Handbuch der Interpersonellen Neurobiologie. Daniel Siegel

Handbuch der Interpersonellen Neurobiologie - Daniel Siegel


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Praxis sind. Mithilfe der absichtsvollen Kultivierung des achtsamen Gewahrseins kann das Gehirn stimuliert werden, um differenzierte* Gebiete miteinander zu verbinden, und Beziehungen können empathischer werden. Weil der Geist sowohl verkörpert als auch relational ist, zeigt die Verwendung dieser Form des Gewahrseins zur Förderung der Integration, wie wir unsere Gesundheit in vielen Aspekten unseres Lebens stärken können.

      Aus Sicht der Interpersonellen Neurobiologie ist jede absichtsvolle Schaffung von Integration ein Teil des übergeordneten Ansatzes zur Verbesserung unserer Gesundheit. Wir sehen, dass die Übungen achtsamen Gewahrseins nicht nur ein grundlegender Teil der klinischen Interventionen, sondern ein wichtiges Element überhaupt aller pädagogischen Erfahrungen sind. Oft erfordern solche Übungen, dass wir uns eine „Einkehrzeit*“ nehmen, um über die innere Natur unseres subjektiven mentalen Lebens zu reflektieren*. Eine solche Einkehr können wir uns innerlich einstimmen, wobei ein beobachtendes Selbst die Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt auf ein erfahrendes Selbst im gegenwärtigen Augenblick fokussieren kann. Durch die zunehmende Fähigkeit zur inneren Einstimmung können wir vermuten, dass der Mensch tatsächlich die gleichen neuronalen Mechanismen nutzt, die auch im Kern der interpersonellen Einstimmung liegen. Auf diese Weise kultiviert das achtsame Gewahrsein in solch einer Einkehrzeit tatsächlich die neuronalen Voraussetzungen für Empathie und Mitgefühl gegenüber anderen. Einstimmung ist der gemeinsame Mechanismus, den wir in gesunden Beziehungen mit anderen, und in den Beziehungen, die wir mit uns selbst führen, finden. In diesem Sinne können wir Achtsamkeit als eine Möglichkeit verstehen, unser eigener bester Freund zu werden. Viele Studien legen nahe, dass der wirksamste Faktor zur Förderung von Gesundheit, Langlebigkeit und „Glück“ unsere interpersonellen Beziehungen sind. Könnte deshalb vielleicht auch Achtsamkeit eine Möglichkeit sein, um nicht nur unsere sozialen Verbindungen zu verbessern, sondern auch unsere Beziehung mit uns selbst? Stellen Sie sich vor, dass Sie Ihr Zuhause – Ihren Körper – mit Ihrem besten Freund teilen, statt mit einem neutralen Beobachter oder gar einem feindseligen Gegner. Das ist die Kraft der Achtsamkeit, durch die wir mittels des Dreiecks* der menschlichen Erfahrung Wohlbefinden schaffen können. Warum sollten wir solch ein integratives Training nicht jedem zugänglich machen und eine regelmäßige Einkehrzeit für junge und alte Menschen fördern? So könnte ihr Gehirn integrierter, ihre Beziehungen mit sich selbst und anderen freundlicher und bedeutungsvoller* und ihr Geist flexibler und widerstandsfähiger werden.

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      Aufmerksamkeit

      Worum geht es?

      Aufmerksamkeit* ist der Prozess*, der die Richtung des Energie- und Informationsflusses* formt. Aufmerksamkeit kann im Bewusstsein* sein, dann sind wir uns des Objektes unserer Aufmerksamkeit bewusst. Aufmerksamkeit kann auch nicht-bewusst* sein, dann ist der Energie- und Informationsfluss ausgerichtet, doch wir uns dieses Flusses* nicht bewusst. Die Fachbegriffe dafür sind fokale (bewusste) und nichtfokale (unbewusste) Aufmerksamkeit.

      Implikationen: Was bedeutet Aufmerksamkeit für unser Leben?

      Wenn wir das Gewahrsein* nutzen, um absichtsvoll die Richtung des Energie- und Informationsflusses zu verändern, stärken wir die Fähigkeit zu fokaler Aufmerksamkeit, durch die wir die Möglichkeit zur Entscheidung und Flexibilität stärken. Wir können auswählen, worauf wir unsere Aufmerksamkeit lenken, wir können diese Aufmerksamkeit aufrechterhalten und dann die Aufmerksamkeit wechseln, wenn es nötig ist. Wir können Kindern, Jugendlichen und sogar Erwachsenen vermitteln, wie sich die fokale Aufmerksamkeit stärken lässt. In vielerlei Hinsicht ermöglicht uns die fokale Aufmerksamkeit, Absichten* in Handlungen zu verwandeln und dabei ein Gefühl von Sinn und Entscheidungsfreiheit zu empfinden. Wenn in einem Moment die fokale Aufmerksamkeit verwendet wird, wird unsere explizite Erinnerung* für dieses Ereignis effektiver gebildet. Die langfristige Codierung* der Erinnerung erfordert die Festigung der synaptischen Verknüpfungen* zwischen Neuronen* durch langfristige Potentiation. Wenn diese Formen von gespeicherter Erinnerung explizit codiert werden, dann sind sie als faktische und autobiographische Repräsentationen* zugänglich und können, wenn nötig, durchsucht werden. Die explizite Erinnerung ist flexibler und flüssiger als ihr impliziter Gegenpart.

      Auch die nichtfokale Aufmerksamkeit formt unsere Erinnerung, aber sie beeinflusst vor allem die implizite Erinnerung*, die unsere Emotionenn*, Wahrnehmungen*, unser Gefühl, mit etwas vertraut zu sein, und unseren körperlichen Ausdruck codiert* und speichert*. Wenn die fokale Aufmerksamkeit blockiert ist, wie es bei einer traumatischen* Erfahrung der Fall sein kann, dann kann die explizite Erinnerung, die im Hippocampus* in der limbischen Region* entsteht, nicht gebildet werden. Auch in solch einer Situation formen sich Verbindungen zwischen den Neuronen – die Grundlage von Erinnerung –, aber daran sind Regionen des Gehirns* beteiligt, die nicht durch den Hippocampus miteinander verknüpft sind. Diese impliziten neuronalen Verbindungen beeinflussen dann unsere Gefühle, Gedanken, unsere Entscheidungsfindung und unsere Verhaltensreaktionen, doch oft kennen wir die Ursachen dieser impliziten Einflüsse nicht. Ein Beispiel: Studien deuten darauf hin, dass die Basalganglien, die unter dem Cortex* liegen, für regelkonformes Verhalten verantwortlich sind, das man implizit erlernen und automatisch anwenden kann. Zudem scheint die Amygdala* auch die emotionalen Reaktionen – beispielsweise Angst – implizit zu verschlüsseln, weshalb wir durch Priming darauf vorbereitet werden, in dieser Weise zu reagieren.

      Eine Erklärung für diese Forschungsergebnisse wäre, dass die nichtfokale Aufmerksamkeit die Informationen* formt, die in der impliziten Erinnerung gebildet werden. Diese neuronale Verbindung benötigt nicht den Hippocampus zur Codierung oder zur Wiedererinnerung*. Mit anderen Worten, wenn Informationen ohne Gewahrsein (nichtfokal) reguliert* werden, dann werden neuronale Netze* aktiviert, die die Erfahrung als implizite Erinnerung codieren und speichern. Der Hippocampus ist nicht daran beteiligt, denn diese integrative Struktur benötigt Gewahrsein (Präsenz mit fokaler Aufmerksamkeit), um die Integration* von Erfahrungen zu gewährleisten. Deshalb sind die Elemente, die gebildet werden, wenn nur die nichtfokale Aufmerksamkeit benutzt wird, um eine Erfahrung zu verarbeiten, nur in einer impliziten Form vorhanden.

      Geteilte Aufmerksamkeit ist der Prozess, bei dem die fokale Aufmerksamkeit auf einen Aspekt einer Erfahrung gelenkt wird, zum Beispiel ein nicht-traumatisierendes Element der Umgebung während eines Angriffs. Die nichtfokale Aufmerksamkeit wird auf ein anderes Element einer Erfahrung gerichtet, beispielsweise auf den traumatisierenden Aspekt des Ereignisses. In der Erfahrung der geteilten Aufmerksamkeit sind wir uns dessen bewusst, was im Brennpunkt der fokalen Aufmerksamkeit lag, doch wir sind uns nicht der nichtfokal wahrgenommenen Elemente bewusst; sie werden in impliziter Form codiert und gespeichert. Auf diese Weise kann geteilte Aufmerksamkeit zu einer Blockade der expliziten Codierung der traumatischen Aspekte einer Erfahrung führen, weil diese Aspekte während der Erfahrung nicht im Brennpunkt der Aufmerksamkeit lagen. Nur implizite Elemente werden codiert und gespeichert. Zusätzlich zum Mechanismus der geteilten Aufmerksamkeit kann die Freisetzung großer Mengen Cortisol die Aktivierung des Hippocampus noch stärker behindern. So wird die explizite Codierung einer überwältigenden Erfahrung verhindert. Die gleichzeitige Freisetzung von Katecholaminen (Noradrenalin oder Adrenalin) kann zudem die Codierung impliziter Erinnerung der Aspekte des Traumas verstärken, die körperlich schmerzhaft und emotional leidvoll sind und die mit nichtfokaler Aufmerksamkeit wahrgenommen wurden. Leider werden die nichtfokale Aufmerksamkeit und die darauf folgende Bildung impliziter Erinnerungen an eine traumatische Erfahrung nicht von der Teilung der Aufmerksamkeit behindert. Sie könnten durch diese Freisetzung von Noradrenalin sogar noch verstärkt werden.

      Dieses Profil der zunehmenden impliziten Erinnerung und der blockierten Codierung expliziter Erinnerung bei einer traumatischen Erfahrung könnte ein wichtiger Mechanismus bei der Entstehung einer posttraumatischen Belastungsstörung sein. Aus Sicht der Interpersonellen Neurobiologie* ist ein Trauma ein schmerzvolles Beispiel für eine mangelhafte Integration.

      Ein Verständnis dessen, was für eine Rolle nichtfokale Aufmerksamkeit und fokale Aufmerksamkeit bei der unterschiedlichen Codierung impliziter und expliziter Erinnerung spielt, kann uns nicht nur helfen, die Wirkung von Traumata auf den Geist* zu verstehen,


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