Die Heilkraft der Gefühle. Michael Weger
ausreichend Freude –
das ist die Formel für Ihr Wohlergehen.
Die Kunst, zu fühlen, ist die Kunst, glücklich, gesund und lange zu leben.
Möge Ihnen die Übung gelingen und Ihr Herz offen, leicht und fröhlich machen.
Von Herzen
Michael Weger
Anmerkung: Um den Lesefluss zu erleichtern, sind manche Begriffe nicht gegendert. Ich bitte Sie, das zu verzeihen. Sämtliche Angaben treffen natürlich auf alle Geschlechter zu.
„Angst ist die existenzielle Grundbefindlichkeit jedes Menschseins.
Wenn der Einzelne vor der Wahrheit seiner Ohnmacht und seines Todes nicht länger in Scheinwelten flieht und die Augen verschließt, kann er zum Kern seines Wesens vordringen.
Jenseits der Verzweiflung verbindet uns alle die Wahrhaftigkeit unserer Gefühle und die darin liegende Kraft liebevoller Solidarität.“
Dr. Otto Teischel,
Psychotherapeut und Psychoanalytiker
Teil 1 Eine neue Gefühlswelt
Die kränkenden Gefühlsmuster der Gegenwart
Die gesunden Gefühle, mit denen wir geboren werden
In den ersten Lebensmonaten ist der Mensch körperlich und motorisch noch sehr eingeschränkt. Menschenkinder funktionieren in dieser Zeit vor allem als Emotionskörper. Säuglinge und Babys verbringen ihre Zeit mit Schlafen und der Aufnahme von Nahrung, mit dem Verarbeiten von Sinneseindrücken und Gefühlserlebnissen, mit spielerischen Momenten und dem Dasein im Augenblick.
Sie entdecken das Leben fühlend. Sie erfühlen und erspüren die Welt und ihre Nächsten durch körperliche Nähe, durch den Klang fürsorglicher Stimmen, die Lautmalerei einer Sprache und eine natürlich angelegte Form der Empathie, des Mitfühlens.
Kleinkinder fühlen automatisch intensiv mit. Wenn die Freude der Eltern groß ist, freut sich auch das Kind. Wenn Angst herrscht, überträgt sich diese ebenso unmittelbar. Das Nachdenken über die Welt ist noch fern und auch die eigene Sprache kommt erst mit den Jahren.
Vor allem anderen also fühlen wir zu Beginn unseres Lebens und wir verfügen von Geburt an über die völlig gesunde und richtige Art, mit Gefühlen umzugehen: Wir zeigen sie sofort. Kein Gedanke, keine gesellschaftlichen Regeln und keine körperliche Hemmung blockieren den natürlichen Ausdruck der Gefühle.
Ganz zu Anfang, in den ersten Monaten nach der Geburt, gibt es nur zwei wesentliche emotionale Zustände, nämlich „Ich bin zufrieden“ oder „Ich bin unzufrieden“. Entweder ist die Welt in Ordnung (ich bin satt, habe es behaglich und bin beschützt …) – oder nicht (etwas tut weh, ist kalt, bedrohlich und macht mir Angst …). Die Angst ist die erste Emotion, die wir als eigenständige, von der Mutter entbundene Wesen empfinden.
Elementare körperliche Emotionen sind ebenso schon aktiv: Hunger, Durst, Schmerz oder Ekel. Schon nach wenigen Monaten nehmen die Gefühle dann weitere Formen an: Freude bis Euphorie oder Schmerz und Zorn. So wie sich unsere Bewegungsfähigkeit steigert, wachsen auch die Gefühle – bis hin zu einem fein verästelten Gefühlsbaum mit einer Vielzahl von Regungen.
Gefühle und Bewegung sind stark miteinander verknüpft. Eine Freude ist für ein kleines Kind nur dann wirklich groß und mitreißend, wenn es laut lacht, jubelnd seine Stimme erhebt, die Arme wild hochreißt und ausgelassen herumtollt. Gibt es hingegen Leid, kullern augenblicklich Tränen, weint das Kind bitterlich und schreit laut aus sich heraus, der ganze Körper krümmt sich im Schmerz. Das Bedürfnis nach Nähe, nach Gehalten- und Getragen-Werden setzt sofort ein und das Kind sucht den Schutz seiner Eltern.
Zorn ist bei Kleinkindern ebenso heftig, geht durch den ganzen Körper, wird mit tobenden Gesten ausgedrückt – aber nur, solange er erlaubt ist und nicht vom allzu oft mächtigeren Zorn der Eltern übertönt oder bestraft und dadurch vielleicht viel zu früh ausgetrieben wird.
Der Gefühlsbaum wächst mit den Monaten. Die Äste der Trauer, des Neids, der Eifersucht, der Scham entstehen. Gefühle von Liebe, Zugehörigkeit und Lust werden wach, Glück nimmt seine Form an und auch das Machtgefühl keimt. Doch die Entwicklung dieses Baumes und seiner späteren Früchte ist abhängig davon, was dem Kind während seiner ersten Lebensjahre zu welchem Zeitpunkt und in welcher Situation widerfährt.
Welches Verhalten ist wann erlaubt oder verpönt? Wann darf ein Gefühl frei ausgedrückt, wann muss es bereits sehr früh unterdrückt werden?
Auch genetische Faktoren sind bestimmend. Statur und Aussehen haben ihre Rückwirkung auf das Selbstgefühl, motorische Fähigkeiten spielen eine Rolle und ebenso kognitive Anlagen.
Ganz entscheidend ist dabei: Welche Gefühle werden in einer Familie gepflegt? Welche stehen wie oft „auf der Tagesordnung“? Welche dürfen wie intensiv und wann ausgedrückt und dadurch täglich eingeübt und biochemisch programmiert werden? Haben Gefühle überhaupt einen positiven Stellenwert oder werden sie meist nur als negativ, störend, aufdringlich oder fordernd empfunden?
Fest steht: Wer erwachsen ist, lacht, jubelt und singt nicht mehr laut aus sich heraus, wenn ihm danach ist. Die meisten Erwachsenen erheben auch nicht ihre Stimme, wenn sie zornig sind, schämen sich aber zumeist für ihre Tränen. Sie verbergen ihr Zittern, wenn sie sich fürchten. Sie sprechen nicht über ihre Ängste oder ihre Trauer. Ihre Körper bewegen sich zwar lange Zeit tadellos – aber zumeist monoton und „leblos“. Nahezu jeder Gefühlsausdruck geschieht kontrolliert oder wird verborgen.
Warum ist das so? Wer hat uns den Ausdruck der Gefühle verboten? Wer hat es den Generationen vor uns verwehrt? Vielleicht ist es geschehen, weil Menschen mit starken Gefühlen auch starke Persönlichkeiten entwickeln und selbstbestimmter handeln – und sich dadurch schwerer kontrollieren lassen? Oder weil Eltern häufig zu große Ängste um ihre Kinder haben bzw. fürchten, die Kinder könnten ihrem Einfluss entgleiten? Weil viele Führungskräfte Angst vor den wahren Gefühlen ihrer Mitarbeiter haben? Weil wir in einer Gesellschaft leben, die der individuellen Wahrheit wenig Raum lässt? Weil wir nie gelernt haben, unsere Gefühle zu verstehen, mit ihnen angemessen umzugehen und sie zu kontrollieren oder für unser Wohlergehen zu nutzen?
Es geht in diesem Buch nicht darum, die Kulturgeschichte der Emotionen zu beschreiben. Es drängt sich aber auf, die Hintergründe ein wenig zu beleuchten. Denn: Die Früchte des mächtigen Gefühlsbaumes, der sich in und mit uns entfalten wollte, verdorren in der Leistungs- und Konsumgesellschaft der sogenannten ersten Welt mehr und mehr.
Gefühle sind im Allgemeinen verpönt, werden unterdrückt, zurückgehalten und dürfen nicht nach außen dringen. Das jedoch widerspricht ganz und gar ihrer natürlichen Anlage und führt schrittweise zu Depression, Burnout und Demenz einer ganzen Gesellschaft.
Das Gefühlstabu in Schule und Beruf
Spätestens mit dem Beginn des Schulalltags, wenn wir etwa sechs Jahre alt sind, werden Gefühle von einem Tag auf den anderen für mindestens vier Stunden täglich gebremst. Es darf seltener gelacht und so gut wie nicht mehr geweint werden, Schmerzen oder Nervosität werden kaum beachtet, das Erlernen und die Wiedergabe von faktischem Wissen stehen im Vordergrund.
Mit dem Benotungssystem der gängigen Schulformen beginnen wir auch, uns selbst zu beurteilen und zu bewerten: Durch das Beurteilt-Werden treten wir in die Zeit des Beurteilens und Wertens ein. Schritt für Schritt agieren wir nicht mehr aus Freude oder Eigenantrieb, sondern aus Angst vor schlechter Leistung und aus vermindertem Selbstwertgefühl.
Welche Lebensinhalte aber haben tatsächlich Bedeutung? Welche schulischen Leistungen werden