Das Erbe von Tench'alin. Klaus D. Biedermann
»Deinen Optimismus hätte ich auch gerne. Hier, du kannst deine Brille wiederhaben. Da kommen jetzt nur noch Bilder von Bushtown und deiner Rückkehr. Unsere Stadt kenne ich schon.«
Chalsea gab Nikita die Brille. Dann umarmte sie ihre beste Freundin. »Ich bin so froh, dass du wieder hier bist. Du hast mir sehr gefehlt.«
»Hey, ist dir etwa langweilig geworden? Was ist mit Pete, ist das mit euch etwa schon vorbei?«, fragte Nikita mit gerunzelter Stirn, weil es ihr merkwürdig vorgekommen war, dass Chal ihren neuen Freund, von dem sie noch vor einigen Wochen gar nicht genug hatte schwärmen können, bisher mit keinem Wort erwähnt hatte.
»Ach«, winkte Chalsea schnell ab und machte einen Schmollmund, »der hatte nur seinen Sport im Kopf, das ist mir zu wenig gewesen. Ich brauche einen Mann, der sich ab und zu um mich kümmert.«
Also ständig, behielt Nikita für sich und grinste.
Dass Chalsea Cromway gerade dabei war, sich alle romantischen Ideen über Männer abzugewöhnen, sagte sie Nikita nicht. Sie unterließ das aus zwei Gründen. Sie wollte deren Romanze nicht zerstören, und außerdem hätte sie ihr wahrscheinlich ohnehin nicht geglaubt. Schließlich war sie selbst noch bis vor Kurzem der Teil ihres Duos gewesen, der an einem Romantizismus litt, der unheilbar zu sein schien.
Sie saßen in ihrem Lieblingscafé, das in einer der mittleren Etagen des Delice lag, dort, wo die meisten Restaurants der Mall zu finden waren. Am frühen Mittag war das Frozen, auf dessen Spezialität schon sein Name hinwies, wohl wegen des schlechten Herbstwetters nicht einmal halb voll. Da die Medien bisher noch nichts berichtet hatten – das würde erst in ein paar Stunden geschehen – hatte Nikita diesen Treffpunkt gewählt.
Chalsea hatte ihr Wasser und den Kaffee bekommen.
Nikita rührte in ihrer Tasse und sah zu, wie sich die helle Creme an der Oberschicht langsam auflöste. Sie überlegte, ob sie ihrer Freundin die nächste Frage zumuten konnte. Irgendwann war sie mit dem Umrühren fertig und legte den Löffel auf der Untertasse ab.
»Glaubst du eigentlich an Reinkarnation, Chal?«
»An was soll ich glauben? An Re…in…kar…nation?«, fragte Chalsea gedehnt und mit zusammengekniffenen Augen. »Habe ich dich richtig verstanden, du meinst wirklich Wiedergeburt?«
»Ja, genau das meine ich ... also, glaubst du daran?« Spätestens jetzt sollte Chalsea wissen, dass ihre Frage ernst gemeint war.
»Nein, natürlich nicht! Das ist absoluter Humbug, das müsstest du als Wissenschaftlerin doch besser wissen. Wir sterben … und aus ist es. Haben sie dir das etwa da drüben eingetrichtert? Wie kommst du denn jetzt auf so etwas?«, fragte sie vorsichtig.
Nikita konnte ihrer Freundin gar nicht böse sein. Vor einigen Monaten hätte sie auf diese Frage ähnlich entsetzt oder mit einem flotten Spruch reagiert. Und jetzt konnte sie sich sogar an all ihre früheren Leben erinnern, wenn sie das wollte.
Sie amüsierte sich in diesem Moment innerlich über die Vorstellung, was die Nachricht, dass sie beide in einem früheren Leben sogar schon einmal Mutter und Tochter gewesen waren ... und Effel der Vater, bei Chalsea wohl auslösen würde.
»Was gibts denn da zu kichern?«
»Ich kichere doch gar nicht.«
»Doch, du kicherst ... innerlich ... ich habs genau gesehen, ich kenne dich.«
»Also gut, du hast recht, aber ich kann dir beim besten Willen nicht sagen, worüber. Du würdest mich auf der Stelle für verrückt erklären«, lachte Nikita jetzt laut.
»Wenn du so weitermachst, tue ich das auch«, lachte jetzt auch Chalsea, »hast du nicht einmal Physik und Psychologie studiert? Müsstest du nicht am besten wissen, wie diese Welt funktioniert?«
»Ja, das habe ich«, sagte Nikita und fuhr fort, »und schon da habe ich gelernt, dass man in diesem Universum nichts vernichten kann ... nur verändern. Schau mal«, sie zeigte auf das Glas Wasser, das neben ihrem Kaffee stand, »auch Wasser kann man nicht so einfach verschwinden lassen. Wenn du es kälter werden lässt, gefriert es irgendwann, und wenn du es genügend erhitzt, verdampft es. Aber in beiden Fällen ist es nicht weg ... es existiert nach wie vor, nur in einem anderen Aggregatzustand.«
»Du meinst also allen Ernstes, dass wir ... verdampfen, wenn es uns in dieser Form«, sie berührte ihren eigenen Arm, »nicht mehr gibt? ... Das ist jetzt nicht dein Ernst! Bitte sag mir, dass du das nicht so meinst.«
»Doch, so ungefähr meine ich das, nur dass der Dampf aus meinem Wasser-Beispiel unser Geist oder unsere Seele ist«, lächelte Nikita, »aber lassen wir das jetzt und freuen uns darüber, dass ich wieder hier bin … in dieser Form.«
Sie hielt es für besser, das Thema erst einmal ruhen zu lassen. Sie hatte ihrer Freundin schon genug zugemutet, indem sie sie ins Vertrauen gezogen hatte, was den Grund und das Ziel ihrer Reise anging. Sie konnte sich vorstellen, was passieren würde, wenn herauskam, dass sie Chalsea eingeweiht hatte, bevor alles von BOSST freigegeben und dann offiziell von den Medien ausgestrahlt wurde. Aber es ging nicht anders, sie brauchte jemanden ihres Vertrauens. Sie konnte das alles unmöglich für sich behalten.
Für dieses Gespräch hatten sie sich ganz bewusst ein öffentliches Café ausgesucht. Ihre eigenen Wohnungen waren Nikita zu unsicher vorgekommen. Sie konnte sich sehr gut vorstellen, dass sie dort in jedem Fall überwacht würde. Deswegen hatten sie sich vor zwei Tagen auch auf dem Golfplatz getroffen und eine halbe Runde gespielt, wobei das Spiel deutlich in den Hintergrund getreten gewesen war. Sie waren so in ihr Gespräch vertieft gewesen, dass sie sicherlich drei Flights hatten durchspielen lassen und sich jede Menge Kommentare hatten anhören müssen.
»Also ehrlich, Nik, ich finde dass Freude anders aussieht. Kann es sein, dass du zwar körperlich hier bist, der Rest aber noch ganz woanders ist?«, nahm Chalsea den Faden wieder auf.» Mag sein, nein ... es ist sicher so«, erhielt sie zur Antwort, »ich weiß, dass ich dir nichts vormachen kann.«
Nikita lächelte schwach. Sie fühlte sich innerlich so zerrissen.
Hier war ihre Arbeit an einem der größten Projekte der Menschheit und dort, in der anderen Welt, waren ihr Herz und das Leben, das sie wollte. Sie hatte sich noch nie so vollkommen wohl gefühlt wie in Seringat.
Das Delice war eine der größten Malls der Stadt im unteren Teil des Donald-Crusst-Towers und Nikita bewohnte ein paar hundert Yard weiter oben, im 80. Stockwerk, ein kleines Apartment, von dem aus man einen großartigen Blick auf die Stadt hatte, sofern die Wolken einem nicht gerade die Sicht versperrten. Sie war damals so stolz gewesen, als ihr die kleine Wohnung mit all den neuesten Errungenschaften von ihrer Firma angeboten worden war und sie diese ihren Eltern zeigen konnte. Gegen ihre Studentenbude war das der reinste Luxus.
Im Crusst-Tower wohnen zu dürfen, war ein Privileg, das ansonsten nur bereits verdienten Mitarbeitern der Firma zuteil wurde. Dass sie die Wohnung bekommen hatte, hatte sie anfänglich dem Umstand zugeschrieben, dass ihr Vater Senator war. Später allerdings war ihr klar geworden, dass dies bereits ein Köder für den Auftrag gewesen war, den sie gerade so erfolgreich erledigt hatte.
Nach ihrer Rückkehr vor drei Tagen war ihr das Apartment, auf das sie einmal so stolz gewesen war, wie ein Gefängnis vorgekommen. Ein Vogel in einem Luxuskäfig, war ihr durch den Kopf gegangen, als sie es das erste Mal wieder betreten hatte.
Sie war mit großem Bahnhof empfangen worden. Professor Rhin hatte mit einem riesigen Blumenstrauß am Pier gestanden. Er hatte sie lange umarmt, eine für ihn äußerst ungewöhnliche Geste, und ihr ständig Dinge ins Ohr geschrien wie: »Ich kann gar nicht sagen, wie stolz ich auf Sie bin … Sie werden in die Geschichte der Wissenschaft eingehen!«
Sechs weitere Personen, von denen Nikita allerdings nur zwei kannte, hatten ihn begleitet. Alma, seine Sekretärin, und der Leiter der Sicherheitsabteilung von BOSST. Später hatte sie erfahren, dass es sich bei den übrigen ebenfalls um Sicherheitsleute der Firma gehandelt hatte. Ihre ganz persönlichen Bodyguards sozusagen.
Dann waren sie in einem der Firmenhelikopter direkt nach Bushtown