Mission Zauberwald. Eva Gerth
„Nein, das glaube ich nicht, es ist nämlich so, wenn Menschenkinder sich hierher verirren, bleibt außerhalb des Waldes die Zeit für sie stehen. Also, wenn du wieder nach Hause kommst, ist es dort genauso spät wie vorher, bevor du unseren Wald betreten hast. So habe ich es jedenfalls gehört“, berichtet der Stein in einem sehr weisen Tonfall.
„Unglaublich, so etwas gibt es doch gar nicht, oder vielleicht doch? Das sagst du doch nur, damit ich mir keine Sorgen mache und noch etwas länger hier bei dir im Wald bleibe.“
„Nein, ich habe es auf jeden Fall so gehört, du kannst mir ruhig glauben, sonst kannst du auch gerne noch die Eidechse fragen, vielleicht glaubst du ihr mehr“, entgegnet Glitzy traurig.
„So habe ich es nicht gemeint, sei doch bitte nicht traurig. Es ist für mich eben unvorstellbar, dass es so etwas überhaupt gibt. Lass uns nicht streiten, es tut mir leid, okay?“
„Ja.“
„Dann lass uns die Eidechse suchen. Weißt du denn, wo sie lebt?“, will Amanda wissen.
„Nun, so genau auch wieder nicht. Aber ich habe einen Freund, der weit herumkommt. Der weiß das bestimmt.“
„Und wer ist dein Freund?“
„Mein Freund heißt Bino und ist ein kleiner Buschfink. Leider ist er immer etwas schwierig zu finden“, meint Glitzy ganz verlegen.
„Was glaubst du denn, wo er sich jetzt gerade aufhält?“, fragt Amanda in der Hoffnung, dass Glitzy weiß, wo er heute ist.
„Leider weiß ich das nicht. Er hat aber ein Supergehör. Wenn du eine schöne Melodie singen oder trällern kannst, hört er uns vielleicht und kommt zu uns geflogen.“
„Was soll ich denn trällern oder singen?“
„Irgendein schönes Lied, welches Bino noch nicht kennt.“
„Okay, dann lass mich mal überlegen. Vielleicht ein schönes Menschenlied, das kennt er bestimmt noch nicht.“
Amanda grübelt und grübelt, aber so richtig will ihr kein schönes Lied einfallen. ‚Ich bin doch nicht Mozart‘, denkt sie sich und verzweifelt zusehends. ‚Was, wenn mir kein Lied einfällt, Bino nicht kommt und wir die Eidechse nicht finden? Vielleicht komme ich dann niemals mehr nach Hause‘, denkt Amanda verzweifelt. ‚Nicht so kompliziert denken, es wird sich schon finden, sagt Mama doch immer, wenn ich nicht weiterweiß.‘
„Wie gerne wäre ich jetzt wieder zu Hause in meinem Wald. Dann hätte ich die Tasche voller Löwenzahn und könnte einfach so nach Hause gehen. Aber nein, ich spreche mit einem Stein und soll eine Eidechse nach dem Heimweg fragen. Das kann doch nur ein Traum sein!“ Doch auf einmal hat sie ein Lied im Kopf und beginnt auch gleich laut zu singen: „Kleiner, bunter Schmetterling, flieg nur übers Feld geschwind. Wiege dich sacht im Frühlingswind, lass dich nur nicht fangen, lass dich nur nicht fangen.“
„Das ist aber ein schönes Lied“, sagt Glitzy und glitzert noch kräftiger als zuvor.
„Ja, das finde ich auch. Das Lied haben wir in der Schule gelernt“, erwidert Amanda und lächelt zurück. „Na, und wo bleibt jetzt dein Freund?“
Schon können sie ein Zirpen und ein leichtes Flattern aus der Ferne immer näher kommend hören.
„Wer hat denn das schöne melodische Lied gesungen? So etwas Schönes habe ich ja schon lange nicht mehr in unserem Wald gehört“, tönt ein leises Stimmchen. Ein kleiner Vogel landet auf einem der Äste im Gebüsch.
‚Ja‘, denkt Amanda, ‚der sieht wie ein Buschfink aus. Und er tänzelt genauso aufgeregt auf der Stelle.‘
„Das hat Amanda für dich gesungen, damit du zu uns kommst“, erklärt Glitzy Bino.
„Hallo, ich bin Bino, der Buschfink“, stellt sich der Vogel mit einer leichten Verneigung vor, wie es in Adelskreisen so üblich ist.
Auch Amanda verneigt sich ungeübt. „Ich heiße Amanda aus Reckenfeld. Glitzy meint, du kannst mir sagen, wie ich wieder nach Hause komme.“
„Wer ist Glitzy?“ Der Buschfink hüpft einmal im Kreis und schaut Amanda fragend an.
„Na, ich halt. Sie hat mir meinen Namen gegeben“, strahlt Glitzy.
„Oh, dann bist du ein Menschenkind?“ Der Buschfink begutachtet Amanda eindringlich.
„Ja, aber was hat das mit dem Weg nach Hause zu tun?“
„Eigentlich gar nichts. Aber um unseren Wald retten zu können, brauchen die Waldbewohner ein Menschenkind.“ Bino hüpft ganz aufgeregt auf seinem Ast auf und ab. „Frag mich bitte nicht, wie das klappen kann. Das kann dir eigentlich nur das weiße Nashorn sagen.“
„Aber ich möchte gar nicht zum weißen Nashorn, sondern zur Eidechse. Sie soll mir sagen können, wie ich wieder nach Hause komme“, erklärt Amanda aufgelöst dem Buschfink.
„Also willst du uns nicht von den bösen Onkas befreien?“, fragt der kleine Bino traurig und fängt an zu schluchzen.
„Sie will doch nur nach Hause, was hat das mit den bösen Onkas zu tun?“, meldet sich nun Glitzy zu Wort.
„Das ist eine etwas längere Geschichte, aber wenn du uns nicht helfen willst, auch gut. Irgendwann kommt bestimmt das richtige Kind, um uns zu befreien.“ Trotzig hebt Bino sein kleines Vogelköpfchen und schaut Amanda in die Augen. „Nichtsdestotrotz helfe ich dir, die Eidechse Susan zu finden, weil du für mich gesungen hast. Das hat schon sehr lange niemand mehr getan“, resigniert der Vogel. „Ich weiß nicht genau, wo die Eidechse wohnt, aber ich kenne den pinkfarbenen Steinpilz, der weiß es gewiss. Ich habe gehört, dass Susan des Öfteren zum Steinpilz geht, um sich mit ihm zu unterhalten, die beiden verstehen sich prima. Darum sollten wir zuerst einmal zum Pilz gehen beziehungsweise fliegen. Okidoki?“
„Okidoki!“, rufen Glitzy und Amanda wie aus einem Mund.
„Nicht so laut, habt ihr denn nicht die Onkas hier herumspionieren gesehen?“
„Doch, doch, aber die sind schon wieder weg. Ich habe Amanda mit einem Geruchszauber beschützt.“
„Super, na, dann mal los.“
Und so machen sich die drei unterschiedlichen Gefährten auf den Weg, um den pinkfarbenen Steinpilz zu suchen.
Edwin
Am Stadtrand von Münster, zirka dreißig Kilometer von Reckenfeld entfernt, steht ein alter Kotten mit einem Haupthaus und zwei Ställen, die von einer großen Wiese umrandet werden. Die Wiese wiederum grenzt von zwei Seiten an einen alten Wald. Bei näherer Betrachtung fällt auf, dass das Haus und die Ställe nur an den Vorderseiten neu weiß gestrichen wurden. Die Wände nach hinten raus sind stark verschmutzt. Die Besitzer des Kotten haben wohl noch keine Zeit oder kein Geld aufgebracht, um die Gebäude vollends zu erneuern.
Hier lebt seit vier Jahren das Ehepaar Hasenstolz mit dem elfjährigen Sohn Edwin, das sich damit einen langen Traum erfüllt hat. Edwin fühlt sich hier pudelwohl, da er nach der Schule und seinen Hausaufgaben immer schnell im Wald sein kann. Er ist begeistert von der Natur und versucht, so viel Zeit wie möglich im Wald oder auf der Wiese zu verbringen. Edwin trägt am liebsten seine ausgewaschene Jeans mit dem grünen T-Shirt, das inzwischen auch schon ziemlich verwaschen aussieht. Er aber findet, dass es am besten zu seinen glatten, braunen Haaren passt. Edwins Mutter möchte ihn ständig zum Friseur schicken, um eine anständige Frisur aus seinen Haaren machen zu lassen. Da spielt Edwin aber nicht mit. Seine Haare sind jetzt fast schon wieder kinnlang, aber seiner Meinung nach könnten sie noch etwas länger werden.
Edwin kann den ganzen Tag damit verbringen, die Tiere und Pflanzen mithilfe seines Bestimmungsbuches, das er zu seinem letzten Geburtstag von seinen Eltern geschenkt bekommen hat, zu bestimmen. Er hat sich zum Ziel gesetzt, alle Tiere und Pflanzen im Wald und auf der Wiese zu kennen.
Auch heute hat er sein Mittagessen heruntergeschlungen