Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen. Daniel Siegel

Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen - Daniel Siegel


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Gehirnaktivitäten zum Geist zu gelangen. Eine Energie, die man im Geist beobachten kann, wäre zum Beispiel die körperliche Eigenschaft der Stimmlautstärke, der Zustand der Wachheit oder Müdigkeit, den man gerade verspürt, oder die Intensität der Kommunikation mit einer anderen Person. Ein Neurowissenschaftler würde untersuchen, wie viel Energie in den verschiedenen Bereichen des Gehirns verwendet wird. Das geschieht mit Hilfe eines Gehirnscans, der anhand des erhöhten Stoffwechsels in bestimmten Regionen zeigt, wo verschiedene chemische Stoffe verbraucht werden oder wo der Blutdruck erhöht ist, oder mit Hilfe eines Elektroenzephalogramms, kurz EEG, das die elektrischen Gehirnwellenmuster abbildet. Der Informationsfluss im Geist wären die Worte, die Sie gerade lesen, das heißt, deren Bedeutung, nicht die Druckerschwärze auf dem Papier oder der Klang der Worte. Frei nach Mark Twain ist der Unterschied zwischen der Bedeutung des richtigen Worts und der des beinahe richtigen Worts der gleiche wie der zwischen einem Blitz und einem Glühwürmchen. Bedeutung ist ein sehr gewichtiger Aspekt der Informationsverarbeitung im Geist. Die Symbolik, die wir für die Welt verwenden, hat einen unmittelbaren Einfluss auf unsere Wahrnehmung der Realität. Im Gehirn werden Informationen durch das Feuern entlang der Nervenverbindungen in verschiedenen Schaltkreisen erzeugt. Die Gehirnregion bestimmt die Art der Information (Sehen oder Hören); das spezifische Muster bestimmt den jeweiligen Inhalt (Sehen des Eiffelturms und nicht der Golden Gate Bridge).

      Bei der Geburt zählen Menschen zu den hilflosesten Geschöpfen. Menschenkinder werden mit sehr schwach entwickelten Gehirnen geboren und sind für ihr Überleben auf die Hilfe Erwachsener angewiesen. Das heranwachsende Gehirn eines Kindes entwickelt seine erforderliche Komplexität aufgrund von Erbinformationen und von Erfahrung. Anders ausgedrückt: die Unreife des kindlichen Gehirns bedeutet, dass Erfahrungen eine entscheidende Rolle dabei spielen, welche einmaligen Eigenschaften durch die entstehenden Nervenverbindungen festgelegt werden. Sogar gerade die Gehirnstrukturen, die es ermöglichen, dass Erfahrungen wahrgenommen und gespeichert werden können, werden durch Erfahrungen geformt.

      Die Betreuung durch Erwachsene fördert die Entwicklung der für das Überleben notwendigen geistigen Werkzeuge. Diese Bindungserfahrungen lassen Kinder gedeihen und machen sie flexibel und anpassungsfähig für einen ausgeglichenen Umgang mit ihren Emotionen, ihren Gedanken und ihrem Einfühlungsvermögen gegenüber anderen. Die Neurowissenschaft zeigt, dass diese geistigen Fähigkeiten durch die Integration bestimmter Schaltkreise im Gehirn entstehen. Davon unabhängige Ergebnisse der Bindungsforschung legen dar, welche Arten von Beziehungserfahrungen notwendig sind, damit ein Kind gedeiht und sich diese geistigen Prozesse gut entwickeln. Die interpersonelle Neurobiologie setzt die Puzzleteile des Elefanten, den die blinden Männer ertasten, zusammen und gelangt dadurch zu dem Ansatz, dass Bindungsbeziehungen wahrscheinlich die Entwicklung der integrativen Fähigkeiten des Gehirns unterstützen, indem sie den Erwerb dieser emotionalen, kognitiven und zwischenmenschlichen Fähigkeiten ermöglichen.

      Gedächtnis, Gehirn und Entwicklung: Unsere Erinnerungen prägen uns

      Die Gedächtnisforschung ist ein spannendes Gebiet mit einer Fülle neuer Erkenntnisse über die Art und Weise, wie sich Erfahrung auf Geist und Gehirn auswirkt. Wir wissen heute, dass Erfahrung die Verbindungen zwischen den Neuronen verändert und somit ein ganzes Leben lang das Gehirn formt. Eine „Erfahrung“ ist für das Gehirn das Feuern von Neuronen, wenn Ionen an diesen lang gestreckten Grundbausteinen des Gehirns entlangfließen. Im Gehirn befinden sich mehr als drei Millionen Kilometer Nervenfasern. Jedes der zwanzig Milliarden Neurone des Gehirns ist im Durchschnitt mit 10 000 weiteren verbunden. Daraus ergibt sich ein unglaublich komplexes, ineinander verwobenes Netzwerk aus Billiarden von Synapsen, oder neuronalen Verbindungen. Manche schätzen die Anzahl der Muster, in denen Neurone feuern – insgesamt im Gehirn mögliche Schaltungen von aktiven und inaktiven Neuronen – auf zehn hoch eine Million; also zehn, eine Million Mal mit zehn multipliziert. Das menschliche Gehirn wird als das komplexeste aller Gebilde natürlicher oder künstlicher Art im Universum angesehen.

      Die Wissenschaft hat gezeigt, dass das Gedächtnis mit Veränderungen in den Neuronenverbindungen arbeitet. Wenn Neurone gleichzeitig aktiviert werden, erzeugt dies assoziative Verknüpfungen. Beißt uns ein Hund gerade in dem Moment, wo wir ein Feuerwerk hören, so kann daraus nicht nur eine Assoziation von Schmerz und Angst mit Hunden, sondern auch mit Feuerwerken entstehen. Dem ein halbes Jahrhundert alten Axiom des kanadischen Arztes und Psychologen Donald Hebb zufolge, entstehen diese Verknüpfungen, weil Neurone die gemeinsam aktiviert werden, sich miteinander verbinden: „Neurons which fire together, wire together.“ Vor wenigen Jahren erhielt der Psychiater und Neurobiologe Eric Kandel den Nobelpreis für den Nachweis, dass bei Neuronen, die wiederholt feuern (aktiviert werden), das genetische Material im Neuronenkern „angeregt“ wird, neue Proteine herzustellen, welche den Aufbau neuer Synapsenverbindungen zwischen den Neuronen ermöglichen. Das Feuern von Neuronen (Erfahrung) aktiviert genetische Mechanismen, die es dem Gehirn erlauben, seine internen Verknüpfungen (Gedächtnis) zu verändern.

      Das Gehirn entwickelt sich auch, wenn Neurone wachsen und neue Verbindungen untereinander knüpfen. Das ist der Grund, warum die Wissenschaft uns sagt, dass Erinnerung und Entwicklung zwei einander überlappende Vorgänge sind: Erfahrungen beeinflussen, wie sich die Gehirnstruktur entwickelt; unsere Gene bestimmen zu einem großen Teil, wie sich Neurone miteinander verbinden. Aber genauso wichtig ist es, dass Erfahrung diese Gene überhaupt erst dazu aktiviert, den Verknüpfungsprozess zu beeinflussen. Es ist nutzlos, über diese voneinander abhängigen Vorgänge zu streiten und sie in allzu vereinfachenden Diskussionen gegeneinander zu setzen: etwa Erfahrung gegen Biologie oder Veranlagung gegen Erziehung zu setzen. Die Gehirnstruktur wird durch Erfahrung geformt. Erfahrung ist Biologie. Wie wir unsere Kinder behandeln, beeinflusst, wer sie sind und wie sie sich entwickeln. Ihre Gehirne bedürfen unserer elterlichen Beteiligung. Veranlagung benötigt eine Art äquate Beziehung.

      Das Gehirn ist so aufgebaut, dass es sich im Allgemeinen selbst um die Grundlagen für eine normale Entwicklung kümmern kann – wir müssen lediglich die Erfahrungen von Interaktion und Reflexion beisteuern, die das wachsende soziale Gehirn eines Kindes benötigt, und keineswegs Sinne und Körper mit Reizen überfluten. Eltern formen aktiv die Gehirne ihrer heranwachsenden Kinder. Das unreife Gehirn eines Kindes ist so empfänglich für soziale Erfahrungen, dass Adoptiveltern eigentlich auch leibliche Eltern genannt werden sollten, da die familiären Erfahrungen, die sie erzeugen, die biologische Struktur der Gehirne ihrer Kinder formen. Die Zeugung ist nur ein Weg, wie Eltern biologisch auf das Leben ihrer Kinder Einfluss nehmen.

      Erfahrung und die Entwicklung des Gedächtnisses und des Selbst

      Erinnerungen sind durch Erfahrung hervorgerufene neuronale Verbindungen, bei denen gegenwärtige und zukünftige Aktivierungsmuster von Neuronen auf eine bestimmte Weise verändert werden. Wenn Sie nie zuvor von der Golden Gate Bridge gehört haben, dann werden diese Worte in Ihnen eine andere Reaktion auslösen als bei jemandem, der in San Francisco lebt und sich die Brücke leicht vorstellen sowie damit verknüpfte Wahrnehmungen, Emotionen und andere Assoziationen hervorrufen kann. Die beiden Hauptarten von Erinnerungen, explizite und implizite, sind ziemlich verschieden voneinander. Ein Säugling verfügt bereits ab der Geburt oder sogar früher über, wenn auch noch im Wachstum begriffene, funktionsfähige Schaltkreise für das implizite Gedächtnis (für Emotionen, Verhalten, Wahrnehmungen und körperliche Erfahrungen). Zu dieser Form des Gedächtnisses gehört auch die Art und Weise, wie das Gehirn Erfahrungen zu mentalen Modellen zusammenfasst.

      Das explizite Gedächtnis verwendet grundlegend die gleichen Speichermechanismen wie das implizite Gedächtnis. Zusätzlich werden die Informationen jedoch noch durch eine integrierende Region des Gehirns verarbeitet, die man Hippocampus nennt. Daher ist es auf die Ausreifung dieser Region angewiesen, die erst im Alter von ungefähr anderthalb Jahren beginnt. Bis dahin ist das explizite Gedächtnis noch nicht in vollem Umfang verfügbar. Mit der Entwicklung des Hippocampus ist der Geist nun fähig, Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Elementen des impliziten Gedächtnisses herzustellen, und die integrierten neuronalen Repräsentationen von Erfahrungen in ihrem Kontext abzubilden. Damit ist die Grundlage für die faktenorientierte und dann autobiografische Form des expliziten Gedächtnisses gelegt. Der Hippocampus dient also sozusagen als „Kartograph des Denkens“, indem er assoziative Verbindungen zwischen den Repräsentationen herstellt, die zeitlich getrennt sind oder verschiedenen Arten der Wahrnehmung (Sehen,


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