Mit Kindern wachsen. Jon Kabat-Zinn
gewesen wäre, mich zu demütigen. Anders als die Väter meiner Freunde hatte er für Rache und öffentliche Demütigung nichts übrig. Dennoch hatte mein Vater mir eine Lektion erteilt. Ich habe die Ungeheuerlichkeit meiner Zerstörungswut an jenem heißen Augustnachmittag nie vergessen. Und ich werde auch nie vergessen, dass mir an jenem Tag erstmals klar wurde, wie tief ich ihm vertrauen konnte.
Mell Lazarus
(Schöpfer der Comic-Strips Momma
und Miss Peach und Roman-Autor),
aus: „Angry Fathers“, Sunday New York Times,
„About Men“, 28. Mai 1995
Empathie
Empathie war einer der Hauptgründe dafür, dass es Sir Gawain gelang, Lady Ragnell von ihrem Zauber zu befreien. Er hatte ihren Schmerz gespürt und in ihren Augen eine unvorstellbare verborgene Schönheit erahnt: „Irgendetwas an ihrem ergreifenden Stolz und an der Art, wie sie ihren scheußlichen Kopf erhob, erinnerte ihn an ein von Jagdhunden gestelltes Reh. Irgendetwas in der Tiefe ihres trüben Blicks erreichte ihn wie ein Hilfeschrei.“
Der Hund des Schlosses zeigte gegenüber Ragnell ein Maß an Empathie, mit dem er die Menschen beschämte. „Nur Cabal, der Hund, kam und leckte ihre Hand mit seiner warmen, feuchten Zunge, und er schaute sie mit seinen bernsteinfarbenen Augen, die ihre Scheußlichkeit gar nicht wahrnahmen, lange an …“. Hunde und Katzen können uns Menschen ungeheuer viel über Selbstbestimmung, Empathie und Akzeptieren lehren. Vielleicht leben wir deshalb mit ihnen zusammen – und sie mit uns. Sie vermitteln uns die Grundlagen; die Erziehung unserer Kinder ist dann das Training für Fortgeschrittene. Wir beginnen damit, ungeachtet dessen, ob wir dafür bereit sind oder nicht. Und wer ist schon wirklich bereit für diese Aufgabe?
Wenn wir darüber nachdenken, welche Bedeutung Empathie in unserem Leben hat, dann könnten wir uns vielleicht fragen: „Was habe ich mir als Kind von meinen Eltern am sehnlichsten gewünscht?“ Vielleicht könnten Sie einmal eine oder zwei Minuten darüber nachdenken und schauen, welche Wörter oder Bilder Ihnen dabei in den Sinn kommen …
Was sich die meisten Menschen am sehnlichsten von ihren Eltern gewünscht hätten: Dass sie von ihnen als die gesehen und akzeptiert worden wären, die sie waren. Dass man sie mit Güte, Mitgefühl, Verständnis und Respekt behandelt hätte. Sie hätten sich gewünscht, dass man ihnen Freiheit und eigenen Raum zugestanden und ihnen ein Gefühl der Sicherheit und Zugehörigkeit vermittelt hätte. Alle diese Dinge können Kinder nur erfahren, wenn ihre Eltern zu echter Empathie fähig sind.
Es ist leicht, Empathie für ein Kind zu empfinden, wenn es Schmerzen hat. Wesentlich schwieriger ist es, wenn das Kind um sich tritt, mit Gegenständen schmeißt und mit wütendem Geschrei seinen Unmut kundgibt. Ebenso schwierig ist es, wenn die Interessen oder Ansichten des Kindes unseren eigenen zu widersprechen scheinen. Wenn wir in größerem Umfang zu Empathie fähig sein wollen, müssen wir bewusst an der Entwicklung dieser Fähigkeit arbeiten.
Unsere Empathie unserem Kind gegenüber können wir weiterentwickeln, indem wir uns bemühen, Situationen aus seiner Perspektive zu sehen. Wir versuchen, uns in die Gefühle und Erfahrungen des Kindes hineinzuversetzen. Wir versuchen, das, was in jedem Augenblick geschieht, mit wohlwollendem Gewahrsein aufzunehmen. Dies schließt auch das Gewahrsein unserer eigenen Gefühle ein.
Was könnte es zum Beispiel bedeuten, Empathie mit einem Neugeborenen zu entwickeln, sich vorzustellen, wie es für das Kind sein mag, in diese Welt zu kommen, nachdem es neun Monate lang in einer völlig anderen gewesen ist?
Wir könnten uns zunächst vorzustellen versuchen, wie das Leben im Uterus gewesen sein mag – an einem geschützten Ort, an dem es angenehm warm und feucht ist, wo ständig rhythmische Geräusche ertönen, wo es das Gefühl gibt, geborgen und getragen zu sein, sanft geschaukelt zu werden – eine Welt ungeteilter Ganzheit, wo es kein Wollen gibt und wo es an nichts fehlt.
Der folgende Auszug aus einem Brief eines Neunzehnjährigen an seine Mutter zum Muttertag gewährt uns einen tiefen Einblick in diese Welt.
Viel Frieden und Stärke aus meinem Herzen für dich für die neun Monate köstlichster Meditation, in denen ich wie ein Fisch im Wasser atmen konnte, in denen die Nahrung so rein war, dass weder Mund noch Kehle benötigt wurden …
Gesegnet seist du.
Bei unserer Geburt verlassen wir dieses harmonische Universum und betreten eine neue, völlig andere Welt. Dort werden wir vielleicht durch grelles Licht und kalte Luft überrascht. Vielleicht hören wir laute, unerwartete Geräusche und spüren etwas Raues und Hartes auf der Haut. Wir empfinden zum ersten Mal Hunger. All das trifft uns als raue, reine Erfahrung, die wir noch nicht durch irgendwelches Wissen filtern können. Stellen wir uns einmal vor, wir würden plötzlich in eine solch unvertraute Umgebung versetzt und wären völlig abhängig von der Fähigkeit ihrer Bewohner, unsere Sprache zu verstehen und zu begreifen, was wir im jeweiligen Augenblick brauchen.
Welche Art von Empfindung wäre Ihnen lieber: die eines kalten Kunststoff-Nippels oder die einer warmen, weichen und süß duftenden Brust? Sanft in liebevollen Armen gehalten zu werden – oder in einer Wiege oder auf einem Babysitz aus Kunststoff zu liegen? Dass man Sie schreien lässt, bis Sie einschlafen, oder mitfühlende Anteilnahme zu spüren? Dass Sie, wenn Sie weinen, auf den Arm oder an die Brust genommen werden, dass man Ihnen ruhig und achtsam die Windel wechselt, Sie auf dem Arm wiegt und Ihnen ein Lied vorsingt?
Warum fällt es uns so schwer, unsere kleinen Kinder als vollwertig empfindende, vollwertig erfahrende Wesen zu sehen? Warum erscheint es uns als völlig normal, Kinder schreien zu lassen, bis sie nicht mehr können, wohingegen wir die Schreie oder das Weinen eines Freundes oder einer Geliebten – ja selbst eines Fremden – niemals ignorieren würden? Gegen was wehren oder wovor schützen wir uns, wenn wir uns vom Schmerz und Kummer eines Babys distanzieren?
Natürlich könnte es sein, dass wir uns vor mehr Arbeit schützen wollen. Auf kurze Sicht erfordert es natürlich wesentlich mehr Arbeit, unsere Kinder wirklich Augenblick für Augenblick zu begleiten und angemessen auf ihre Bedürfnisse einzugehen. Sich auf die Körpersprache eines Kindes einzustellen, verschiedene Dinge auszuprobieren, die Sensibilität zu entwickeln, die erforderlich ist, damit wir weder zu wenig noch zu sehr auf es eingehen; ein Kind zu halten, zu trösten oder durch sanftes Summen zu beruhigen – all das erfordert Zeit und Energie. Und natürlich rauben uns Kinder häufig auch den Schlaf – sowohl im wörtlichen als auch im metaphorischen Sinne. Sicherlich fällt es uns leichter, Empathie für unsere Kinder zu entwickeln, wenn es unseren eigenen Bedürfnissen entgegenkommt. Die wirkliche Prüfung in dieser Hinsicht sind Situationen, in denen sich ihre und unsere eigenen Bedürfnisse im Konflikt befinden.
Es kann auch sein, dass wir uns in solchen Situationen durch Mangel an Empathie vor dem Schmerz zu schützen versuchen, den wir selbst erlebt haben, als in unserer eigenen Kindheit unsere physischen und emotionalen Bedürfnisse nicht erfüllt wurden. Empathie mit der Verletzbarkeit eines Kindes zu entwickeln, kann uns auf sehr direkte Weise an unsere eigene erinnern.
Ein Weg, wie wir es als Erwachsene vermeiden können, uns unsere eigenen schmerzhaften Erfahrungen als Kinder einzugestehen, besteht darin, in einen Mechanismus zurückzufallen, dessen wir uns bedient haben, als wir selbst noch Babys waren. In einer Umgebung, die nicht angemessen auf ihre wirklichen Bedürfnisse zu antworten vermag, verschließen sich viele Babys emotional, ziehen sich zurück und „schalten ab“. Wenn wir als Kinder gelernt haben, auf diese Weise mit Schmerz und Frustration fertig zu werden, so verhalten wir uns oft auch als Erwachsene so, und zwar meist völlig automatisch und ohne dass es uns bewusst wird. Statt auf die Gefühle unseres Babys einzugehen und uns der eigenen emotionalen Reaktionen auf die Gefühle des Kindes bewusst zu sein, ignorieren wir sie oder spielen sie durch Rationalisierungen herunter wie: „Kinder halten eine Menge aus; sie wird sich schon daran gewöhnen“, „Weinen wird ihm nicht schaden“, „Wir wollen sie ja nicht verwöhnen“. Dann versuchen wir vielleicht unser eigenes Unbehagen zu beschwichtigen, indem wir nach etwas zu essen greifen, zu einem Drink