Das resiliente Gehirn. Rick Hanson
uns reaktive Erfahrungen mit der Zeit schwächer und fragiler, während Erfahrungen aus dem anpassungsfähigen Bereich dazu neigen, uns resilienter zu machen.
Der reaktive Modus entwickelte sich als eine kurzzeitige Lösung im Hinblick auf unmittelbare Lebensbedrohungen – und nicht etwa als eine Lebensweise. Obwohl wir nicht länger vor Säbelzahntigern davonlaufen, treiben uns das Multitasking, das Gerenne und der regelmäßige Stress unglücklicherweise in den roten Bereich. Dann ist es aufgrund dessen, was Forscher als Negativitätsverzerrung/Negativitätstendenz des Gehirns bezeichnen, schwer, da wieder herauszukommen.
Die Negativitätstendenz/Negativitätsverzerrung
Unsere Vorfahren mussten sich „Zuckerbrote“ in Form von Nahrung und Sex verdienen und „Peitschen“ in Gestalt von Raubtieren und Aggressionen in und zwischen ihren Gruppen entkommen. Beide sind wichtig, aber „Peitschen“ verfügen über größere Dringlichkeit und Einfluss auf das Überleben. Zurück zu den Serengeti-Ebenen: Wenn Sie dabei scheiterten, ein „Zuckerbrot“ zu bekommen, hatten Sie immer noch die Chance, ein anderes zu ergattern, doch wenn Sie dabei scheiterten, eine „Peitsche“ zu vermeiden – Aus und vorbei, niemals wieder Zuckerbrot!
Infolgedessen tut das Gehirn natürlicher- und üblicherweise Folgendes:
1. Es sucht die Außen- und die Innenwelt des Körpers und Geistes nach schlechten Nachrichten ab.
2. Es fokussiert sich stark auf diese und verliert das große Ganze aus dem Blick.
3. Es überreagiert auf sie.
4. Es überführt die Erfahrung rasch ins emotionale, körperliche und soziale Gedächtnis.
5. Es wird aufgrund wiederholter Dosen des Stresshormons Cortisol sensibilisiert, so dass es sogar noch reaktiver in Bezug auf negative Erfahrungen wird – was das Gehirn in noch größeren Mengen an Cortisol badet und einen Teufelskreis schafft.
Tatsächlich verhält sich unser Gehirn im Hinblick auf schlechte Nachrichten wie ein Klettband, auf gute Nachrichten jedoch wie Teflon. Wenn Ihnen beispielsweise zehn Dinge im Laufe eines Arbeitstages oder in einer Beziehung geschehen und neun davon sind positiv, während eins negativ ist, an was denken Sie am meisten? Wahrscheinlich an das Negative. Angenehme, nützliche, wohltuende Erfahrungen kommen viele Male an einem Tag vor – eine Tasse Kaffee genießen, etwas zu Hause oder bei der Arbeit erledigen, sich abends mit einem guten Buch ins Bett kuscheln –, doch sie fließen normalerweise durch das Gehirn wie Wasser, das durch ein Sieb läuft, während jede stressvolle oder abträgliche Erfahrung hängen bleibt. Wir sind darauf getrimmt, von schlechten Erfahrungen zu „überlernen“*, während wir von guten Erfahrungen sozusagen „unterlernen“. Die Negativitätstendenz war sinnvoll für das Überleben während Millionen von Jahren der Evolution, aber heute ist es eine Art universeller Lernschwäche in einem Gehirn, das für Höchstleistungen unter Steinzeitumständen vorgesehen ist.
Die Effekte dieser Tendenz werden verschlimmert durch die jüngste Evolution neuronaler Netzwerke auf der Mittellinie des Kortex, die mentale Zeitreisen ermöglichen: über die Vergangenheit nachzudenken und für die Zukunft zu planen. Diese Netzwerke ermöglichen auch negatives Wiederkäuen. Anders als unsere tierischen Vettern, die durch Beinahe-Unfälle lernen, sich jedoch nicht in sie hineinsteigern, neigen wir dazu, unsere Sorgen, unseren Ärger und unsere Selbstkritik durchzukauen: „So viele Dinge könnten danebengehen.“ – „Wie können Sie es wagen, mich auf diese Art und Weise zu behandeln?“ – „Ich bin solch ein Idiot!“ Die Gedanken und Gefühle, die wir während des Wiederkäuens haben, verändern das Gehirn genauso, wie es andere negative Erfahrungen tun. Diese Schleifen wiederholt zu durchlaufen, ist wie im Sand im Kreis herum zu laufen, wobei die Spur mit jeder Umrundung vertieft wird – was es leichter macht, künftig in negatives Wiederkäuen zu verfallen.
Nach Hause kommen, zu Hause bleiben
Zusammengefasst, wir haben keine andere Wahl im Hinblick auf unsere drei Bedürfnisse oder auf die Art und Weise, wie die Evolutionsstufen der Reptilien, Säugetiere und Primaten die Wege geformt haben, auf denen wir unsere Bedürfnisse zu erfüllen versuchen. Unsere einzige Wahl besteht darin, wie wir unsere Bedürfnis erfüllen: aus dem grünen Bereich oder dem roten Bereich heraus, mit einem zugrunde liegenden Gefühl des Friedens, der Zufriedenheit und der Liebe oder mit einem Gefühl der Angst, der Frustration und des Schmerzes.
Der anpassungsfähige Modus ist unser Heimatstandort, ein gesundes Gleichgewicht von Körper und Geist. Es ist die Essenz des Wohlbefindens und die Basis nachhaltiger Resilienz. Doch werden wir leicht von diesem Zuhause weg in den roten Bereich getrieben. Dann ist es aufgrund der Negativitätstendenz und des negativen Wiederkäuens leicht, dort in einer Art chronischer innerer Heimatlosigkeit stecken zu bleiben.
Es ist nicht unser Fehler, dass wir so sind. Es ist unsere biologische Ausstattung, es sind unterschiedliche Gaben von Mutter Natur. Aber es gibt viel, was wir dagegen tun können.
Verlassen Sie den roten Bereich
Manchmal ist es notwendig, Herausforderungen auf reaktive Weisen zu begegnen. Vielleicht müssen Sie einem Auto, das auf Sie zukommt, ausweichen oder selbst laut werden, wenn jemand allzu aggressiv auftritt. Menschen sind zäh, und wir können Reisen in den roten Bereich dulden. Doch verlassen Sie diesen, so schnell Sie können. Die drei Wege, den Geist einzubeziehen, stellen eine gute Blaupause bereit, um dies zu tun.
Seinlassen
Seien Sie achtsam, wenn Sie anfangen, sich gedrängt, unbehaglich, verzweifelt, frustriert, gestresst oder verärgert zu fühlen. Bleiben Sie bei der Erfahrung und erkunden Sie ihre verschiedenen Anteile. Geben Sie ihnen einen Namen: angespannt … besorgt… verärgert… traurig. Dies wird die Aktivität im präfrontalen Kortex (dem Teil des Gehirns hinter Ihrer Stirn) steigern, was der Top-down-Selbstkontrolle helfen wird. Das für sich selbst zu benennen, was Sie erfahren, wird desgleichen die Aktivität in der Amygdala – die wie eine Alarmglocke im Gehirn funktioniert – verringern und Ihnen helfen, sich zu beruhigen.
Erforschen Sie, was sich auf tieferen Schichten verletzlich und weich anfühlen könnte, wie etwa eine Traurigkeit verbunden mit dem Erlebnis, auf der High School ausgeschlossen worden zu sein, die sich unter einer lodernden Wut verbirgt, bei einer Besprechung in der Arbeit nicht einbezogen worden zu sein. Bleiben Sie einfach bei dem, was Ihr Gewahrsein durchströmt, ohne es wiederzukäuen oder ein Drama daraus zu machen. Nehmen Sie Abstand von den Reaktionen des roten Bereiches, und beobachten Sie sie, als ob Sie aus einem Film heraustreten und sich in einem Kino zwanzig Reihen nach hinten setzen würden, um ihn sich anzusehen.
Loslassen
Gehen Sie zum Loslassen über. Verstehen Sie, dass reaktive Gedanken und Gefühle generell nicht gut für Sie sind – und genauso wenig für andere. Entscheiden Sie sich, ob Sie an diesen Gedanken und Gefühlen festhalten oder sie loslassen wollen.
Atmen Sie langsam aus und entspannen Sie Ihren Körper. Lassen Sie die Gefühle fließen. Wenn es angemessen ist, weinen Sie, schreien Sie und verleihen Sie – in der Gegenwart eines verständnisvollen Freundes – Ihrem Groll Ausdruck oder fühlen Sie einfach, dass die Angst, die Irritation und der Schmerz aus Ihnen abfließen. Seien Sie skeptisch gegenüber den Annahmen, Erwartungen oder Glaubensvorstellungen, die Sie bekümmert, gestresst, frustriert oder wütend gemacht haben. Überdenken Sie die Bedeutung, die Sie Situationen gegeben haben oder die Art und Weise, wie Sie die Absichten anderer interpretieren, und lassen Sie los, was immer unwahr, unnötig alarmierend oder kleinlich ist. Spüren Sie achtsam was Sie fühlen, wenn Sie den reaktiven Modus verlassen.
Hereinlassen
Beginnen Sie, all das hereinzulassen, was Ihnen das Gefühl verschafft, dass Ihre Bedürfnisse erfüllt werden. Stellen Sie sich auf das Gefühl der Entschlossenheit und des inneren Vermögens ein. Tun sie etwas Angenehmes: Waschen Sie Ihre Hände in warmem Wasser, essen Sie einen Apfel oder hören Sie Musik. Angenehmes setzt natürliche körpereigene Opioide frei, die den Stressmechanismus des Gehirns besänftigen und beruhigen. Denken Sie an Dinge, für die Sie dankbar oder über die Sie froh sind, Dinge,