Das wirkliche Leben beginnt jetzt. A.H. Almaas

Das wirkliche Leben beginnt jetzt - A.H. Almaas


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möchte. Es geschieht spontan. Ich strenge mich nicht an. Ich bin wirklich interessiert. Gewöhnlich entsteht daraus eine Menge Verstehen, aber es ist eine spontane Aktivität, wenn ich ein Buch nehme und es lese. Aus dieser Perspektive kann man eine Menge absorbieren und das Wissen, das man sich so aneignet, kann sehr viel Verstehen in einem erzeugen. Man kann etwas über sich selbst oder über andere Menschen erkennen. Es hat mit Neugierde zu tun und es ist aufregend. Aus dem Grund lese ich das Buch sehr langsam, wenn ich es lese. Mein Ziel ist nicht, das Buch zu beenden. Mein Interesse ist, es zu lesen und den Inhalt zu verstehen. Da ist ein Vergnügen dabei, wie wenn jemand wirklich von einem Roman gepackt ist. Studieren kann auch so sein. Es sieht vielleicht nach Aktivität aus: Ich lese und suche und schaue durch die Anmerkungen und so weiter, aber in Wirklichkeit ist das keine Suche. Es ist eine spontan entstehende Aktivität, die sehr kreativ ist. Ich schaue mir also ein Buch an, und verstehe etwas nicht. Ich schaue im Wörterbuch nach und wirke dabei sehr angespannt. Jemand könnte den Eindruck haben, anscheinend suchte ich. Aber ich suche nicht. Ich genieße.

      Schüler: Es scheint also davon abzuhängen, woher man kommt.

      A. H. Almaas: Wenn etwas in dir von innen entsteht, das natürlich und spontan und tief ist, ist das nicht Suchen. Dein Sein kann in eine bestimmte Richtung fließen und aktiv sein, ohne daß es Ego-Aktivität ist. Ego-Aktivität ist vom Sein abgetrennt. Sein funktioniert nicht dementsprechend, was dein Geist sagt: „Du solltest dies nicht tun, du solltest jenes nicht tun. Dies ist gut oder jenes ist schlecht.“ Diese Haltung des Beurteilens, wie die Dinge sein sollten, führt nur zum Suchen. Auf der anderen Seite fließt deine Energie, dein eigenes Sein, manchmal in einem spontanen, mühelosen Strömen in einen bestimmten Kanal. In diesem Strömen gibt es kein Suchen.

      Sehr viel Wissen und Verstehen kann aus so einer authentischen Aktivität entstehen und als wahres Verstehen integriert werden. Aus dem Grund können zwei Menschen ein Buch lesen und es auf verschiedenen Tiefenstufen verstehen. Der Unterschied besteht nicht darin, daß einer klüger ist, sondern daß er wirklich gepackt ist – der Impuls zum Verstehen kommt aus dem Herzen. Es ist nicht so, weil er mehr wissen oder erfolgreicher werden will. Das meiste, das ich gelesen habe, habe ich zu keinem erkennbaren Zweck gelesen. Ich wußte nicht, wohin es mich führen würde; ich war einfach interessiert. Auf diese Weise habe ich viel aus Büchern gelernt.

      Ich bin sicher, daß jeder diese Erfahrung von Absorption gemacht hat. Man absorbiert etwas so ganz, weil man es genießt. Man liebt es. Manchmal ist Lesen eine schwere Aufgabe. Man muß sich hindurchkämpfen. „Wann bin ich fertig? Ich kann es nicht abwarten, zur letzten Seite zu kommen.“ Aber wenn ich ein Buch lese, zum Beispiel ein wissenschaftliches Buch, tue ich es nicht, um meine Kenntnisse zu erweitern. Ich erlange Wissen, das gehört dazu; aber es ist zugleich unterhaltend für mich. Ich lese Bücher über Objektbeziehungstheorie, wie manche Menschen Comics lesen. Ich genieße sie genauso. Manchmal ist etwas schwer zu verstehen, aber das ist in Ordnung. Es lohnt sich.

      Ferner: ein anderer Faktor ist, warum man etwas liebt. Gewöhnlich ist es so: wenn euer Sein präsent ist, wenn ihr etwas tut, was ihr liebt, dann hat es nicht nur mit euch zu tun; es hat mit etwas Größerem zu tun. Was ich lese und studiere, hat gewöhnlich eine Beziehung zu meiner Arbeit. Mein Lesen ist nützlich für die Arbeit, die ich tue, und die Menschen, mit denen ich arbeite. Es ist nützlicher für sie als für mich. Aber diese Nützlichkeit übersetzt sich in meinen Genuß beim Lesen. So ist es in gewissem Sinn ein mitfühlender Akt. Aber die Tatsache, daß ich oft Dinge aus Mitgefühl und Anteilnahme für andere lerne, heißt nicht, daß ich mir Sorgen um andere mache und anderen helfen möchte. Das Handeln nimmt nicht diesen Verlauf. Es manifestiert sich in der Form, daß ich wirklich daran interessiert bin, und es mag. Es fühlt sich also an, als wäre es für mich. Es fühlt sich an, als wäre es ganz für mich allein, aber zugleich ist es nicht nur für mich. Und wenn das zutrifft, dann denke ich nicht darüber nach, ob es für andere oder für mich ist.

      Wenn Sein präsent ist, hat es diese Wirkung– wenn ihr euch selbst Sein sein laßt, dann ist seine Natur selbst eine Quelle von Liebe (Love), eine Quelle von Mitgefühl (Compassion), eine Quelle von Intelligenz (Intelligence), Verstehen, Willen, Stärke und aller essentiellen Aspekte. Wenn wir in den Bereich von Suchen gehen, dann schneiden wir uns von diesen Dingen ab und wir empfinden Mangel. Wenn wir uns wirklich erlauben zu sein und wir lernen, unsere Erfahrungen zu verdauen, wie gesagt, was sich dann entwickelt, was auftaucht und reift, das ist die Persönliche Essenz. Die Persönliche Essenz ist das, was der Menschensohn (Son of Man) genannt wird. Ein anderer Ausdruck dafür ist der Sohn Gottes (Son of God). Weil wir dies sind, sind wir die Kinder des Seins. Wir sind die individuellen persönlichen Manifestationen des absoluten Seins. Wir sind Sein. Das steht fest, müssen nicht erst dahin gelangen. Es ist immer der wahre Zustand der Dinge; es kann nicht anders sein. Wenn wir nicht dieses Sein wären, hätten wir keine Bewußtheit (awareness).

      Weihnachten ist nicht das Fest der Geburt und des Lebens eines Individuums; es ist das Fest der Geburt und des Lebens des menschlichen Individuums, des wahren essentiellen Menschen. Christus vertritt die gesamte Menschheit. Er war nicht nur ein besonderer Mensch. Seine Besonderheit besteht darin, daß er die wahre Bedeutung davon, ein menschliches Individuum zu sein, erkannte und verkörperte. Er ließ sich selbst offen sein. Er hatte den Mut, das zu tun, und war uns ein Modell. Wenn er sagt: „Ich bin der Sohn Gottes“, dann verstehe ich ihn so, daß jeder Mensch der Sohn Gottes ist, daß jeder Mensch wissen kann, daß er oder sie Kind Gottes ist. Wenn er von Gott als seinem Vater sprach, dann sprach er aus, was für uns alle Gültigkeit hat.

      Wenn Gott unser Vater ist, warum gehen wir mit unserem Leben so um, als wären wir mangelhaft und arm? Nach etwas zu suchen ist für einen Menschen ein würdeloser Akt. Indem wir suchen, respektieren wir nicht, wer wir sind. Wenn wir die Kinder Gottes sind, dann sind wir an sich schon reich. Warum nach Dingen suchen, als ob wir nichts besäßen?

      Wir müssen diese Haltung, arm zu sein, in Frage stellen, diese Haltung des Suchens und des Strebens nach etwas. Wir müssen es sehr objektiv anschauen. Wir müssen erkennen, wie es Leiden ist und wie es zu Leiden führt. Wir müssen auch erkennen, wie es die Quelle von Leiden ist und wie absolut unnötig und überflüssig es ist. Es geht nicht darum, das eine oder andere Problem zu lösen. Es geht darum, euch einfach sein zu lassen, euch selbst in Ruhe zu lassen und euch in euer eigenes Wesen niederzulassen.

      Menschliche Reife

      Um ein erfüllendes und lohnendes Leben zu leben, müssen wir wie Menschen leben. Unsere Probleme, unsere Konflikte, unser Leiden, unsere Enttäuschungen und unsere Mängel verdanken wir nicht den Ursachen, die wir ihnen gewöhnlich zuschreiben, sondern sie sind vor allem das Resultat der Tatsache, daß wir nicht so leben, wie wir leben sollen. Wenn ein Wesen nicht so lebt, wie es leben soll, dann wird sich die Abweichung von dem innewohnenden Potential dieses Wesens als Disharmonie, Konflikt, Problem oder vielleicht als physische oder mentale Funktionsstörung manifestieren.

      Nur eine Lebensweise, die für uns natürlich und wahrhaft menschlich ist, wird uns von unnötigem Kampf und Hader befreien. Ein natürliches Leben ist nicht dadurch definiert, was irgendeine Autorität sagt; vielmehr ist es ein Leben, das in Einklang mit natürlichen Gesetzen des Funktionierens unserer Seiendheit (beingness), dessen, was wir wirklich sind, gelebt wird. Diese Tatsache wirklich ins Auge zu fassen, macht eine radikale Veränderung in der Weise nötig, wie wir uns selbst betrachten, und in der Weise, wie wir unser Leben führen. Da es in unserem Leben unnötigen Hader, Kampf und Schmerz gibt, müssen wir zuerst akzeptieren, daß das bedeutet, daß wir wirklich nicht wissen, was es heißt als Menschen zu leben. Wir müssen einsehen, daß wir wirklich nicht wissen, wie ein wirklich reifer Mensch lebt, oder was für Werte und Prinzipien das Leben eines solchen Menschen bestimmen.

      Das erste, was wir dann konfrontieren müssen, ist der immer präsente, arrogante Glauben, daß wir zu wissen meinen, was ein Mensch ist, wie es ist, als Mensch zu leben, worum es im Leben eines Menschen geht und wie ein Mensch sich verhalten sollte. Nehmen wir einmal an, daß ein Mensch mit dem normalen Grad an Bewußtsein – bestehend aus emotionalen Reaktionen, Vorstellungen und Überzeugungen, die aus der Vergangenheit und von anderen Menschen stammen – noch kein Mensch ist. Er ist ein Abbild, eine Imitation, ein unfertiger Versuch, ein Mensch zu werden. Sein Potential ist nicht entwickelt. So ein Mensch wird von Einflüssen beherrscht,


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