Es gibt nichts zu tun. Thich Nhat Hanh

Es gibt nichts zu tun - Thich Nhat Hanh


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verfügte über ein fundiertes Wissen des buddhistischen Kanon, doch gründete seine Lehrmethode auf der Zuversicht, dass Menschen nur zu ihrer wahren Natur erwachen und als ganz normale Menschen leben müssen. Er bezeichnete sich nicht als Zen-Meister, vielmehr sah er sich als »guten spirituellen Freund« – jemanden, der anderen auf dem Pfad helfen konnte. Menschen, die über genügend Einsicht verfügten, um zu lehren, nannte Meister Linji »Gastgeber« und Schüler, die kamen, um zu lernen, »Gäste«.

      Zu seiner Zeit wurden einige buddhistische Begriffe so oft benutzt, dass sie bedeutungslos geworden waren. Die Menschen grübelten über Worte wie »Befreiung« und »Erleuchtung« nach, bis diese ihre Kraft verloren, und das ist heute nicht anders. Viele Leute verwenden Worte, die unsere Ohren ermüden. Wir hören im Fernsehen oder Radio so oft die Worte »Freiheit« und »Sicherheit« oder lesen sie in den Zeitungen, dass sie ihre Wirkung einbüßen. Selbst die schönsten Worte verlieren ihre wahre Bedeutung, wenn sie zu oft benutzt werden. So ist zum Beispiel das Wort »Liebe« ein wundervolles Wort. Essen wir gern Hamburger, sagen wir: »Ich liebe Hamburger.« Was bleibt dann von der tieferen Bedeutung des Wortes »Liebe« übrig?

      Ähnlich ist es mit buddhistischen Begriffen. Es mag jemand sehr schön über Mitgefühl, Weisheit oder Nicht-Selbst sprechen können, aber das hilft anderen nicht notwendigerweise. Er oder sie kann zum Beispiel weiterhin ein großes Ego haben oder andere schlecht behandeln. Die wortgewandte Rede besteht möglicherweise nur aus leeren Worten. Wir können all der Worte müde werden, sogar des Wortes »Buddha«. Um Menschen aufzuwecken, führte Meister Linji neue Begriffe ein, entwickelte neue Ausdrucksweisen, die den Bedürfnissen seiner Zeit entsprachen.

      So verwendete er zum Beispiel den neuen Begriff »ungeschäftiger Mensch« für jemanden, der nichts zu tun hat und nirgendwo hingehen muss. Das war sein Idealbeispiel dafür, was ein Mensch sein könnte. Im Theravada-Buddhismus galt der arhat als idealer Mensch, jemand, der Geburt und Tod überwunden hat. Im Mahayana-Buddhismus war dies der bodhisattva, ein mitfühlendes Wesen, das anderen auf dem Pfad der Erleuchtung hilft.

      Meister Linji zufolge ist der ungeschäftige Mensch jemand, der der Erleuchtung nicht hinterherläuft und nicht nach etwas greift, und sei dieses Etwas der Buddha. Dieser Mensch hat einfach innegehalten. Er ist nicht länger in etwas verstrickt, auch nicht in Theorien oder Lehren. Der ungeschäftige Mensch ist der wahre Mensch in einem jeden von uns. Er bildet sozusagen das Zentrum in der Lehre Meister Linjis.

      Wenn wir lernen, innezuhalten und im gegenwärtigen Moment wahrhaft lebendig zu sein, sind wir mit dem, das in uns und um uns herum geschieht, in Berührung. Wir werden nicht von der Vergangenheit, der Zukunft, von unserem Denken, von Ideen, Emotionen und Projekten davongetragen. Wir glauben oft, dass unsere Vorstellung von den Dingen auch die Wirklichkeit dieser Dinge wäre. Unsere Vorstellung von Buddha ist vielleicht nur eine Idee und weit von der Wirklichkeit entfernt. Der Buddha außerhalb von uns war ein Mensch, der geboren wurde, lebte und starb. Nach solch einem Buddha zu suchen bedeutet, einen Schatten, einen Geist-Buddha zu suchen. Unsere Vorstellung von Buddha wird ab einem bestimmen Punkt zu einem Hindernis für uns.

      Meister Linji sagte, dass wir dem Geist-Buddha, wenn wir ihm begegnen, den Kopf abschlagen sollen. Ob wir im Innen oder Außen schauen, wir müssen dem, dem wir begegnen, den Kopf abschlagen, also unsere Ansichten und Ideen über die Dinge, selbst über Buddhismus und Buddha, hinter uns lassen. Buddhistische Lehren sind keine hehren Worte und Schriften, die außerhalb von uns existieren und auf einem hohen Podest im Tempel stehen, sondern sie sind Arznei für unsere Krankheit. Buddhistische Lehren sind geschickte Mittel, um unsere Verblendung, unser Verlangen, unsere Wut zu heilen sowie unsere Gewohnheit, nach Dingen außerhalb unserer selbst zu suchen und kein Vertrauen zu uns selbst zu haben.

      In Sutras, Kommentaren oder Dharma-Vorträgen können wir keine Einsicht finden. Befreiung und erwachtes Verstehen sind nicht durch das Studium buddhistischer Schriften zu erlangen. Das wäre wie die Hoffnung, frisches Wasser in trockenen Knochen zu entdecken. Doch kehren wir zum gegenwärtigen Moment zurück, benutzen wir unseren klaren Geist, der hier und jetzt existiert, dann ist es uns möglich, mit Befreiung und Erleuchtung in Berührung zu sein, ebenso wie mit dem Buddha und all seinen Schülerinnen und Schülern als lebendigen Wirklichkeiten genau in diesem Augenblick.

      Ein Mensch, für den es nichts zu tun gibt, ist Meister seiner selbst. Er braucht sich nicht aufzuspielen oder irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Der wahre Mensch ist ein aktiv teilnehmender Mensch, in seinem Umfeld engagiert, doch ohne sich davon bedrücken zu lassen. Alle Phänomene durchlaufen die verschiedenen Erscheinungsformen von Geburt, Verbleiben, Wandel und Tod, und doch ist der wahre Mensch kein Opfer von Traurigkeit, Glück, Liebe oder Hass. Er lebt voller Gewahrsein als ein ganz normaler Mensch, ob er nun steht, geht, liegt oder sitzt. Er spielt keine Rolle, auch nicht die Rolle eines großen Zen-Meisters. Das meint Meister Linji mit seinen Worten: »Seid unabhängig, wo immer ihr seid, und nutzt diesen Ort als Sitz des Erwachens.«

      Wir überlegen vielleicht: »Wenn ein Mensch keine Richtung hat, nicht bestrebt ist, ein Ideal zu erreichen und kein Ziel im Leben hat, wer wird dann den Lebewesen helfen, frei zu werden, wer wird jene retten, die im Ozean des Leidens zu ertrinken drohen?« Ein Buddha ist ein Mensch, der keine Geschäfte mehr zu erledigen hat und nach nichts mehr Ausschau hält. Indem wir nichts tun, einfach innehalten, können wir frei und uns selbst treu leben, und unsere Befreiung wird zu der Befreiung aller Wesen beitragen.

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      WIE MAN DIE AUFZEICHNUNGEN DES MEISTERS LINJI LESEN SOLLTE

      Meister Linji lehrte, weil er die Dinge drastisch verändern wollte. Er wollte Hindernisse zerschmettern, Krankheiten heilen und Fesseln lösen. Seine Worte zu lesen ist, als würde man eine sehr wirksame Arznei einnehmen. Die meisten von uns glauben, dass wir uns gesünder fühlen, wenn wir unseren Körper mit Vitaminen oder Stärkungsmitteln versorgen. Doch manchmal müssen wir ihn, statt ihm immer noch mehr zuzuführen, von allem reinigen. Dann brauchen wir eine ausreichende Dosis der Lehren Meister Linjis. Sie sind keine Vitamine, sie sind ein Abführmittel.

      Haben wir innerlich zu viel Wissen angehäuft, können wir es nicht richtig verdauen. Auch wenn wir zu viel gegessen haben, können wir nicht verdauen und leiden an Verstopfung. Verstehen wir nicht, was wir gelernt haben, und können wir es in unserer Übung, im täglichen Leben nicht anwenden, dann blockiert das Wissen unseren Körper und unseren Geist. Aber wir müssen nicht auf die Verstopfung warten, um von Meister Linjis Lehren zu profitieren; Prävention ist besser als eine Behandlung.

      Meister Linji wollte keine tiefsinnigen, wunderbaren Ideen präsentieren, die wir dann studieren und debattieren könnten. Wir kommen nicht auf der Suche nach absoluten Wahrheiten zu seinen Unterweisungen oder in der Hoffnung, schwierige Konzepte oder geheimnisvolle Ideen zu entdecken. Alle Lehren sind zuallererst Worte, bloße Bezeichnungen. Meister Linji nennt sie »leere Worte« oder »-ismus«. Sie sind keine objektiven Wirklichkeiten. Meister Linji will seine Worte nicht als goldenes Gerüst oder als zu verehrenden Jade-Kaiser verstanden wissen. Er sagt, dass seine Worte nur Skizzen im leeren Raum sind.

      Der Zweck von Meister Linjis Werk liegt darin, dass es uns helfen will, unser Suchen aufzugeben und zu uns selbst in den gegenwärtigen Moment zurückzukehren. Dort können wir alles finden, wonach wir suchen, sei es Buddha, vollkommenes Verstehen, Frieden oder Befreiung.

      Lesen Sie als Erstes die Unterweisungen selbst, bevor Sie sich den Kommentaren und Übungen zuwenden. Beim ersten Lesen brauchen Sie keine Anleitung. So wie Sie bei Ihrem ersten Besuch in einer Ausstellung zunächst die Bilder auf sich wirken lassen, bevor Sie den Katalog studieren oder sich einer Führung anschließen. Lesen Sie Unterweisungen als Geschichten und nehmen Sie wahr, was Sie verstehen und fühlen. Lassen Sie Ihre alten Vorstellungen über einen wahren Menschen, über Buddha und die Lehren verblassen. Beim Lesen sollten wir uns einen Lehrer vorstellen, der vor uns steht und schreit: »Komm nicht zu mir auf der Suche nach etwas! Die Erleuchtung, das Glück, die Stabilität und Freiheit, die du suchst, sind bereits in dir!«

      Man kann sich diese Unterweisungen vielleicht am besten als Gedichte vorstellen. Wenn wir sie anfangs nicht verstehen, ist das in Ordnung. Diese Worte sind, für sich genommen, keine Weisheit. Meister Linji bot sie als Werkzeuge an,


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