Der Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit. Tanja Rinker
ausführt, gehorchen abgeleitete Nomen (z. B. der Lehrer → die Lehrer, die Lösung → die Lösungen) diesen Regeln nahezu immer, Nomen mit Schwa-Silben (e, er, el, en) zu 98 % (2929 von 2976 Nomen) und alle übrigen zu 84 % (1524 von 1819).
Die Bildung der Pluralformen (in wesentlichen Auszügen), in Anlehnung an DUDEN (2005)
Für (uns) an der Sprachvermittlung Interessierte greift diese Reduktion sicherlich zu kurz – nicht zuletzt auch deswegen, weil der InputInput der Lernenden gerade am Anfang Substantive in hoher Frequenz enthält, die von den genannten Regeln nicht erfasst werden (z. B. Kinder, Bücher, Häuser, Autos, Hände). Wir orientieren uns daher im Folgenden an der DUDEN-Grammatik (2005: 182-187) und übernehmen die Unterscheidung in Regeln und Sonderfälle. Letztere sind nicht herleitbar und müssen auf jeden Fall gelernt werden. Bei den Regeln ist es sinnvoll, noch einmal zu differenzieren zwischen Grundregeln (GR), die einen großen Teil des Wortschatzes abdecken und Zusatzregeln (ZR), die sich auf nur wenige Substantive beziehen. Beispielsweise hat die GR2 einen Skopus (= Wirkungsbereich) von 35,9 %, hingegen erfasst die ZR2 lediglich 2 % des Grundwortschatzes (Wegener 1995a: 32).
In Tab. 4.9 sind die für die ersten Sprachniveaustufen relevanten Regeln und Sonderfälle aufgeführt. Für weitere Ausführungen zu Sonder- und Einzelfällen (u.a. auch den Bildungswortschatz und Fremdwörter betreffend), zu Eigennamen, Kurzwörtern sowie zu regionalen Schwankungen siehe DUDEN (2016: 186-194).
Die Deutschlernenden müssen sich also nicht nur mit verschiedenen Pluralmarkern auseinandersetzen sondern auch mit verschiedenen Regeln, die unterschiedliche Wirkungsbereiche beanspruchen und zudem mit einer Reihe von Sonderfällen.
Wie aus Tabelle 4.9 ersichtlich wird, ist (mit Ausnahme von ZR2) die Pluralmarkierung aufs Engste mit den Genusklassen verwoben. Da gerade die Genuskategorie für Deutschlernende als eine der größten Schwierigkeiten gilt (siehe hierzu auch Kapitel 4.2.1 und 10), stellt sich natürlich die Frage, ob und wie man die hier präsentierten Regularitäten überhaupt für den Pluralerwerb nutzen kann. Ein mögliches, dem System gerechtwerdendes didaktisches Vorgehen könnte so aussehen, dass Genus und Plural zusammen in den Blick genommen werden, um die Grundregeln der Pluralbildung zu etablieren. Beispielsweise könnte ein Wortschatzspiel, ein Text oder eine Liste Nomen in der Singular- und Pluralform enthalten, die der Einsilber-Regel (Einsilber → M) und der Schwa-Regel (-e → F) folgen. Man könnte die Formen auffinden, markieren oder herausschreiben lassen und Überlegungen anstoßen, wie der Plural für maskuline und feminine Nomen gebildet wird, vgl. Tab. 4.10. Es sollten sich verschiedene Übungen anschließen, um hinreichend Gelegenheit zu geben, die zwei Grundregeln anzuwenden. Im Rahmen einer explorativen Übung ließe sich die GR1 um Neutra (z. B. das Jahr – die Jahre, das Tor – die Tore, das Boot – die Boote, das Brot – die Brote) erweitern.
maskuline Substantive | feminine Substantive | ||||
ein / der Tag ein / der Tisch ein / der Stuhl ein / der Stift | – – – – | die Tage zwei Tische die Stühle viele Stifte | eine /die Woche eine / die Uhr eine / die Tasche eine / die Schere | – – – – | die Wochen die Uhren die Taschen zwei Scheren |
Regel 1: Maskuline Substantive bilden den Plural auf -e. | Regel 2: Feminine Substantive bilden den Plural auf -(e)n. |
Tab. 4.10:
Erarbeitungsbeispiel für GR1 und GR2
Für die GR3 würde man in ähnlicher Weise verfahren und Feminina mit n-Plural kontrastieren mit Nicht-Feminina, die auf -er, -el oder -en enden und einen endungslosen Plural bilden (vgl. Tab. 4.11). Für einige Lernende mag es hilfreich sein, die erarbeiteten Pluralformen mit Unterstützung der vorlesenden Lehrkraft auch hinsichtlich ihrer SilbenstrukturSilbenstruktur zu reflektieren und zu erkennen, dass sie allesamt zweisilbig sind und dem trochäischen Betonungsmuster (betont-unbetont) folgen – eine morphoprosodische Bedingung der deutschen Pluralbildung bei einfachen, nicht abgeleiteten Wörtern (den sogenannten Simplizia) (Eisenberg 2013: 160).
maskuline und neutrale Substantive | feminine Substantive | ||||
ein / das Mädchen ein / der Teller ein / das Muster ein / der Löffel ein / das Messer | – – – – – | zwei Mädchen vier Teller die Muster die Löffel vier Messer | eine / die Frau eine / die Tasse eine / die Schüssel eine / die Kanne eine / die Gabel | – – – – – | zwei Frauen vier Tassen die Schüsseln zwei Kannen nur drei Gabeln |
Regel 3: Maskuline und neutrale Substantive auf -er, -el und -en bilden den Plural endungslos. | Regel 2: BESTÄTIGT ! → SIEHE OBEN |
Tab. 4.11:
Erarbeitungsbeispiel für GR3 und Bestätigung für GR2
Mit den drei Grundregeln sind ca. 70 % des Grundwortschatzes erfasst. Besonders verlässlich ist die Pluralregel für Feminina, weil sie von diesen 91 % abdeckt (Wegener 1995a: 32) und auch auf Nominalisierungen mit -ung, -heit, -keit (die Meinung-en, die Besonderheit-en) anwendbar ist. Diese Verlässlichkeit des femininen Plurals könnte sich durchaus positiv auf den Genuserwerb auswirken – zumindest aber auf die Herausbildung der Opposition feminin vs. nicht-feminin. (Eine solche Unterstützungsfunktion kann vom Plural natürlich nur dann ausgehen, wenn die Lernenden nicht in der naheliegenden auslautbezogenen Hypothese, alle Substantive auf -e bilden den Plural mit -n, bestärkt werden. Diese Auslautregel ist kurzfristig zwar eine sichere Bank, versperrt aber den Blick auf die genusdeterminierte Systematizität im Pluralsystem.) Bei Feminina herrscht im Plural ein starker Markierungsdruck. Dadurch, dass einerseits die Artikel im Singular und Plural