Selbstführung in stürmischen Zeiten. Frieder Boller
immer – als bedrohlich erleben. Im ICE war es nur die Ruhe und das ungestörte Lesen, Arbeiten, Träumen oder was auch immer der Passagiere, das gefährdet war. Es spielt keine Rolle, ob diese Bedrohung oder Gefahr real ist oder ob sie „nur“ in der Vorstellung existiert. Die eigene Kontrolle über das eigene Leben und Wohlergehen zu haben ist oder scheint bedroht.
?Welche Situation kommt Ihnen in den Sinn, in der Sie (kürzlich) Angst-Spannung erlebten?
Jeder Mensch erfährt und lernt zunächst einmal den Umgang mit Ängsten und Spannungen zu Hause in der Kindheit. Was hat dort Angst-Spannungen ausgelöst? Streitereien? Eine chronische Krankheit? Schulnoten? Schläge? Ein Todesfall? Leistungserwartungen? Mobbing? Scheidung der Eltern? Missbrauch? Vernachlässigt werden? Geheimnisse? Wie sind die verschiedenen Familienmitglieder damit umgegangen? Dieses emotionale System unserer Herkunftsfamilie hat uns geprägt. Doch auch andere Lebenserfahrungen spielen eine Rolle. Zum Beispiel zurückliegende belastende traumatisierende Erfahrungen, die ihre tiefen Spuren in uns hinterlassen haben und sich darauf auswirken, worauf und wie wir mit Angst-Spannungen reagieren. Immer stellt Angst-Spannung einen Menschen oder eine Gruppe vor die existenzielle Frage: „Schaffe ich das?“ „Fühle ich mich sicher genug, stark genug, um damit fertig gut zu werden?“
?Wo und wie habe ich in meiner Herkunftsfamilie Angst-Spannungen wahrgenommen?
Wie sind die verschiedenen Familienmitglieder damit umgegangen?
Angst-Spannung – was dabei im Hirn passiert
Der Neurobiologe Gerald Hüther erklärt:
Jede schwerwiegende Irritation oder Belastung erzeugt im Hirn eine sich ausbreitende Erregung, die dazu führt, dass nur auf der Ebene der besonders stabilen, durch bisherige Erfahrungen bereits gut gebahnten Verhaltensmuster ein entsprechendes handlungsleitendes Aktivierungsmuster aufgebaut werden kann. Deshalb führt jeder Leistungs-, Erwartungs-, Handlungs- oder sonstiger Druck zum Rückfall in bereits bewährte Strategien, bisweilen sogar zu Reaktionen, die schon während der frühen Kindheit eingeübt worden sind.
Je größer der Druck und die dadurch sich im Gehirn ausbreitende Erregung wird, desto tiefer geht es also auf der Stufenleiter der noch aktivierbaren, handlungsleitenden Muster hinab. Das Verhalten wird einfacher. Weil im Hirn weniger regionale Netzwerke miteinander synchronisierbar sind und miteinander in Beziehung treten können, werden die Reaktionen auch entsprechend robuster und eindeutiger.
Um wieder zu komplexeren handlungsleitenden Mustern zu gelangen, muss der äußere Druck nachlassen bzw. das innere Erregungsniveau abgesenkt werden. Erst dann können wieder hochvernetzte, subtilere und fragilere Beziehungsmuster zwischen möglichst vielen Nervenzellen aus möglichst unterschiedlichen Bereichen des Gehirns aufgebaut und als handlungs- und denkleitende Muster aktiviert werden.4
Unter Angst-Spannung den Kopf verlieren oder einen kühlen Kopf bewahren
Wer entspannt und gelassen ist, „funktioniert gut“, weil er mit dem, was kommt, unverkrampft und fokussiert umgehen kann. Wir haben dann ein relativ breites Handlungsrepertoire, um mit unterschiedlichen Situationen und Herausforderungen umzugehen. Wer aber unter hoher Angst-Spannung steht, wird rigide und hat nur wenige Handlungsoptionen zur Verfügung.
Die Handbewegung streift das Trinkglas. Es kippt um und sein Inhalt ergießt sich über Tisch und Hosen.
Im Normalfall lässt uns ein gewisses Maß an Angst-Spannung aktiv werden, um eine gute Lösung für ein auftauchendes Problem zu finden. Sie kann uns antreiben, Neues zu wagen, kreativ zu werden, Ideen zu entwickeln, konzentriert voranzugehen, um eine schwierige Herausforderung zu meistern. So helfen Angst-Spannungen, erforderliche Veränderungen im persönlichen Leben wie im Leben einer Paarbeziehung, einer Familie, einer Gruppe, einer Kirchengemeinde oder Organisation zu bewirken.
Haben Angst-Spannungen aber einen kritischen Punkt erreicht, verhindern sie genau die Lösungen und Veränderungen, die sie eigentlich hervorrufen sollten. Was stimulierende Kraft sein könnte, entpuppt sich als blockierende Macht. Wir „verlieren den Kopf“, können keinen klaren Gedanken fassen, reagieren heftig, emotional unkontrolliert und sind nicht mehr in der Lage, uns überlegt und differenziert zu verhalten. Reflexartig brüllen wir los oder ducken uns weg, schlagen zu.
Je höher der Angst-Spannungs-Pegel ist, desto weniger sind wir in der Lage, unser kreatives und intelligentes Potenzial zu nutzen, um eine kritische Situation konstruktiv zu lösen. Das ist bei jedem Einzelnen so wie auch in jeder Gruppe von Menschen.
?Wie reagieren Sie, wenn es Ihnen zu viel wird? Welche (blockierenden) Angst-Spannungs-Reaktionen sind typisch für Sie?
Welches Erlebnis kommt Ihnen in den Sinn, in dem ein gewisses Maß an Angst-Spannung Sie beflügelt hat? Wie sah das aus?
Ein Blick in die Bibel
„In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Joh 16,33(Luther 2017)
Jesus trifft eine nüchterne Feststellung: Angst bzw. Angst-Spannung gehören zum Leben in dieser Welt. Er betreibt keine Schönfärberei und sagt nicht: Glaubende haben keine Angst.
Die Jünger Jesu haben Angst im Sturm auf dem See Genezareth. In höchster Angst-Spannung laufen sie davon, als Jesus verhaftet wird. Jesus kämpft selbst in der Gegenwart tröstender Engel mit seiner Angst. Ängste, Angst-Spannungen zu haben ist menschlich und okay. Dafür muss sich niemand schämen.
„Aber“, sagt Jesus und setzt damit der Angst etwas entgegen. Nämlich seine Gegenwart, seine mitfühlende, ermutigende, lebensstärkende Nähe. „Seid getrost! Lasst euch nicht verrückt machen! Verlasst euch auf mich!“, denn: „Ich habe die Welt überwunden“. Jesus sagt nicht: „Ich habe die Angst überwunden“, sondern „die Welt“. Seine Botschaft lautet: In eurer Angst-Spannung seid ihr nicht allein. Ich stehe sie mit euch durch und helfe euch, gelassener zu werden und sinnvoll mit ihr umzugehen.
Übrigens: In Gethsemane