Mit Kindern wachsen. Jon Kabat-Zinn
zu Thanksgiving hat mich sehr tief berührt. Das gilt insbesondere für Ihre Schilderung dessen, wie er Sie mit seinem Sein umhüllte, als er sich quer über Sie legte. Als ich das hörte, habe ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder liebevolle Gefühle meinem eigenen Sohn gegenüber gespürt. Ich weiß nicht genau, was geschehen ist, aber es ist, als hätte ich bisher immer das Gefühl gehabt, mein Sohn müsse anders sein, damit ich ihn lieben könnte, und das hat sich jetzt geändert.
Wenn sie niedergeschlagen oder enttäuscht sind, haben vielleicht alle Eltern hin und wieder das Gefühl, sie bräuchten eine andere Art von Kind, um es lieben zu können. Wenn wir dieses Gefühl nicht näher prüfen, kann es sich leicht von einem kurzlebigen Impuls in eine dauerhafte Enttäuschung verwandeln, und es kann sein, dass wir eine Sehnsucht nach etwas entwickeln, von dem wir glauben, wir hätten es nicht. Wenn wir dann später noch einmal genauer hinschauen, so wie dieser Vater es getan hat, stellen wir möglicherweise fest, dass wir die Kinder, die uns gegeben sind, verstehen und so lieben können, wie sie sind.
Jon Kabat-Zinn
Prolog – mkz
Die leidenschaftlich beschützende Liebe, die ich für meine Kinder empfinde, hat mich immer wieder dazu motiviert, die innere Arbeit zu tun, die wir „Achtsamkeit in der Familie“ nennen. Diese innere Arbeit hat mir unerwartete Geschenke und Freuden beschert. Sie hat mir geholfen, meine Kinder klarer so zu sehen, wie sie sind, frei von den Verzerrungen meiner eigenen Ängste, Erwartungen und Bedürfnisse, und zu sehen, was im jeweiligen Augenblick angebracht sein könnte. Diese Achtsamkeit im Umgang mit meinen Kindern hilft mir, mich selbst genauer wahrzunehmen, und sie ermöglicht es mir, mit schwierigen Situationen und mit jenen automatisierten Reaktionen anders umzugehen, die äußere Schwierigkeiten so leicht in mir auslösen – Reaktionen, die oft hart und destruktiv wirken und die dem Wohl meiner Kinder zuwiderlaufen.
Obgleich ich nie regelmäßig Sitzmeditation geübt habe, habe ich in meinem Leben immer darauf geachtet, dass ich eine gewisse Zeit und genügend Raum für Nicht-Tun, Stille und Schweigen zur Verfügung hatte. Dies sicherzustellen war besonders schwierig, als unsere Kinder klein waren, aber Möglichkeiten zum Alleinsein und zur Reflexion ergaben sich manchmal, wenn ich am Morgen noch im Bett lag, schon wach, aber noch nicht bereit, mich zu bewegen; noch meinen Träumen nachhängend, manchmal klar, manchmal in Gedanken verloren, empfänglich für Impulse und Bilder, die mich an jenem Ort irgendwo zwischen Wachsein und Schlaf besuchten.
Dies war für mich eine Art Meditation, war meine Art, meine inneren Ressourcen zu stärken. Dadurch wurde ein gewisser Ausgleich zu meinen äußeren „Meditationen“ geschaffen – zum ständigen Gewahrsein, Sich-Einstimmen, Antworten, Festhalten und Loslassen, zu dem meine Kinder mich aufgrund ihrer Bedürfnisse veranlassten.
Meditative Augenblicke habe ich in vielen Formen erlebt: Wenn ich mitten in der Nacht aufstehen musste, um durchdrungen von tiefem Frieden mein Neugeborenes zu stillen und es mich durch die Süße seines Seins innerlich nährte; oder wenn ich mit dem weinenden Baby umherging und es zu beruhigen und durch Singen und Wiegen zu trösten versuchte, während ich gegen meine eigene Müdigkeit ankämpfte; oder wenn ich in das Gesicht eines unglücklichen, wütenden Teenagers schaute, versuchte, den Grund für das Unglücklichsein herauszufinden und zu erspüren, was dieses Kind brauchte.
Achtsam zu sein bedeutet, aufmerksam zu sein, und Aufmerksamkeit erfordert Energie und Konzentration. Jeder Augenblick bringt Neues mit sich und kann andere Anforderungen an mich stellen. Manchmal bin ich mit einem intuitiven Erkennen gesegnet, in anderen Fällen begreife ich nichts, bin verwirrt, aus dem Gleichgewicht, versuche aber, intuitiv und kreativ auf die Situation zu reagieren, in die ich gestellt bin. Es gibt die zutiefst befriedigenden Augenblicke reiner Glückseligkeit, in denen ein Kind sichtlich aufblüht und ausstrahlt, dass es ihm gut geht. Es gibt aber auch die vielen schwierigen, frustrierenden und schmerzhaften Augenblicke, in denen nichts von dem, was ich tue, richtig zu sein scheint, sondern offensichtlich gravierend falsch ist. Besonders schwer fällt es mir bei älteren Kindern, klar zu sehen. Bei ihnen sind die Probleme gewöhnlich viel komplizierter und die adäquaten Antworten selten einfach.
Doch wenn ich das Gefühl habe, als Mutter meinen Weg verloren zu haben, mich in einem dunklen Wald zu befinden, wo der Boden rau und uneben ist, das Gelände fremd und die Luft kalt, finde ich oft, nachdem ich wieder zu mir gefunden habe, irgendetwas in meiner Tasche. Ich muss mich nur darauf besinnen, innezuhalten, zu atmen, meinen Blick nach innen zu richten und genau anzuschauen, was da ist.
Jeder schwierige Augenblick enthält die Möglichkeit, Augen und Herz zu öffnen. Jedes Mal, wenn ich plötzlich etwas verstehe, was eines meiner Kinder betrifft, lerne ich auch etwas über mich selbst und über das Kind, das ich selbst einmal war, und dieses Wissen dient mir fortan als Führer. Wenn ich den Schmerz, den ein Kind empfindet, mitzuempfinden vermag, wenn ich die konträren und irritierenden Verhaltensweisen akzeptieren kann, die meine Kinder manchmal ausprobieren oder manifestieren, dann heilt mich die Macht bedingungsloser Liebe ebenso, wie sie meine Kinder nährt. Während sie wachsen, wachse auch ich. Meine Transformationen finden in meinem Inneren statt.
Meine Sensibilität ist für mich mittlerweile nicht mehr von Nachteil, sondern sie ist zu meiner Verbündeten geworden. Im Laufe der Jahre habe ich gelernt, meine Intuition, meine Sinne, meine emotionale Antenne zu benutzen, um tief in die Ereignisse hineinzuschauen, mit denen ich in meinem Leben konfrontiert werde. Ein wichtiger Teil hiervon ist, dass ich versuche, die Dinge aus der Perspektive meines Kindes zu sehen. Diese Art der inneren Arbeit hat sich für mich als sehr wirksam erwiesen. Wenn ich mich dafür entscheiden kann, freundlich statt grausam zu sein, zu verstehen statt zu verurteilen, zu akzeptieren statt abzulehnen, werden meine Kinder innerlich gefördert und gestärkt, ganz gleich, in welchem Alter sie sich befinden.
Diese Einstellung zum Elternsein schafft Vertrauen. Es ist mir ein wichtiges Anliegen, dieses Vertrauen und das Gefühl grundlegender Verbundenheit zu erhalten, das im Laufe vieler Jahre emotionalen und physischen Bemühens zwischen uns entstanden ist. Wenn ich mich kurzzeitig zu Achtlosigkeit hinreißen lasse oder wenn ich zulasse, dass plötzlich alte destruktive Muster das Ruder in die Hand nehmen, so ist das ein Verrat am Vertrauen meiner Kinder, und ich muss nach solchen Augenblicken bewusst daran arbeiten, unsere Beziehung wieder aufzubauen und zu stärken.
In all diesen Jahren habe ich versucht, in meinem Leben als Mutter Augenblick für Augenblick achtsam zu sein: Indem ich beobachte, Fragen stelle, mir dessen bewusst werde, was ich am meisten schätze und wovon ich glaube, dass es für meine Kinder am wichtigsten ist. Obgleich unzählige Aspekte des Familienlebens in diesem Buch nicht behandelt werden, hoffe ich, dass es uns gelingen wird, durch Beschreibung der für Eltern relevanten inneren Prozesse und der Art, wie sie erlebt werden, einen Eindruck vom Erfahrungsreichtum und von den Wachstums- und Veränderungsmöglichkeiten zu geben, die ein achtsames Leben als Vater und als Mutter uns allen schenken kann.
Myla Kabat-Zinn
Teil Eins
Die Gefahr und
die Verheißung
Die Herausforderung der Elternrolle
Eltern erfüllen eine der anstrengendsten, schwierigsten und stressigsten Aufgaben auf der Welt. Gleichzeitig ist es auch eine der wichtigsten, denn wie sie sie erfüllen, wirkt sich entscheidend auf Herz, Seele und Bewusstsein der nächsten Generation aus – darauf, worin diese jungen Menschen den Sinn ihres Lebens sehen und wie sie sich mit der Welt insgesamt verbunden fühlen; auf ihr Repertoire an lebenswichtigen Fähigkeiten, auf ihre tiefsten Gefühle für sich selbst sowie auf ihre Chancen, in einer sich schnell verändernden Welt zu überleben. Doch in einer Welt, die der Produktion von materiellen Dingen einen weitaus höheren Wert beimisst als der Art, wie Kinder aufwachsen, übernehmen angehende Eltern ihre wichtige Aufgabe fast immer ohne jede Vorbereitung oder mit nur sehr geringer Unterstützung.
Gute Handbücher für Eltern können uns manchmal helfen, einige Situationen auf eine neue Weise zu sehen, und uns vielleicht beruhigen, wenn wir uns unnötige Sorgen machen. Vor allem in den frühen Jahren der Elternschaft können sie Hinweise zur Lösung bestimmter Probleme liefern und deutlich machen, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, die Dinge zu sehen. Sie bringen uns auch zu Bewusstsein, dass wir mit unseren Schwierigkeiten