Der direkte ZEN-Weg zur Befreiung. Zensho W. Kopp
In der unmittelbaren Gegenwart des Jetzt befinden wir uns in der zeitlosen Ewigkeit des Seins. Deshalb müssen wir den gegenwärtigen Augenblick hellklar bewusst und stets neu erfahren, indem wir uns ganz auf ihn einlassen – frei von allen Vorstellungen und Konzepten.
Wir müssen die Wahrheit des Zen wirklich ganzheitlich erfahren und mit unserem ganzen Sein innerlich aufnehmen und erleben. Doch da wir das unaussprechliche, tiefe Geheimnis des Zen mit unserem Denken nicht erfassen können, bedürfen wir der wortlosen Einweihung durch einen erleuchteten Meister, damit sich unser inneres Auge der Erkenntnis öffnet. Dies geschieht in der Tradition des Zen in einer direkten, geheimen Übertragung von Herz-Geist zu Herz-Geist. Deshalb sagt der chinesische Zen-Meister Huang-po (9. Jh.):
Es gibt kein Verständnis durch Worte, sondern nur eine Übertragung von Geist zu Geist.
In ihrer kraftvollen, direkten Art der Vermittlung ermahnen die Meister des Zen ihre Schüler immer wieder, nicht an Worten zu haften, weil die höchste Wahrheit nicht ausgesagt werden kann, nie ausgesagt worden ist und nie ausgesagt werden wird. Denn die höchste Wahrheit ist dynamisch und lebendig, während unsere Begriffe statisch und tot sind.
Deshalb fordert uns Zen auf, unseren Geist von allem – was es auch sei – zu befreien und uns nicht auf irgendwelche künstlichen Methoden zum Erlangen der Wahrheit zu verlassen. Folgen wir also dieser Auffassung und ergreifen wir das Schwert der nicht-unterscheidenden Weisheit und zerschlagen wir jetzt, in diesem Augenblick, die Fesseln unserer verstandesmäßigen Interpretationen. Mit den kraftvollen Worten des chinesischen Zen-Meisters Shüeh-tou (11. Jh.):
Wo das Schwert der Weisheit herniedersaust, verlieren Sonne und Mond ihr Leuchten, und Himmel und Erde verlieren ihre Farbe. Durch diese Erfahrung platzen die Wänste der Teufel, und es öffnet sich dir das Auge der transzendenten Weisheit.
Zen ist keine Angelegenheit des Lernens, sondern vielmehr eine des Verlernens. Es ist eine Rückkehr zum Ursprung unseres wahren Seins. Das heißt: Wir müssen unser ganzes illusorisches Wissen und unsere bisher angesammelten Kenntnisse über Zen und Buddhismus vollkommen hinter uns lassen, wenn wir die unvergleichliche Erleuchtung erlangen wollen. Man mag diesen Lehren allenfalls einen hinführenden, vorbereitenden Wert zugestehen.
Doch in den Augen der großen alten chinesischen Zen-Meister wie Lin-chi, Ma-tsu, Hui-neng und Huang-po waren alle Schriften des traditionellen Buddhismus nur wertloses Papier. So sagt auch der chinesische Zen-Meister Yung-chia (8. Jh.):
Unmittelbar die Wurzel abschneiden, das ist das Siegel des Buddha. Um das Aufsammeln von Blättern und die Suche nach Zweigen kümmere ich mich nicht.
Wenn wir also die tiefe Wahrheit des Zen wirklich erfahren wollen, müssen wir uns direkt auf sie einlassen und es vermeiden, dass uns Begriffe und Vorstellungen von der Wirklichkeit trennen. In der Sprache des Zen: »Wo nichts gesucht wird, ist der ungeborene Selbst-Geist gegenwärtig.« Deshalb geben Zen-Meister keine langen Erklärungen ab und definieren auch nichts, denn definieren heißt Grenzen setzen.
Der Selbst-Geist ist Buddha
Zen verweist stets mit äußerstem Nachdruck auf den »Herz-Geist«, als die wahre Wesensnatur des Menschen, um uns zu befähigen, die Wahrheit »in uns selbst« zu entdecken und zu unserer ursprünglichen Buddha-Natur zu erwachen. Denn es ist vollkommen unmöglich, den Selbst-Geist, das heißt unser wahres Selbst, woanders zu finden als in unserem eigenen Geist. Wir können noch so viel im Äußeren suchen, doch wie sollte es möglich sein, uns selbst zu finden, wenn wir woanders suchen als in uns selbst? Hierzu sagt der chinesische Zen-Meister Yüan-wu (12. Jh.):
Die große Wahrheit des Zen ist in jedermanns Besitz. Schau nur in dein eigenes, wahres Wesen und suche es nicht durch andere. Dein eigener Geist ist jenseits aller Form, er ist frei und still und sich selbst genügend. Immerwährend offenbart er sich selbst. In seinem Licht löst sich alles auf.
Zen-Meister Yüan-wu gibt uns hier den guten Rat: »Schau nur in dein eigenes, wahres Wesen.«
Dieser wohlgemeinte Rat bezieht sich auf die Praxis der Zen-Meditation, als einem wesentlichen Grundelement des Zen. Obwohl dem so ist, beschäftigen sich heutzutage die meisten Anhänger des Zen-Buddhismus nur theoretisch mit der Lehre des Zen. Das ist ein sehr bedauerlicher Zustand.
Denn ohne die in der Zen-Meditation verwirklichte »Klarschau des Geistes« ist es nicht möglich, sich von dem Dualismus des unterscheidenden, begrifflichen Denkens zu befreien, der wie dunkle Wolken das Licht unseres wahren Selbst überdeckt. Deshalb sagt der chinesische Zen-Meister Hung-chi (12. Jh.):
Um Zen in seiner ganzen Tiefe zu erfahren, musst du den Geist klären und dich in die stille Übung des inneren Schauens versenken. Gewinnst du die völlig ungehinderte Einsicht in den Ursprung des Wirklichen, so ist der Geist offen, klar und hell wie der Mond, der das Dunkel der Nacht fortnimmt. Vollkommen ganz, vom Licht strahlend, leuchtet er durch das ganze Universum und durchschneidet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Die Zen-Meditation ist die unbedingte Voraussetzung zur Erleuchtung. Deshalb wird sie im Zen-Buddhismus als unentbehrliche Praxis auf unserem Weg zur Verwirklichung angesehen. Doch hat sich erst einmal unser inneres Auge der Erleuchtung geöffnet, wird die Meditation keine besondere Übung mehr sein. Denn sie wird jetzt zu einem ganz natürlichen und spontanen Ausdruck unseres täglichen Lebens. Ob wir sitzen oder stehen, wo wir auch sind und was wir gerade tun, alles wird zur wunderbaren Meditation.
In diesem Bewusstseinszustand des anstrengungslosen, mühelosen Gewahrseins des Geistes befinden wir uns in der allumfassenden Ganzheit des Seins und erleben uns als eins mit allen Wesen. Zen-Meister Fen-yan (11. Jh.) gibt uns eine sehr gute Beschreibung dieser hohen Zen-Verwirklichung nach der Erleuchtung:
Ist das Zen zu deinem natürlichen Leben geworden, so bleibt dein Geist gelassen und wird von weltlichen Belangen nicht berührt. Du befindest dich im Reich der Erleuchtung, transzendierst die gewöhnliche Welt und bist vollkommen frei inmitten der Menschen. So bist du in vollkommener Einheit mit dem, was jenseits der Welt ist, und umfängst zugleich, was in den Bereichen des Daseins ist.
Das hier Gesagte bezieht sich auf jene absolute Verwirklichung, bei der das Mumonkan, »Das torlose Tor« zur grenzenlosen Befreiung, wirklich vollkommen durchschritten wurde. Denn nur wenn wir wirklich »tiefgreifendes Satori«, die große Erleuchtung, erfahren haben und nicht nur ein kurzes Aufblitzen unserer Wesensnatur, dann ist dies die große Befreiung. Doch obwohl Satori in einem Augenblick erfahren wird, muss dieses erleuchtete Bewusstsein von hellstrahlender Klarheit über eine lange Zeit mitten im Leben gefestigt werden. Dann erst gelangen wir zur Hum-Verwirklichung mitten in der Welt.
Dieses verwirklichte, hellklare Bewusstsein kann nicht mehr verloren gehen. Das ganze Sein hat sich gewandelt, so dass unser ganzes Leben zu einer Erfahrung der allumfassenden Ganzheit des Seins geworden ist. Hierdurch erleben wir Samsara und Nirvana als untrennbare Einheit.
Koan-Praxis
Ein weiteres wesentliches Element, neben der Meditation, ist im Zen die Auseinandersetzung mit einem »Koan«. Ein Koan ist ein Paradoxon, ein geistiges Problem, das der Zen-Schüler von seinem Meister erhält und dessen Auflösung mittels seines unterscheidenden Denkens nicht möglich ist. Es ist ein praktisches und äußerst kunstvolles Hilfsmittel, das die alten chinesischen Meister geschaffen haben, um uns in unserem Bemühen um Erleuchtung zu helfen.
Die großen chinesischen Meister des goldenen Zeitalters des Zen waren sehr schöpferische Geister, die die Fähigkeit besaßen, spontan Koans hervorzubringen, die dem jeweiligen Bewusstseinszustand ihrer Schüler angepasst waren.
Eines der bekanntesten Koans ist das folgende aus dem Mumonkan, dem »Torlosen Tor«, einer Koan-Sammlung aus dem 13. Jahrhundert des chinesischen Zen-Meisters Mumon:
Es ist wie bei einem Zen-Mönch, der sich mit seinen Zähnen an einem Zweig eines hohen Baumes festgebissen hat, ohne jeden anderen Halt. Seine Hände können keinen Ast ergreifen, seine Füße können den Baum nicht berühren.
Ein