten, den Erkennenden, den Allsehenden, den Zeugen für alle(s), 5 den allnährenden Schöpfer, welcher den süßen Lebenshauch in alles 6 gelegt und ’den Menschen‘1 zum Führer über alles gemacht hat. 7 Ein Gott [ist], der allein herrscht, übergroß, ungeworden, 8allmächtig, unsichtbar, selbst allein alles sehend, 9 während er selbst nicht gesehen wird von allem sterblichen Fleische; 10 denn welches Fleisch kann den himmlischen und wahren, 11 unsterblichen Gott mit seinen Augen sehen, ihn, der das Himmelsgewölbe bewohnt? 12 Vielmehr nicht einmal entgegen den Strahlen der Sonne 13 vermögen die Menschen zu stehen, die sterblich geborenen 14 Männer, die da ..... 2 Adern und Fleisch sind. 15 Ihn selbst, den allein Seienden, verehrt, den Lenker der Welt, 16 der allein in Ewigkeit und von Ewigkeit ist, 17 in sich selbst seinen Ursprung habend, ungeworden, alles beherrschend durch alle Zeit, 18 allen Sterblichen die Urteilskraft ’gebend‘3 im gemeinsamen Lichte. 19 Aber ihr werdet so für eure Thorheit den würdigen Lohn empfangen, 20 weil ihr es aufgegeben habt, den wahren und ewigen Gott 21 zu preisen und ihm heilige Opfer zu bringen, 22 und [dafür] den Dämonen, die in der Unterwelt [wohnen]4, eure Opfer veranstaltet habt. 23 In Verblendung und Wahnsinn wandelt ihr, und den rechten, geraden Weg 24 aufgebend seid ihr hingegangen auf dem, der durch Dornen 25 und spitzes Gestrüpp führt5. Was irrt ihr Sterblichen? Hört auf, ihr Thoren, 26 umherzuschweifen im Dunkel und in finsterer, schwarzer Nacht. 27 Verlaßt das Dunkel der Nacht, dem Lichte strebt zu! 28 Seht, er ist für alle deutlich, nie irrend vorhanden; so 29 kommt, sucht nicht stets das Dunkel und die Finsternis! 30 Seht, der Sonne süßblickendes Licht leuchtet herrlich. 31 Erkennt es, indem ihr Weisheit in eurer Brust einkehren laßt, 32 [daß] ein Gott ist, der da Regen, Winde und Erdbeben schickt 33 und Blitze, Hungersnöte, Pestilenzen und traurige Regen 34 und Schneegestöber [und] Eis. Was zähle ich es einzeln auf? 35 Den Himmel lenkt er, der Erde Herrschaft ist er selbst6.
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(Theophilus ebend.)
39 Wenn aber das Gewordene überhaupt auch wieder zu Grunde geht, so kann nicht 40 aus den Schenkeln des Mannes und dem Mutterschoß ein Gott gebildet sein, 41 sondern [es ist] nur ein Gott, der Alleroberste, der 42 den Himmel und die Sonne und die Sterne und den Mond gemacht hat, 43 dazu die fruchttragende Erde und die Wasserwogen des Meers 44 und die hohen Berge und die immerrinnenden Fluten der Quellen; 45 wiederum von den Wassertieren das zahllose, massenhafte ’Geschlecht‘7, 46 dazu das auf der Erde sich regende ’und vom Kalten sich nährende‘8 Gewürm 47 und der ’Vögel‘9 bunte, hellstimmige, zwitschernde, 48 braune [Arten], hell mit dem Gefieder schwirrend, die Luft aufregend mit ihren Flügeln. 49 In die Waldschluchten der Berge aber setzte er das wilde Geschlecht der Tiere 50 und uns, den Menschen, so ordnete er alles Vieh unter; 51 über alles setzte er einen gottgeschaffenen Regierer 52 und ordnete dem Manne das unendlich Mannigfaltige ’und nicht‘10 zu Erfassende unter. 53 Denn welches Fleisch der Sterblichen kann dies alles erkennen? 54 Vielmehr er selbst weiß es allein, der von Anfang dies geschaffen, 55 der unvergängliche, ewige Schöpfer, im Himmel wohnend, 56 er, der den Guten viel größeren guten Lohn darbringt, 57 den Bösen aber und den Ungerechten Groll und Zorn erregt, 58 mit Krieg und Pestilenz, und thränenreiche Schmerzen. 59 Ihr Menschen, was entwurzelt ihr euch, indem ihr euch eitel erhebt? 60 Schämt euch, daß ihr so ’Katzen‘11 und Untiere vergöttert! 61 ’Nimmt‘12 nicht Wahnsinn und Raserei des Geistes auch den ’Verstand‘13 des Geistes? 62 ’Oder‘14 naschen [etwa] Götter von Tellern und lecken Töpfe aus? 63 Statt das goldene Himmelsgewölbe ’und die fette Erde‘15 64 sieht er [der Gott] Mottenfräßiges und ist mit dichtem Spinnengewebe übersponnen. 65 Schlangen, Hunde und Katzen betet ihr an, ihr Thoren, 66 und verehrt Vögel und kriechende Tiere der Erde, 67 dazu steinerne Bilder und von Händen gemachte Bildnisse 68 und Steinhaufen an den Straßen16; das verehrt ihr 69 und vieles andere Eitle, was auch schändlich ist zu sagen. 70 ’Solche‘ Götter sind ’Schädiger‘17 der thörichten Menschenkinder; 71 aus ihrem Munde schon ’fließt‘18 todbringendes Gift. 72 Ihm aber, bei dem das Leben ist und unvergängliches ewiges Licht, 73 und der Freude für die Menschen, süßer als Honig, 74 hervorströmen läßt, dem allein beuge den Nacken, 75 und ’er wird‘19 einen Pfad in frommen Ewigkeiten erschließen (?). 76 Das alles habt ihr gelassen und habt den vollen Kelch der Rache, 77 ganz lauter, mächtig, beschwert, ’gehörig ungemischt‘20, 78 allesamt in Thorheit [und] in rasendem Sinne geschlürft 79 und wollt nicht nüchtern werden und zu besonnener Vernunft kommen 80 und den König Gott erkennen, den Aufseher über alles. 81 Darum kommt der Glanz brennenden Feuers gegen euch heran; 82