Das Abenteuer meiner Jugend. Gerhart Hauptmann

Das Abenteuer meiner Jugend - Gerhart Hauptmann


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Vor­sichts­maß­re­geln aus dem Haus.

      War ich nun ei­gent­lich angst- und furcht­ge­quält oder sonst tiefer be­wegt, als die un­sicht­ba­re Hand im­mer mehr Leu­te aus dem Le­ben riss, fast in jede be­kann­te Fa­mi­lie griff und sich dem Ober­dorf und dem Kur­saal be­droh­lich an­nä­her­te?

      So­weit war ich durch­aus noch Kind, dass ich die Schlie­ßung der Schu­le als einen Glücks­fall be­grüß­te.

      So haf­te­ten auch kei­nes­wegs die War­nun­gen mei­ner El­tern und des Dok­tors Straeh­ler vor mög­li­cher An­ste­ckung: war ich wie im­mer dem Hau­se ent­sprun­gen, so hat­te ich an sie kei­ne Erin­ne­rung. Ich schlug die stren­gen Ge­bo­te, kei­nen Men­schen zu spre­chen, noch gar zu be­rüh­ren, bei­lei­be kein Haus zu be­tre­ten, nicht ei­gent­lich in den Wind, son­dern dach­te im­mer erst dann an sie, wenn ich dies al­les nach al­ter Ge­wohn­heit ge­tan hat­te. Dok­tor Straeh­ler riet da­von ab, mich ein­zu­sper­ren, da ich, an frei­es He­rum­tol­len doch ge­wöhnt, durch Stu­ben­ar­rest am Ende noch är­ger ge­fähr­det wür­de.

      Ich tum­mel­te mich im Dorf um­her und be­trat denn auch Zim­mer, in de­nen Leu­te zu Bett la­gen. War es ein Po­cken­kran­ker oder nicht, an den ich in ei­nem mod­ri­gen Gar­ten­ge­lass durch ir­gend­ei­nen Zu­fall ge­riet? Je­den­falls ist ein Ein­druck da­mit ver­knüpft, der sich mir ins Ge­müt ätz­te. Im glei­chen Zim­mer be­fand sich ein we­nig be­klei­de­tes, schlum­pi­ges Weib. »Was­ser!« fleh­te der Kran­ke sie an. – »Was­ser?!« schrie sie, »hol dir doch Was­ser!« – »Ich kann nicht, ich bin zu schwach«, sag­te er. – »Faul bist du, du bist faul!« war die Ant­wort. – »Merkst du denn nicht, wie es mit mir steht? Ich bin hin. Ich wer­de von die­sem Bett nicht mehr auf­ste­hen.« – »Dann blei­be doch lie­gen, Lum­pen­hund!« – »Frau«, klang es zu­rück, »denk dar­an, dass es eine Ge­rech­tig­keit auf Er­den, und wenn nicht auf Er­den, dann im Him­mel gibt. Du sollst die Stra­fen Got­tes nicht so her­aus­for­dern!« – Sie brach in ein häss­li­ches, wil­des La­chen aus. »Du re­dest von Stra­fen Got­tes, du Schuft, ge­hörst du nicht zehn­mal an den Gal­gen?!« – »Was­ser!« fleh­te aufs neue der Kran­ke. »Reich mir doch mal die Me­di­zin!« – »Hol dir das Was­ser, nimm dir die Me­di­zin!« – »O Gott, wenn es doch end­lich schon aus wäre!« – »Ich ma­che drei Kreu­ze: ja, wenn es doch aus wäre! Wenn es doch aus wäre! Ich sprän­ge el­len­hoch in die Luft! Ein Fau­len­zer we­ni­ger auf der Welt, eine schlech­te Lum­pen­ca­nail­le we­ni­ger!«

      Ich ver­schloss die­se schreck­li­che Of­fen­ba­rung in mein Kna­ben­ge­müt, wo ich man­che ähn­li­che Mit­gift in mei­nem spä­te­ren Le­ben ent­deckt habe.

      Hat­te ich die Schlie­ßung der Bren­del-Schu­le als den Be­ginn ei­ner frei­en Fe­ri­en­zeit be­grüßt, bald soll­te ich mich nach ihr zu­rück­seh­nen. Denn wie­der hat­te die Päd­ago­gik mei­nes Va­ters ein­ge­setzt. Hei­ter durch­grei­fend aber war sie dies­mal nicht, son­dern auf ein­fa­che Wei­se zwar, aber auch auf über­aus stren­ge durch­grei­fend. Va­ter mach­te mir höchst per­sön­lich am Fens­ter des Bil­lard­zim­mers einen Tisch zu­recht, gab mir einen von sei­nen dut­zend­wei­se vor­rä­tig ge­hal­te­nen neu­en Fe­der­hal­tern, mit ei­ner eng­li­schen Stahl­fe­der frisch ver­se­hen, und stell­te ein ent­kork­tes sau­be­res Tin­ten­fläsch­chen vor mich hin; köst­li­che wei­ße Quart­bo­gen wur­den von uns bei­den zu­sam­men­ge­hef­tet, ich er­hielt Blei­stift und Li­ne­al und muss­te sie un­ter sei­ner An­lei­tung li­ni­ie­ren.

      Von da ab hat­te ich nichts zu tun, als die vor mir auf­ge­schla­ge­ne »Welt­ge­schich­te für das deut­sche Volk« von Fried­rich Chri­stoph Schlos­ser ab­zu­schrei­ben. »Auf die­se Wei­se«, sag­te mein Va­ter, »lernst du le­sen, schrei­ben und Welt­ge­schich­te zu glei­cher Zeit.«

      So weit wäre dies nun ganz gut ge­we­sen, hät­te nicht mein Va­ter ein täg­li­ches Pen­sum von mir ver­langt, ge­gen das mei­ne frü­he­ren Schul­auf­ga­ben ein­fach nicht in Be­tracht ka­men. Mit zwei be­krit­zel­ten und be­klecks­ten Sei­ten mei­nes Schul­hef­tes er­klär­te Bren­del sei­ne Zufrie­den­heit, jetzt muss­te ich sit­zen wie an­ge­na­gelt und wur­de nicht eher los­ge­las­sen, bis das mir un­mög­lich Schei­nen­de Wahr­heit ge­wor­den war und ich sechs bis acht Druck­sei­ten sau­ber ko­piert hat­te.

      Ei­nes Mor­gens wach­te mei­ne Mut­ter, mit der ich, wie schon ge­sagt, das nicht sehr an­hei­meln­de Schlaf­zim­mer teil­te, auf eine selt­sa­me Wei­se auf. »Ger­hart, gehe doch mal«, sag­te sie, im Bett sich auf­rich­tend, »Ger­hart, gehe doch mal …« Wei­ter kam sie nicht. »Ger­hart, willst du so gut sein und …« Aber auch dies­mal kam sie nicht wei­ter. »Ger­hart, mir ist näm­lich, musst du wis­sen …« Aber­mals trat die Sto­ckung ein.

      Ich er­kann­te so­gleich, dass mei­ne Mut­ter nur halb bei Be­sin­nung war und hilf­los um sich her tas­te­te. »Ger­hart, willst du nicht Va­ter sa­gen …«

      Ich sprang aus dem Bett und rief ihn her­bei.

      Dok­tor Straeh­ler, Dok­tor Oli­vie­ro und Dok­tor Rich­ter wur­den ge­ru­fen. Nach ih­rem ge­mein­sa­men Auss­pruch be­stand kein Zwei­fel, dass die furcht­ba­re Hand der herr­schen­den Pest in un­ser Haus und nach mei­ner Mut­ter ge­grif­fen hat­te. Sie war da, un­ter un­serm Dach, mit­ten un­ter uns. Kei­ner wuss­te, ob er ihr noch ent­ge­hen konn­te.

      Die Kran­ke wur­de so­gleich im Hau­se iso­liert, so gut oder schlecht, wie es da­mals üb­lich war. Aber in­fol­ge der Ener­gie mei­nes Va­ters wur­den alle Vor­sichts­maß­re­geln, An­ste­ckung zu ver­mei­den, durch­ge­führt. Im­mer­hin lag der Ein­gang zum Kran­ken­zim­mer nur vier oder fünf Schritt von dem un­se­rer Wohn­stu­be. Carl und ich wur­den so­gleich ge­impft, alle Haus­ge­nos­sen des­glei­chen, und es hat denn auch eine Über­tra­gung der Krank­heit im Kur­haus nicht statt­ge­fun­den.

      Dass mein Va­ter und wie mein Va­ter die Mut­ter lieb­te, er­wies sich bei die­ser Ge­le­gen­heit.

      Der Kur­saal war nun also ein Blat­tern­haus. Er muss­te als Gast­hof ge­schlos­sen wer­den und wur­de – ich weiß nicht durch wel­che äu­ße­re Zei­chen – als ver­seucht kennt­lich ge­macht.

      Wo­chen­lang sah mei­ne Mut­ter nur ihre »graue Schwes­ter« und den Arzt, selbst mein Va­ter durf­te sie nicht be­su­chen.

      Als er uns mit­teil­te, was die Mut­ter be­trof­fen habe, war sei­nem sonst so un­be­weg­lich erns­ten Ge­sicht alle Stren­ge ver­lo­ren­ge­gan­gen. Sei­ne sonst so be­stimm­te Aus­drucks­wei­se war fast ton­los und beb­te vor Un­si­cher­heit: »Die arme Mut­ter ist krank, sehr krank. Wir müs­sen zu Gott be­ten, dass er die gute Mut­ter er­hal­te: die arme Mut­ter, die gute Mut­ter«, sag­te er, zwei Ei­gen­schafts­wor­te, die er bis­her, wenn er von ihr sprach, nie ge­braucht hat­te.

      Sor­gen­vol­le Wo­chen ver­gin­gen nun, in de­nen wir auf das Be­fin­den der Mut­ter aus dem Ver­hal­ten des Va­ters schlie­ßen konn­ten, auch wenn er kei­ne Be­rich­te gab. Stieg im Kran­ken­zim­mer die Ge­fahr, so war der Va­ter schweig­sam und un­ru­hig, wa­ren die Ärz­te hoff­nungs­voll, so spür­ten wir das an ei­ner ge­wis­sen Zärt­lich­keit, mit der uns der Va­ter be­han­del­te.

      Es kam dann ein Tag, an dem er nach dem Be­such der Ärz­te zu uns trat, die gol­de­ne Bril­le ab­nahm und putz­te und mit feuch­ten Au­gen sprach: »Un­ser lie­ber himm­li­scher Va­ter scheint be­schlos­sen zu ha­ben,


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