Gefangen im Gezeitenstrom. Robert S. Bolli
Der Pfarrer beginnt mit einem Gebet. Anschließend drückt er einen am Metallgestänge angebrachten Knopf, der den Mechanismus zum Absenken des Sarges auslöst. Während dieser lautlos in der Grube verschwindet, spricht der Geistliche ein paar einfühlsame Worte des Trostes. Eine Frau, deren Gesicht hinter einem schwarzen Schleier verborgen ist, schluchzt auf. Ihr Begleiter legt seinen Arm um ihre Taille, zieht die Frau enger an sich heran, sodass sie ihren Kopf an seine Brust schmiegen kann. Der Pfarrer spricht einen Segen und die Anwesenden treten heran und streuen mit einer kleinen Handschaufel bereitliegendes Erdreich auf den makellosen Sargdeckel. Dazu singt der Wind, der durch die kahlen Äste weht, sein Klagelied.
Unweit, ganz im Hintergrund, kaum wahrnehmbar zwischen den Bäumen stehend, beobachte ich die Zeremonie. Ich stecke in meiner dicken, fellgefütterten Pilotenjacke aus braunem Büffelleder und mit den Füßen in einem Paar jener braunen, halbhohen Lederstiefel, wie sie oftmals von Bauarbeitern getragen werden. Die gelbe Banderole um den Stiefelschaft herum mit der schwarzen Aufschrift CATERPILLAR ist jedenfalls deutlich zu sehen. Die Klamotten habe ich mir mit meinem ersten Lehrlingsgehalt an der Baumaschinenmesse in Basel beziehungsweise im Armyshop erworben und ich war mächtig stolz darauf.
Ich friere erbärmlich, trotz der dicken Jacke, und ziehe den Pelzkragen etwas höher. Anschließend vergrabe ich die Hände wieder in den Armstulpen. Eine Kopfbedeckung trage ich nicht. Ich habe sie einfach vergessen oder vielmehr – zu Hause habe ich nicht mit solch kalten Böen gerechnet. Nun aber lässt die kräftige Bise meine dunklen Haare in wirren Strähnen herumflattern.
Als ich zusehen muss, wie die Kiste im Erdloch verschwindet, verkrampft sich augenblicklich mein Herz und meine in der Jacke verborgenen Hände ballen sich zu Fäusten. Ich lehne mich mit dem Rücken an den dicken Stamm einer Buche. Sonst wäre ich in meinem Schmerz vielleicht zusammengebrochen. Ich schließe die Augen und ziehe die kalte Luft tief in die Lunge. Wie Rasierklingen schneidet die Kälte in mein Fleisch. Mein warmer Atem bildet vor dem Mund dicke weiße Wolken, die vom Wind sogleich wieder fortgetragen werden, genauso wie die Hoffnungen zerstreut werden, dass alles wieder gut wird.
Vielleicht ist es auch die scharfe Bise, die meine gereizten Augen zum Tränen bringt. Aber wenn ich – im Nachhinein – ehrlich bin, so muss ich zugeben, dass sich in den Winkeln meiner geschlossenen Augen schwere, bittere Tränen der Trauer sammeln, die nun auf meinen Wangen silberne Rinnsale bilden. Ich wische sie mit den Händen weg, die ich wiederum an den Hosenbeinen trockne. Ich schlage die Augen auf und blicke zum Grab, das nun von der Trauerfamilie verlassen daliegt. Dann verlasse auch ich die Deckung hinter den Bäumen. Ich trete vorsichtig heran und werfe einen Blick auf die Kiste. Die roten Rosen sind nach wie vor unversehrt, aber schon bald werden die Gärtner kommen, das Gestell demontieren, die Grube mit dem lehmigen Erdreich füllen, das für diese Gegend typisch ist, und darüber mit feinerem, humosem Material einen kleinen Hügel formen. Danach ist für sie die Aufgabe vorerst einmal erledigt. Ein Menschenleben ist zu Ende. Die letzten Überreste beseitigt. Game over!
Mit zögernden Schritten verlasse ich die Grabstätte. Kies knirscht unter meinen Füßen, während ich darüber nachdenke, was es braucht, um einen Menschen auszulöschen. Ich meine, nicht einfach einen Mund zum Schweigen, ein Herz zum Stillstand zu bringen, etwas Lebendiges zu töten – nein, ich meine, alles zu vernichten, was irgendwie an die Existenz eines Menschen, an ein Dasein auf Erden erinnert. Ein kalter Schauer läuft über meinen Rücken. Es muss trostlos sein, wenn man so gehen muss. Wenn man nicht die geringste Spur hinterlässt. Und doch, ist es nicht die Mehrheit aller Menschen, die dieses Schicksal miteinander teilt? Stirbt nicht gerade in diesem Moment irgendwo ein Obdachloser, der nichts anderes hinterlässt als eine versiffte Wolldecke und eine leere Schnapsflasche? Was bleibt mehr übrig, wenn ein Kind einen sinnlosen Hungertod stirbt, als bedrückende Erinnerungen an ein Schicksal, das niemals Glück erfahren durfte? Gibt es denn einen sinnvollen Tod? Oder sollte ich vielleicht die Frage anders stellen: Gibt es auch sinnloses Leben? Worin liegt der Sinn, wenn letztendlich alles Lebendige wieder zu Staub zerfällt? Existiert in uns wirklich etwas, das für die Ewigkeit bestimmt ist, etwas, das wir Seele nennen? Wenn ja, kann diese Seele wachsen und sich weiterentwickeln, indem sie einen sterbenden Körper verlässt und sich in einem neugeborenen einnistet? Wenn ja, wozu dieser Aufwand? Kann es sein, dass eine Seele Macht auf ihren Träger ausübt und ihn so beeinflusst, dass daraus ein sogenannter Gutmensch oder eben ein Kotzbrocken wird? Ich denke – und ein Blick in die TV-Nachrichten genügt mir als Bestätigung –, wenn es wirklich so wäre, dann hat die Menschheit einen gigantischen Nachholbedarf. Nach wie vor fällt es mir schwer, an einen Siegeszug des Guten über das Böse zu glauben. Auch glaube ich weder an Götter noch an Reinkarnation, Seelenwanderungen und dergleichen. Das sind doch alles utopische Fantasien, Wunschvorstellungen von einem immerwährenden Paradies, von Philosophen und anderen weltfremden und lebensuntauglichen Spinnern erdacht, ihr eigenes Weltbild einer breiteren Masse zugänglich zu machen. Gerade in Glaubensfragen klaffen zwischen Wunsch und Wirklichkeit riesige Lücken. Ich finde sowieso, dass die Leute weniger beten, dafür mehr Eigenverantwortung übernehmen sollten. Aber Menschen sind eben Menschen, weil sie neugierig sind und Fragen stellen. Auch solche, die man nie gänzlich beantworten können wird. Zum Beispiel Fragen zu unserer Herkunft oder zu unserem Schicksal in ferner Zukunft. Im Extremfall gründen sie Religionen, erklären alles Unerklärbare mit Gott und schon sind sie zufriedengestellt. Dann haben sie jemanden, dem sie danken können, wenn es ihnen gut geht, oder es ist einer da, den sie für alles Negative zur Verantwortung ziehen können. Wie dem auch sei, für mich macht es keinen Unterschied. Der finale Showdown fällt für alle gleich aus. Mit nur einer kleinen Nuance: Die Asche des krepierten Obdachlosen wird dem anonymen Gemeinschaftsgrab beigegeben, der Soldat, der in einem schwarzen Plastiksack aus Afghanistan zurückkehrt, bekommt ein Einzelgrab mit Stein und Inschrift.
Gewiss, Opferbereitschaft und Heldentum ebnen den Weg für einen Eintrag in die Geschichtsbücher. Was aber geschieht mit der großen Masse derer, die zeitlebens nie eine Auszeichnung, eine Medaille erhalten haben? Zum Beispiel jene Menschen also, die mehr oder weniger zufällig da sind, weil zwei sich gepaart und dabei, unter Ausschluss der üblichen Ambitionen für Karriere und Familienplanung, ein Kind gezeugt haben. Zugegeben, auch ich gehöre der Sparte Zufallsprodukte an. Kollateralschaden im Blitzkrieg zweier Zufallsbekanntschaften. Mit sieben Jahren habe ich meine Mutter gefragt, warum sie nie Geschwister für mich haben wollte. Sie antwortete: „Weil ich nicht mehr konnte.“ Ich ahnte schon damals, dass sie gelogen hat. Denn sie hätte sehr wohl noch gekonnt. Aber sie wollte nicht mehr. Die Last einer weiteren Mutterschaft wollte sie sich nicht noch einmal aufbürden. Niemals wieder die Strapazen einer Geburt, und schon gar nicht, wenn diesem Ereignis ein Akt vorausginge, der, ohne die eigene Fantasie übermäßig beanspruchen zu müssen, irgendwo zwischen Pflichterfüllung und Vergewaltigung einzuordnen wäre. Aber auch nie mehr die Erfahrung dieses geheimnisvollen Glücksgefühls, das mit jedem vollbrachten Schöpfungsakt einhergeht.
Ich versuche mir einzureden, dass alles Werden und Vergehen seine Richtigkeit hat. Dass alles irgendwie vorbestimmt ist und sich alles letztlich zum Guten wenden wird. Dann wieder überlege ich mir, ob ich gelegentlich meinen so sehr gehassten Erzeuger aufsuchen und ihm eine Bleispritze ins Hirn verpassen soll. Für all das, was er meiner Mutter und letztlich auch mir angetan hat in der kurzen Zeitspanne, in der sie zusammen waren, jenem Lebensabschnitt also, dem ein lauer Windhauch dessen voranging, das sie einst Liebe nannten, und in dem er ihre Hoffnungen auf ein bisschen Glück im Leben wie Kakerlaken auf der Straße zertreten hat.
Im Geäst einer riesigen Steineiche zankt sich eine Schar Krähen um Beute. Vielleicht hat einer der Vögel eine Maus erwischt, die sich zu leichtsinnig aus ihrem Erdloch hervorgewagt hat. Intuitiv beschleunige ich meinen Schritt und strebe dem Ausgang zu …
2
Draußen regnet es in Strömen – schon seit Tagen. Es ist Mitte Dezember. Ein kalter Wind fegt durch die verwaisten Straßen. Durch das Fenster sehe ich die kahlen Baumkronen sich in den Böen wiegen. Nasses dunkelbraunes Laub klebt auf den Gehsteigen. Die wenigen Menschen, die über die Straße eilen, ziehen die Kragen hoch und die Kapuzen noch weiter ins Gesicht. Sie schimpfen lauthals über dieses miserable Sauwetter. Warum auch nicht. Dazu ist das Wetter schließlich da. Sie