Der Buddha - das bist DU. Woody Hochswender
Tiantai eine rigorose Ausübung. Sie bestand aus der Betrachtung des eigenen Geistes durch Meditation, tauchte tiefer und tiefer in die Innenwelt, bis die letztendliche Wahrheit der dreitausend Lebensbereiche in einem einzigen Lebensmoment erfasst werden konnte. Leider war diese Art von Ausübung nur für Mönche machbar, die grenzenlose Zeiträume in Kontemplation über die Botschaft verbringen konnten, die im Lotos-Sutra enthalten war. Kaum zu schaffen für Menschen, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten oder sich mit anderen Themen auseinander setzen mussten.
Das volle Erblühen des Buddhismus musste noch warten, bis er entlang der Handelswege Japan erreichte. Der Buddhismus wäre heute nicht so weit verbreitet und geschätzt ohne den unglaublichen Mut und Tiefblick eines japanischen Mönchs aus den dreizehnten Jahrhundert namens Nichiren.
Er rückte das Lotos-Sutra in einen so klaren Fokus, dass es für die Menschen und ihren Alltag direkt etwas bewirkte.
Buddhismus für moderne Zeiten
Nichiren, geboren 1222 in Japan, schuf eine konkrete und anwendbare Form für die buddhistische Philosophie, die Shakyamuni einst lehrte und Tiantai neu beleuchtete. Er fand das Herzstück des Lotos-Sutra, das die Erleuchtung des Buddha herbeiführte, und drückte es in einer Form aus, die alle Menschen anwenden konnten. Er bezeichnete es als die Anrufung von Nam-Myoho-Renge-Kyo, wie der Titel des Lotos-Sutra lautet.
Seine Leistung war vergleichbar mit dem Umsetzen einer komplexen wissenschaftlichen Theorie in etwas einfach Anwendbares. Genauso wie Benjamin Franklins Entdeckung der Elektrizität erst nutzbringend anwendbar wurde, als viele Jahre später Thomas Edison die Glühbirne erfand, war auch Shakyamunis Erleuchtung für die allermeisten Menschen unzugänglich, bis Nichiren die grundsätzliche Ausübung lehrte, durch die alle Menschen das Gesetz des Lebens in sich selbst hervorbringen konnten. Seine Umsetzung dieses Prinzips hatte die Kraft, alle Menschen, die damit in Berührung kamen, direkt zu bewegen. Damit brach in der Geschichte des Buddhismus eine neue Epoche an.
Er offenbarte damit die letztendliche Lehre des Mahayana – des großen Fahrzeugs – mit dem alle Menschen den Weg zur Buddhaschaft zurücklegen konnten. Nichiren sagte dazu:
»Wenn sich eine Schmeißfliege an den Schweif eines Vollblutpferdes hängt, kann sie zehntausend Meilen weit reisen, und der grüne Efeu kann tausend Fuß hoch wachsen, wenn er sich um eine große Kiefer windet.«5
Zum ersten Mal konnten gewöhnliche Menschen diese Reise, die vorher nur Heiligen und Weisen vorbehalten war, unternehmen.
Nichirens Buddhismus erwies sich für Millionen von Menschen als zutiefst wertvoll. Es war Nichiren, der das Wesentliche des Lotos-Sutra so ausdrückte, dass alle Menschen – unabhängig von ihrem aktuellen Wissensstand – die Schwelle zur Erleuchtung überschreiten konnten. Dies war eine revolutionäre Entwicklung in der Religionsgeschichte.
Der Buddhismus begann als Lehre eines einzelnen Menschen, der zum Gesetz des Lebens in seinem eigenen Inneren erwachte. Mittlerweile enthält er auch die Interpretationen dieser Lehre von den nachfolgenden Gelehrten und Propheten. Wie bereits erwähnt bedeutete das Wort Buddha ursprünglich »Erleuchteter«. Gemeint war damit jemand, der zur ewigen Wahrheit, zum Gesetz des Lebens – zum Dharma – erwacht war. Diese Wahrheit ist ewig und grenzenlos. Sie ist immer und überall gegenwärtig. So gesehen ist das Gesetz des Lebens nicht das Exklusiveigentum von Buddha Shakyamuni oder buddhistischen Mönchen.
Die Wahrheit steht jedem und jeder gleichermaßen offen.
In dem Buddhismus, der auf diesen Seiten beschrieben wird, gibt es keine Priester oder Gurus, keine letzte Autorität, die entscheidet, was korrekt oder inkorrekt ist, richtig oder falsch. In diesem Buddhismus wurde die Mauer zwischen Priesterschaft und Laientum niedergerissen, was zu einer vollständigen Demokratisierung der spirituellen Ausübung führte. Weil er seinem Wesen nach undogmatisch ist, passt er auch für die Skeptiker unter uns. Dieses höchste und allumfassende Gesetz, das der Buddha wahrnahm, könnte auch ein anderer Name für das Konzept sein, das einige von Gott haben. Andererseits kann ein Mensch, der nicht an einen menschenähnlichen Gott glauben kann, darin die Energie sehen, die im Universum wirkt. Der breite Zugang des Buddhismus integriert beide Ansichten und konzentriert sich dabei auf den einzelnen Menschen.
Hier gibt es nichts Äußeres, auf das man die Schuld schieben, und niemanden, den man um Erlösung anflehen könnte. Im Buddhismus gibt es weder einen Gott noch ein sonstiges übernatürliches Wesen, das unser Schicksal bestimmt.
In der westlichen Religion kannst Du durch Deinen Glauben Gott näherkommen, aber Du kannst niemals Gott werden. Im Buddhismus kann man niemals getrennt sein von der Weisheit Gottes, weil die letztendliche Weisheit bereits im Herzen eines jeden Menschen existiert. Durch die buddhistische Ausübung wollen wir diese universale Lebenskraft hervorrufen, die ursprünglich und ewig in uns vorhanden ist, also das, was wir Buddhaschaft nennen. Und wir wollen sie manifest und wirksam machen, indem wir ein Buddha werden.
Buddhisten werden sich der Existenz dieses ewigen Gesetzes bewusst, das sowohl das Universum als auch das eigene Selbst durchdringt; sie erfassen dieses Gesetz in ihrem tiefsten Innern. Das Ziel dabei ist, jeden Tag in Übereinstimmung mit diesem Gesetz zu leben. Indem sie dies tun, entdecken sie eine Lebensweise, die alles, was geschieht, wieder auf Hoffnung, Wert und Harmonie ausrichtet. Die Entdeckung dieses objektiven Gesetzes an sich, so wie es sich im einzelnen Menschen manifestiert, bringt alle spirituellen Werte hervor und nicht eine äußere Kraft, ein äußeres Wesen.
So erklärt es Nichiren in seinem berühmten Brief »Über die Verwirklichung der Buddhaschaft in diesem Leben«:
Ihre Ausübung der buddhistischen Lehren wird Sie nicht im Geringsten von den Leiden aus Geburt und Tod befreien, solange Sie nicht die wahre Natur Ihres Lebens erkennen. Wenn Sie die Erleuchtung außerhalb Ihrer selbst suchen, dann werden selbst zehntausend Ihrer Ausübungen und zehntausend gute Taten vergeblich sein. Es verhält sich damit wie bei einem armen Mann, der Tag und Nacht damit verbringt, den Reichtum seines Nachbarn zu zählen, doch dabei selbst auch nicht ein halbes Geldstück hinzugewinnt.6
Der Gedanke, dass die Kraft für das eigene Glück gänzlich in den eigenen Händen liegt, kann verstörend sein. Er bringt ein radikales Verantwortungsgefühl mit sich. Daisaku Ikeda schrieb dazu: »Die Gesellschaft ist komplex und harsch, und Du musst zuweilen schwer kämpfen, um in ihr zu überleben.
Niemand kann dich glücklich machen. Alles hängt davon ab, ob Du für Dich selbst Glück verwirklichen kannst oder nicht … Ein Mensch wird einem leidvollen Leben ausgesetzt sein, wenn er in Bezug auf seine äußere Umgebung schwach und verwundbar ist.«
Doch weit davon entfernt, ein düsteres, nihilistisches Lebensbild zu zeichnen, bieten die buddhistische Philosophie und Ausübung jede Menge Hoffnung und praktische Lösungen für die Probleme des täglichen Lebens. Die Philosophie, die wir in diesem Buch beschreiben, ist so praxisnah, dass wir sie meistens gar nicht als »Religion« bezeichnen, auch wenn es eine ist. Wir reden meistens von »Praxis« oder »Ausübung«, weil diejenigen, die sie anwenden, sie äußerst nützlich finden. Daher berührt dieses Buch zwar viele Fragen zur Theorie und Philosophie des modernen Buddhismus, doch der Schwerpunkt wird darauf liegen, wie Du, als einzelner Mensch, den Buddhismus als machtvolles Werkzeug nutzen kannst, um Deine Probleme zu lösen.
»Keine weltliche Angelegenheit steht jemals im Widerspruch zur wahren Wirklichkeit«, zitierte Nichiren aus dem Lotos-Sutra. Und weiter: »Alle Phänomene im Universum sind Manifestationen des buddhistischen Gesetzes.« Mit anderen Worten: Unser Alltag ist die Bühne, auf ihr wird der Kampf um Erleuchtung gewonnen oder verloren. Nichiren lehrte, dass Normalsterbliche die Buddhaschaft genau hier auf dieser Welt verwirklichen können, und zwar ohne ihre Begierden auszulöschen oder ihre Identität zu verändern. In einem Zeitalter, in dem Skeptizismus und weitverbreitetes Misstrauen gegenüber traditionellen Glaubenssystemen und Institutionen vorherrschen, gewinnt eine solche dynamische, in Eigenregie betriebene religiöse Ausübung umso mehr an Wert.
Der Buddhismus ist seinem Wesen nach unautoritär, demokratisch, wissenschaftlich und auf Einsichten basierend, die durch individuelle Anstrengungen zur Selbstvervollkommnung gewonnen wurden. Doch der Buddhismus hat auch