Liebe und Eigenständigkeit. Alfie Kohn

Liebe und Eigenständigkeit - Alfie Kohn


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      Es kommt auch vor, dass ein Kind Angst hat, sich offen aufzulehnen, jedoch einen Weg findet, es hinter dem Rücken seiner Eltern zu tun. Ein autoritärer Erziehungsstil kann dazu führen, dass die Kinder sich so gut benehmen, dass die ganze Nachbarschaft die Eltern darum beneidet. Doch oft haben diese Kinder nur gelernt, ihr Fehlverhalten, das bisweilen erschreckend bösartig sein kann, besser zu verbergen. Nach außen hin scheinen sie perfekt zu sein, doch in Wirklichkeit führen sie ein „Doppelleben“, wie ein Therapeut es formuliert hat: „Die Kontrolle der Erwachsenen und ihre Machtausübung (machten es) nötig, eine Art Doppelleben zu etablieren – eines, zu dem die Eltern zugelassen waren, und eines, von dem sie möglichst nichts wissen sollten.“18 Solche Kinder können ein erhöhtes Risiko haben, diverse psychische Störungen zu entwickeln. Auch können sie große Angst vor den Menschen entwickeln, die sie so behandelt haben, und sich dauerhaft von ihnen entfremden. Ähnlich wie eine an Bedingungen geknüpfte Liebe kann eine starke Kontrolle manchmal auf kurze Sicht zu Erfolgen führen, jedoch um den Preis, dass unsere Beziehung zu unseren Kindern im Lauf der Zeit schwer geschädigt wird.

      Eine Mutter berichtete in einem Online-Diskussionsforum von einem verblüffenden Erlebnis. Sie erzählte, wie sie die Weihnachtsfeiertage einmal bei den Verwandten ihres Mannes verbracht habe, die mit strenger Disziplin erzogen worden waren und ihre Kinder nun ebenso erzogen. Während der Feiertage erzählten sie Geschichten über ihre diversen Jugendstreiche. „Diese wohlerzogenen, regelmäßig disziplinierten, höflichen Kinder verwandelten sich jedes Mal, wenn ihre Eltern ihnen den Rücken zuwandten, in wilde Rowdys“, berichtete sie. „Sie taten Dinge, die mir nie eingefallen wären.“ Auf ihrer Seite der Familie habe es dagegen „nie einen Verhaltensplan gegeben, ein Bonus- oder Bestrafungssystem, Stubenarrest, eine Tracht Prügel oder ein Wegnehmen von Vergnügungen“. Und ebenso wenig, beteuert sie, habe es ernsthaftes Fehlverhalten gegeben.

      Damit will ich nicht sagen, man müsse sich immer gleich Sorgen machen, wenn ein Kind sich auflehnt. Ein gewisses Maß an Nein-Sagen ist völlig normal und gesund, vor allem im Alter von etwa zwei oder drei Jahren und dann wieder im frühen Teenageralter. Vielmehr meine ich hier ein übertriebenes, reaktives Sich-Auflehnen, das länger andauert und tiefer geht. Solche Kinder sind der lebende Beweis dafür, dass ein Erziehungsstil, der vor allem Gehorsam zum Ziel hat, oft sogar nach seinen eigenen Maßstäben versagt, ganz abgesehen davon, dass er eine Menge weiterer Probleme schafft.

      Was ist die Alternative dazu, übermäßig folgsam zu sein oder sich übermäßig viel aufzulehnen? Was kennzeichnet solche Kinder? Wenn sie von ihren Eltern – und später auch von anderen Leuten – um etwas gebeten werden, sagen sie manchmal ja und manchmal nein und fühlen sich weder gezwungen, die Bitte zu befolgen, noch sich dagegen aufzulehnen. Oft tun sie das, worum man sie bittet, vor allem wenn sie den Eindruck haben, dass es vernünftig oder demjenigen, der die Bitte äußert, sehr wichtig ist. Mit einiger Wahrscheinlichkeit sind dies die Kinder von Eltern, die eine gute Vertrauensgrundlage aufgebaut haben, indem sie sie mit Respekt behandeln, ihre Bitten begründen und unrealistische Erwartungen an den Gehorsam der Kinder vermeiden. Solche Eltern haben sich mit der Tatsache angefreundet, dass ihre Kinder sich behaupten, indem sie sich ab und zu auflehnen, und sie überreagieren nicht, wenn dies geschieht.

      Zu viel essen, weniger Freude an dem, was man tut – und andere Folgen von Kontrolle

      In Kapitel 2 habe ich die Auswirkungen eines an Bedingungen geknüpften Selbstwertgefühls geschildert und die Arbeiten der an der Universität Rochester tätigen Psychologen Richard Ryan und Edward Deci erwähnt. (Deci war auch an der Studie an Hochschulstudenten beteiligt, bei der diverse negative Folgen eines an Bedingungen geknüpften Erziehungsstils festgestellt wurden.) Diese beiden Forscher sowie ihre Mitarbeiter und ehemalige Studenten haben im Lauf der vergangenen Jahrzehnte Beweismaterial dafür zusammengetragen, dass es meist ungünstige Folgen hat, wenn sich Menschen verschiedenen Alters kontrolliert fühlen, ganz gleich, ob die Kontrolle durch Strafen, Belohnungen, durch eine an Bedingungen geknüpfte Liebe, durch offenen Zwang oder andere Mittel erreicht wird.

      Im Hinblick auf die Erziehung von Kindern haben sie festgestellt, dass je stärker sich Kinder eingeschränkt und kontrolliert fühlen, umso höher die Wahrscheinlichkeit „offenen Widerstands gegen das, was Sozialisieret fördern wollen“, ist – und umso instabiler ist meist auch die Identität oder das Selbstgefühl des Kindes.19 Betrachten wir noch einmal die Studie an Hochschulstudenten. Warum richtete es solchen Schaden an, wenn sie von ihren Eltern die Botschaft „Ich liebe dich nur, wenn du…“ zu hören bekamen? Weil diese Botschaft dazu führte, dass sie sich von innen kontrolliert fühlten. Sie wuchsen mit dem Gefühl auf, sie müssten sich auf eine bestimmte Weise verhalten – oder Erfolg haben –, um ihren Eltern zu gefallen und letztlich um mit sich selbst zufrieden sein zu können. Die zentrale Formulierung in dem Satz ist sie müssten: Sie fühlten sich psychologisch gesehen nicht frei, anders zu handeln.

      Eine Verinnerlichung des Drangs, sich gut zu benehmen, hart zu arbeiten oder sonst etwas zu tun, um Mama oder Papa zu gefallen, ist nichts Gutes, wenn man nicht das Gefühl hat, dass das Handeln einer echten Entscheidung entspringt. Und laut dieser Studie war das bei den Hochschulstudenten nicht der Fall. Diejenigen, die glaubten, ihre Eltern liebten sie nur unter bestimmten Bedingungen, neigten viel eher zu der Aussage, ihr Handeln beruhe oft mehr auf einem „starken inneren Druck“ als auf „dem Gefühl, wirklich eine Entscheidung getroffen zu haben“. Sie äußerten auch, dass ihr Glücksgefühl über einen Erfolg gewöhnlich nur von kurzer Dauer sei, ihre Meinung über sich selbst stark schwanke und dass sie sich oft schuldig fühlten oder schämten.20

      Deci und Ryan sind der Überzeugung, dass Kinder nicht nur mit bestimmten grundlegenden Bedürfnissen einschließlich des Bedürfnisses, in einem bestimmten Maß selbst über ihr Leben bestimmen zu können, geboren werden, sondern auch mit der Fähigkeit, Entscheidungen auf eine Weise zu treffen, die ihren Bedürfnissen entspricht; sie verfügen über ein „Gyroskop natürlicher Selbstregulierung“. Wenn wir Kinder übermäßig kontrollieren – etwa indem wir ihnen Belohnungen und Lob dafür anbieten, dass sie tun, was wir wollen –, beginnen sie von externen Steuerungsquellen abhängig zu werden. Das Gyroskop gerät ins Wanken und sie verlieren ihre Fähigkeit der Selbstregulierung.21

      Essen

      Das Essen ist ein sehr deutliches Beispiel dafür. Zwar stimmt es, dass sich Kinder nicht immer die gesündesten Dinge zum Essen aussuchen. (Daher müssen wir ihnen erklären, was gut für ihren Körper ist und was nicht, und ihnen eine begrenzte Auswahl bieten, so dass alles, wofür sie sich entscheiden, in Ordnung ist.) Doch andererseits nehmen kleine Kinder auch ohne unser Eingreifen langfristig in der Regel so viele Kalorien zu sich, wie sie brauchen. Manchmal essen sie tagelang so wenig, dass wir uns Sorgen machen, und dann verschlingen sie plötzlich riesige Portionen. Wenn sie etwas Dickmachendes essen, nehmen sie danach meist weniger oder etwas Kalorienarmes zu sich. Im Hinblick darauf, wie viel sie essen, scheinen Kinder also eine erstaunliche Fähigkeit der Selbstregulierung zu haben.

      Es sei denn, wir versuchen, das Kommando über ihren Körper zu übernehmen. Vor ein paar Jahren führten zwei Ernährungswissenschaftler in Illinois einen faszinierenden Versuch durch. Sie beobachteten 77 Kinder zwischen zwei und vier Jahren und brachten auch in Erfahrung, inwieweit ihre Eltern Kontrolle über ihre Essgewohnheiten auszuüben versuchten. Sie stellten fest, dass Eltern, die darauf bestanden, dass ihre Kinder nur zu den Mahlzeiten (und nicht dann, wenn sie Hunger hatten) aßen, oder die sie aufforderten, ihren Teller leer zu essen (selbst wenn sie offenbar keinen Hunger hatten), oder die Essen (vor allem den Nachtisch) als Belohnung einsetzten, am Ende Kinder hatten, denen die Fähigkeit, ihre Kalorienaufnahme zu regulieren, abhanden gekommen war. Manche der Eltern schienen selbst Probleme mit dem Essen zu haben und diese an ihre Kinder weiterzugeben. Doch was auch immer der Grund für diese übermäßige Kontrolle war – sie begann schon ihren Tribut zu fordern, noch bevor manche der Kinder aus den Windeln heraus waren. Die Kinder hatten „wenig Gelegenheit, ihre Nahrungsaufnahme selbst zu steuern“ und hörten auf, den Hinweisen ihres Körpers darüber, wann sie Hunger hatten, zu vertrauen. Eine Folge: Viele von ihnen begannen schon dick zu werden.22

      Moral

      Diese Feststellung über das Essen ist für sich gesehen interessant


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