Meditation ist nicht, was Sie denken. Jon Kabat-Zinn
Teil des menschlichen Lebens waren.
Zugleich, und es ist wichtig, auch diese Perspektive nicht außer Acht zu lassen, hat sich in Wirklichkeit gar nicht so viel verändert. Wie die Franzosen gern sagen: „Plus ça change, plus c’est la même chose.“ („Je mehr die Dinge sich ändern, desto mehr bleiben sie, wie sie sind.“) Gier, Hass und Verblendung sind seit Anbeginn aller Zeiten im menschlichen Geist am Werk, und sie haben endlose Gewalt und unendliches Leid hervorgebracht. Somit ist eigentlich klar, was wir derzeit auf der Erde zu tun haben – insofern wir diesen Weg zum eigenen Wohl und zum Wohl der Welt wählen. Und zugleich können wir sagen, dass der menschliche Geist, so er sich denn in der Tiefe selbst erkennt, auch seit Anbeginn aller Zeiten Schönheit, Güte, Kreativität und Einsicht gekannt hat. Großzügigkeit und Güte, Zärtlichkeit und Mitgefühl gehören ebenso wesentlich zur menschlichen Natur, wie auch in der Kunst, Musik, Poesie und Wissenschaft schon immer herausragende Werke geschaffen wurden und wie die Möglichkeit zu Weisheit und beständigem inneren und äußeren Frieden seit jeher existiert.
Die Kraft von Gewahrsein und Präsenz
Es steht außer Frage, dass Achtsamkeit, Mitgefühl und Weisheit wichtiger sind als je zuvor – auch wenn die Essenz der Achtsamkeit zeitlos und schon immer aktuell gewesen ist, zumal sie mit unserem Verhältnis zu diesem Moment und zu einem jeden anderen zu tun hat, wie auch immer er beschaffen sein mag. Nur in diesem gegenwärtigen Moment ist uns die Vergangenheit zugänglich. Und genauso ist es mit dem, was sich noch entfalten wird in einer Zukunft, die wir uns stetig vorzustellen und zu kontrollieren versuchen. Wenn Sie die Zukunft beeinflussen möchten, besteht Ihre einzige Möglichkeit darin, sich vollständig in den gegenwärtigen Moment zu begeben, was bedeutet, sich achtsam und mit ganzem Herzen darin niederzulassen. Das ist bereits eine Handlung, wenn es auch wirken mag wie Nichttun. Schon der nächste Moment wird voller neuer Möglichkeiten sein, wenn Sie bereit sind, in diesem ganz da zu sein. Lässt man sich vollständig im gegenwärtigen Augenblick nieder, zeigt sich, dass bereits der nächste (die Zukunft) ganz anders sein kann. Ein jeder Moment im Jetzt ist eine Weggabelung: Im nächsten kann sich alles Mögliche entfalten. Doch was sich entfaltet, hängt davon ab, ob und zu welchem Ausmaß man gewillt ist, in diesem Moment ganz, und ganz wach, da zu sein. Natürlich ist es mitunter wichtig, im Dienste von Weisheit, Mitgefühl, Gerechtigkeit und Freiheit zu handeln. Aber die Handlungen an sich können achtlos oder wirkungslos sein, wenn wir unser Tun nicht aus unserem Sein kommen lassen. Denn dann entsteht eine vollkommen andere Form von Tun … das, was wir „weises Tun“ oder „weises Handeln“ nennen, ein authentisches Tun, das in Achtsamkeit geformt wird.
Welchen besseren Zeitpunkt als jetzt könnte es geben, um in die Gewässer der Achtsamkeit als Praxis und Seinsweise zu steigen und damit einen lebenslangen Weg des Lernens, Wachsens, Heilens und der Transformation zu beginnen, fortzusetzen oder neu zu beleben? Dabei werden Sie paradoxerweise nirgendwo „hingehen“, da Sie schon sind, wer Sie sind, und zwar mit allem, was Sie ausmacht. Bei der Achtsamkeit kann und darf es nicht um eine Selbstoptimierung gehen, weil Sie bereits ganz, bereits vollständig, bereits vollkommen sind (mitsamt all Ihren „Unvollkommenheiten“). Vielmehr gibt Achtsamkeit Ihnen die Gelegenheit, sich genau so zu erkennen, trotz jeglicher Gegenargumente, die ein cleverer Teil Ihres Verstandes in ebendiesem Moment mobilisieren mag. Es geht darum, sich die volle Dimensionalität und Potenzialität dieses einen Lebens zurückzuerobern, welches das Ihre ist, um es zu leben, solange Sie die Möglichkeit dazu haben, und es auf eine oder mehrere von unendlich vielen kreativen Weisen zu verkörpern. Es birgt eine enorme Entscheidungsfreiheit und Kreativität, wenn wir unser Dasein Moment für Moment wach und bewusst leben.
Ein evolutionärer Bogen
Die Praxis der Achtsamkeit reicht über Tausende von Jahren in die indische und chinesische Kultur zurück, sogar noch vor Lebzeiten des historischen Buddha, obschon er und seine späteren Anhänger es waren, die die Praxis am klarsten und detailliertesten beschrieben haben. Der Buddha sprach von Achtsamkeit als dem „direkten Pfad“ zur Befreiung von Leid. Wie wir gesehen haben, kann man Achtsamkeit als eine Seinsweise betrachten, bei der immer wieder neu untersucht und neu artikuliert wird, was Wachsein ausmacht und wie diese Qualität in der jeweiligen Zeit und Kultur und angesichts neuer Herausforderungen verkörpert werden kann. Der Begriff „Achtsamkeit“ steht inzwischen für einen evolutionären Weisheitsbogen, der über die Jahrhunderte entstanden ist und nun neue Wege und Formen findet, um uns dabei zu helfen, die intrinsische Ganzheit unserer Leben als in hohem Maße miteinander verbundene Erdenbewohner zu erkennen und somit die Weiterentwicklung unserer äußerst jungen und frühreifen Spezies voranzubringen. Durch stetige Forschung und den Dialog zwischen Wissenschaftlern und Menschen, die sich der Kontemplation widmen, sowie durch die Arbeit einer steigenden Zahl von engagierten und gut ausgebildeten Achtsamkeitslehrern aus verschiedenen Traditionen und Kulturen können wir Achtsamkeit und ihre heilsamen und transformativen Auswirkungen auf immer fundiertere Weise verstehen und finden neue Wege, sie in verschiedenen Bereichen zu implementieren. Selbst Politiker und Regierungsinstitutionen werden auf die Qualität der Achtsamkeit aufmerksam. Sie bemühen sich um ihre Kultivierung und Praxis und setzen auf ihr Potenzial, um die Gesundheit bestimmter Bevölkerungsgruppen oder einer ganzen Nation zu fördern. Aber natürlich sollten wir nicht zu viele Hoffnungen auf die Politik setzen, außer vielleicht darauf, dass auch Politiker Menschen und unter Umständen in der Lage sind, für das größere Gute zu handeln und denjenigen zu helfen, die in der Gesellschaft systematisch entrechtet und entmachtet wurden.
Herausforderung und Hoffnung
Letztendlich kann man vielleicht sagen, dass die wichtigste Herausforderung für uns alle darin besteht, wenigstens ein klein wenig mehr aufzuwachen und zur Besinnung zu kommen, in welchem Ausmaß auch immer wir das können und wollen – sowohl ganz konkret als auch im übertragenen Sinne. Das gilt ganz besonders dann, wenn uns klar wird, dass Achtsamkeit im Grunde eine Liebesbeziehung mit dem tiefsten und besten Potenzial in uns Menschen ist. Dann werden wir besser in der Lage sein zu sehen, was gesehen werden muss, und zu fühlen, was gefühlt werden muss, und durch all unsere Sinne bewusster zu werden. Alles, was wir als Menschen erfahren, wartet im Grunde darauf, dass wir es ganz in unser Leben einladen, uns dessen bewusst werden und es zum Experiment oder Abenteuer unseres Lebens machen, mitzuerleben, wie es sich entfaltet, solange wir die Chance dazu haben. Damit treten wir ein in einen sich stetig ausweitenden Kreis von Intentionalität und gelebter Wachheit.
Möge Ihr Interesse für und Ihr Verständnis von Achtsamkeit wachsen und erblühen und eine Unterstützung und Bereicherung für Ihr Leben, Ihre Arbeit, Ihre Familie, Ihren Bekanntenkreis und diese Welt sein, der wir alle angehören, in jedem neuen Moment und an jedem neuen Tag.
Jon Kabat-Zinn
Northampton, MA
* Dazu zählen unter anderem MBCP (Mindfulness-Based Childbirthing and Parenting), MBRP (Mindfulness-Based Relapse Prevention) bei exzessivem Trinkverhalten, MBSPE (Mindfulness-Based Sport Performance Enhancement) und MBWE (Mindfulness-Based Wellness Education).
Einführung
Die Herausforderung eines Lebens – und eine lebenslange Herausforderung
Vielleicht ist es so,
dass wir dann zu unserer wahren Arbeit gelangt sind,
wenn wir nicht mehr wissen, was wir tun sollen,
und dass wir dann unsere wirkliche Reise angetreten haben,
wenn wir nicht mehr wissen, wohin wir gehen sollen.
WENDELL BERRY
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber meinem Eindruck nach sind wir auf diesem Planeten an einem kritischen Punkt angelangt. Von hier aus könnte sich unser aller Leben in ganz unterschiedliche Richtungen entwickeln. Die Welt scheint in Flammen zu stehen, und es sieht ganz danach aus, als hätten auch unsere Herzen Feuer gefangen – sie sind vielfach entflammt von Furcht und Ungewissheit, sie kennen häufig keine Überzeugungen mehr, und oft sind sie von einer leidenschaftlichen, aber unklugen Intensität erfüllt. Wie wir an diesem kritischen