Das Abenteuer meiner Jugend. Gerhart Hauptmann
Protesten hin, bei denen er vor den rüdesten Bauernknechten nicht zurückschreckte.
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Es mochte im Jahre 68 sein, als auf einmal Georg Schubert, der Sohn meiner Tante Julie und des Oberamtmanns Schubert, in meinem Bewusstsein vorhanden war. Man erfuhr und besprach jede Kleinigkeit aus dem Entwicklungsgange des damals Dreijährigen. Die Gespräche der gesamten Verwandtschaft kreisten um ihn, der, in einer kinderlosen Ehe sehnlichst erwartet, endlich erschienen war.
Aus der Ehe des Brunneninspektors Straehler waren sieben Kinder, vier Töchter und drei Söhne, hervorgegangen. Unter den Töchtern war meine Mutter die Zweitälteste, Tante Julie das zweitjüngste Kind. Ich muss heute sagen, sie hatte mit ihren Geschwistern wenig Ähnlichkeit.
Sie war außergewöhnlich begabt als Schauspielerin, Pianistin und Sängerin, Fähigkeiten, die sie beruflich nie ausübte. Nachdem sich eine Verbindung mit einem jungen Kavalier angebahnt und zerschlagen hatte, gab sie auch auf Drängen der Eltern der Werbung des Oberamtmanns Gehör, eines äußerst gediegenen Mannes, der aber sonst, Sohn eines Schullehrers, nicht grad ein glanzvolles Äußeres aufweisen konnte.
Tante Julie machte bald auf dem Rittergut Lohnig, das Schubert gepachtet hatte, ein großes Haus. Sie umgab sich mit den besten Elementen des schlesischen Landadels und der Geistlichkeit. Die von ihr auf dem Grunde einer Resignation aufgebaute Ehe konnte kaum glücklich genannt werden, bevor der Sohn geboren war, und die junge, mit gesellschaftlichen Talenten, durch Kunst und Geist ausgestattete Frau hat wohl in der Pflege ihrer Gaben Ersatz gesucht.
Nun aber hatte sich in Gestalt des kleinen Georg der Segen Gottes, das Glück in seiner höchsten Fülle auf die Schuberts, zur unendlichen Freude des Großvaters Straehler und seiner Kinder, herniedergesenkt.
Die glückliche Mutter, Tante Julchen, kam gelegentlich mit Georg zu Besuch in den Dachrödenshof und tat dann auch mit ihm die zwei Schritte bis zum Gasthof zur Preußischen Krone. Der Kleine war wirklich ein Wunderkind. Vierjährig löste er mathematische Aufgaben. Bruder Carl, der, zehn- oder elfjährig, schon eine gewisse Frühreife zeigte, prüfte ihn und lobte ihn so, dass ich im Stillen an mir selbst und meinen Anlagen verzweifelte.
Der Liebling aller war aber in der Tat ein liebenswertes und herzensgutes Kind. Alle Welt beeiferte sich, an Wünschen zu erfüllen, was man ihm nur an den Augen absehen konnte. Um auf das Dach zu den Tauben zu steigen, war er noch zu klein, und man hätte ihn auch im späteren Alter einer solchen Gefahr unter keinen Umständen ausgesetzt. Von den Fenstern gewisser Zimmer der Krone, ja schon von den Fensterbrettern wurde er aus Furcht, er könne abstürzen, ferngehalten. Carl zeigte dem Kleinen seine Lachtauben, seine milchweißen Pfauentauben, die äußerst zahm waren, zeigte ihm Stahlstiche aus des Vaters Bücherschrank, alles, um sich an der Art seines Eingehens zu entzücken. Im Alter stand er Carl ferner als ich, weshalb er sich auf eine ungezwungenere Art und Weise mir anschließen konnte.
Mein Großvater hatte auch den Warschauer Hof, einen zum Bade gehörigen Gutsbetrieb, unter sich. In weiten Stallungen wurden hier, wegen der Eselinnenmilch zu Kurzwecken, Esel gehalten. Man hatte allmorgendlich Gelegenheit, sich an der Herde schöner Tiere zu erfreuen, wenn man sie auf die Weide trieb. Sie wurden auch zum Reiten benutzt. Alte, schwere Damen, Kranke, die nicht gut zu Fuß waren, aber auch übermütige Gesellschaften lebenslustiger junger Herren und Damen ließen sich nach der Schweizerei oder nach Wilhelmshöh hinauftragen. Es war keine kleine Angelegenheit, als der hochmögende fürstliche Brunneninspektor einen solchen Esel als Geburtstagsgeschenk für seinen geliebten Enkel Georg nach Rittergut Lohnig schickte.
Auf den Gedanken, dass auch ich mich über einen kleinen Esel unbändig gefreut hätte, kam er nicht.
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»Gerse« nannte mich Tante Julie damals, wenn sie nach Salzbrunn kam. Es entsprach ihrer männlichen Art, wenn sie kein Diminutivum anwandte. Ihr »Gerse« klang gut und hatte durchaus meine Billigung. Ich fühlte, dass diese Frau, trotz einer grenzenlosen Mutterliebe, mich nie mit scheelen Augen sah und mich überall ebenso kräftig wie wohlwollend anfasste.
Mit Tante Auguste und Tante Elisabeth vom Dachrödenshof stand es, wie angedeutet, nicht so. Obgleich der kleine Georg Schubert auch nur ihr Neffe war, betonten sie doch ihre überwiegende Liebe zu ihm unverkennbar auf jede Weise. Meine Minderwertigkeit ihm gegenüber wurde mir eines Tages oder Abends recht deutlich zu Gemüte geführt.
Adolf, ein Sohn des Brunneninspektors, war fürstlich-plessischer Förster in Görbersdorf, und es wurde im Herbst eine Wagenfahrt dorthin unternommen, die mehrere Stunden dauerte. Nur Auguste und Elisabeth, der kleine Georg und ich waren von der Partie, ich höchstwahrscheinlich nur, weil der kleine Vetter und liebe Spielkamerad es gewünscht hatte. Beim Schlafengehen in den zugigen Dachkammern des Försterhauses waren nicht genug Decken da, sodass man Erkältungen befürchten konnte. Als ich aber einnicken wollte, sah ich plötzlich das mephistophelische Gesichtchen des buckligen Täntchens Auguste über mir, die mir, mit einigen zwar liebenswürdigen, aber hämisch klingenden entschuldigenden Worten, eine Decke, die mich wärmte, entzog und sie über das Kleinod, den Vetter Georg, sorgsam breitete.
1 Verschleierung, Verdunkelung <<<
Zwölftes Kapitel
Nicht nur durch das Taubensuchen, sondern auch durch die altüberkommenen Sitten mancher Jahrestage erweiterten sich mit meiner Kenntnis des Orts die der Bewohner, die der Menschen im Allgemeinen und meine Kenntnisse überhaupt. Vier Tage vor Ostern, am Gründonnerstag, war die ganze Jugend Ober-, Mittel- und Niedersalzbrunns in Bewegung. In kleinen oder größeren Scharen zogen sie, Bettelsäcke umgehängt, von Gehöft zu Gehöft, von Haus zu Haus um durch einen überaus kurzen Gesang Gaben von den Bewohnern herauszulocken. Das unisono gesungene Liedchen hieß im Dialekt: »Sein Se gebata, sein Se gebata im a grina Donstig.« Hochdeutsch: »Seien Sie gebeten um den Gründonnerstag.«
Noch allgemeiner war am sogenannten Sommersonntag das bettelnde Herumziehen. Die hierbei gesungenen Lieder waren etwas umfangreicher, und eines lautete:
Ich bin a kleener Pummer,
ich kumme zum Summer,
lußt