Peru. Michael Hahn
bereit. Diejenigen, die sich der Aushebung widersetzten, begründeten ihren Entscheid mitunter damit, dass sie ihren Patron nicht im Stich lassen wollten.
Ob solche Loyalitätsbekundungen echt waren oder nur gespielt, sei dahingestellt. Sicherlich war allen Sklaven bewusst, dass die Freiheit via Kriegsdienst einen hohen Preis forderte. Nur wer den langen Militärdienst vollständig absolvierte, war ein freier Mann. In der Río-de-la-Plata-Region betrug die Dienstdauer fünf Jahre – falls sich der Soldat disziplinarischer oder sonstiger Vergehen schuldig machte, sogar noch länger. Zudem war das Risiko sehr hoch, bei Gefechten und Kämpfen schwer verletzt oder getötet zu werden. Von den 2000 bis 3000 Schwarzen, die 1817 in San Martíns Andenarmee die Gebirgskette überquert hatten, kehrten nach sechs Jahren der Kämpfe in Chile, Peru und Ecuador keine 150 in ihre Heimat zurück. Bis in die 1840er- und 1850er-Jahre begegnete man in Städten wie Lima, Buenos Aires oder Caracas verkrüppelten schwarzen Kriegsveteranen, die sich um Almosen bettelnd durch ein elendes Leben schlugen.
Regierungskrisen und militärische Rückschläge
Nach San Martíns Abgang übernahm im September 1822 der verfassunggebende Kongress die Regierungsgeschäfte. Der Kongress – mit dem die eigentliche Geschichte des republikanischen Perus begann – setzte sich aus den gewählten Vertretern der befreiten Gebiete sowie Ersatzleuten aus denjenigen Provinzen zusammen, die noch immer unter royalistischer Kontrolle standen. Ihm gehörten hauptsächlich Rechtsanwälte, Geistliche, Kaufleute, Ärzte und hohe Militärs an. Darunter waren auch zwei Abkömmlinge des inkaischen Hochadels: der Priester Justo Sahuaraura Ramos Tito Atauchi, Domherr der Kathedrale von Cusco, und José Domingo Choquehuanca, Anwalt aus dem Departement Puno. Die Abgeordneten setzten ein Triumvirat ein, das bis zum Inkrafttreten der Verfassung die Exekutive bilden sollte. Bestimmende Gewalt blieb die Legislative, die jedoch unter lähmenden Fraktionskämpfen litt.
Wie schon dem Protektorat machten auch der neuen Regierung Geldsorgen und die prekäre Sicherheitslage schwer zu schaffen. Darlehen konnten nur unter Zwang und unter Androhung von Konfiskation und Exil eingetrieben werden. Trotzdem kamen nicht genügend Gelder zusammen, um den Sold und die Löhne für die Streitkräfte und die Regierungsbeamten zu bezahlen. Räuberbanden machten die Umgebung Limas und selbst die Hauptstadt unsicher. Bei den Landstreitkräften häuften sich Desertionen, und in der Marine brachen Meutereien aus. Dem nicht genug mussten die »patriotischen« Truppen im Januar in den Schlachten von Torata und Moquegua innerhalb weniger Tage zwei schwere Niederlagen in Südperu einstecken. Infolgedessen verlangten führende Militärs vom Kongress, das schwache Triumvirat durch einen Regierungschef zu ersetzen. Dem Ruf nach einem starken Führer verliehen sie Nachdruck, indem sie Zivilisten mobilisierten und Truppen auf Lima zumarschieren ließen. Der Kongress gab dem Druck nach und ernannte den Limeñer Aristokraten José Mariano de la Riva Agüero y Sánchez Boquete am 28. Februar 1823 zum ersten Präsidenten der Republik, und zwar im Range eines Großmarschalls – ein Vorgang, den verschiedene Historiker als ersten Militärputsch in der noch jungen Geschichte des republikanischen Perus bezeichnet haben.
Riva Agüeros kurze Regierungszeit war geprägt durch endlose Auseinandersetzungen und Streitigkeiten mit dem Kongress. Als höchster Militärführer ließ er die Marine neu ordnen. Im Mai kommandierte er ein 5000 Mann starkes Heer unter Führung des Generals Andrés de Santa Cruz in den Süden ab. Trotz Bedenken und Vorbehalten vonseiten des Kongresses ersuchte er Simón Bolívar um Waffenhilfe und lud den »Libertador« nach Peru ein. Bolívar entsandte eine Heeresabteilung unter dem Befehl seines bewährten Generals Sucre. Das Eintreffen der großkolumbianischen Streitkräfte im April 1823 in Lima fiel mit einem neuerlichen Vorstoß der royalistischen Truppen zusammen. Vom Mantaro-Tal aus griffen diese erneut die Hauptstadt an. Die »patriotischen« Autoritäten, die führenden Notabeln und General Sucre mitsamt seinen rund 4000 Großkolumbianern verschanzten sich im Hafen Callao, die Hauptstadt den Feinden zur Plünderung überlassend. Die Besetzung Limas, die vom 13. Juni bis zum 16. Juli dauerte, trieb Tausende von Zivilisten in die Flucht. Die Royalisten pressten den wohlhabenden Limeñern Geld und Wertsachen ab. Sie plünderten die Nationalbibliothek, raubten die Kirchenschätze und transportierten Geräte aus der Münzanstalt ins Hochland ab.
Selbst in dieser kritischen Phase gingen die Streitigkeiten zwischen Riva Agüero und dem Kongress unvermindert weiter. Die Kongressabgeordneten votierten für die Absetzung des Präsidenten und übertrugen das höchste militärische Kommando General Sucre. Riva Agüero seinerseits weigerte sich, das Oberkommando abzugeben und erklärte stattdessen den Kongress für aufgelöst. Er ernannte einen 10-köpfigen »Senat« und zog sich mit einigen wenigen Kongressabgeordneten und einer Gruppe von Funktionären nach Trujillo zurück.
Auf Vorschlag von General Sucre wählte der restliche Kongress am 16. Juli 1823 den Marquis von Torre Tagle zum zweiten Präsidenten der Republik. Derweil drangen Santa Cruz’ Truppen bis zum Titicacasee vor, wo sie am 25. August in Zepita einen Sieg errangen. Als die »Patrioten« weiter nach Hochperu vorstießen, drohten sie umzingelt zu werden und mussten sich überstürzt an die Küste zurückziehen. Dabei büßte Santa Cruz die meisten seiner Männer und fast sämtliche Waffen ein.
Simón Bolívar
Als Simón Bolívar am 1. September 1823 im Callao peruanischen Boden betrat, fand er ein bankrottes Land und eine verworrene Situation vor. Zwei »patriotische« Staatspräsidenten, der eine in Lima, der andere in Trujillo, befehdeten sich gegenseitig. Den entzweiten »patriotischen« Streitkräften und der von Meutereien geplagten Flotte stand ein zahlenmäßig starker Gegner unter dem Oberbefehl des Vizekönigs La Serna gegenüber. Die royalistische Armee zählte um die 20 000 Mann, überwiegend indianische Bauernsoldaten, die von rund 500 spanischen Offizieren und Unteroffizieren befehligt wurden. Ein Teil der peruanischen »Patrioten« begegnete dem »Libertador« mit Misstrauen. Präsident Torre Tagle war voller Ressentiments, weil er gravierende Einschränkungen seiner Macht befürchten musste. In Trujillo widersetzte sich der abgesetzte Präsident Riva Agüero einer Unterordnung und nahm Verhandlungen mit den Royalisten auf. Deutlich hatte sich die militärische Schwäche der peruanischen »Patrioten« gezeigt: Santa Cruz’ Heer war zerschlagen. Und die Freischärler in Zentralperu, hin- und hergerissen zwischen Riva Agüero und Bolívar, waren zu einigen wenigen unbeständigen Banden zusammengeschmolzen.
Zwei Monate nach Bolívars Eintreffen waren die Arbeiten zur ersten Verfassung des Landes abgeschlossen. Die neue Konstitution definierte Peru als eine auf der nationalen Souveränität gegründete Republik. Sie schuf die Adelstitel ab und verankerte die Gewaltenteilung sowie die Unterordnung der Exekutive unter die (aus einer Kammer bestehende) Legislative. Wegen der Kriegssituation blieb die neue Verfassung weitgehend Papierwerk. Denn die Kongressabgeordneten vertrauten die oberste militärische Befehlsgewalt und oberste politische Autorität Bolívar an. Damit beschnitten sie die verfassungsmäßigen Kompetenzen des Präsidenten Torre Tagle sehr stark. Sämtliche Verfassungsartikel, die unvereinbar mit der Autorität und den Vollmachten des »Libertador« waren, blieben suspendiert.
Ende November setzten in Trujillo abtrünnige Gefolgsleute Riva Agüero gefangen, weil sie dessen Verhandlungen mit den Royalisten als offenen Verrat deuteten. Sie schafften ihn nach Guayaquil aus und unterstellten sich Bolívar. Auf dem Rückweg von Trujillo nach Lima erkrankte der »Libertador« lebensgefährlich und musste am 1. Januar 1824 im Hafen von Pativilca notfallmäßig an Land gebracht werden. Während zweier Monate hielt ihn die schwere Erkrankung in Pativilca fest. Vom Krankenbett aus diktierte er Briefe mit Instruktionen und gab Befehle an die Truppen aus.
Aus Bolívars kritischem Gesundheitszustand konnten die Royalisten keinen Gewinn ziehen. Die Wiederherstellung der absoluten Monarchie in Spanien, in deren Verlauf die Verfassung von Cádiz zum zweiten Mal außer Kraft gesetzt wurde, verschärfte die Spannungen innerhalb der spanientreuen Streitkräfte. General Pedro Antonio Olañeta, Sympathisant des Absolutismus und Kommandant der royalistischen Armee in Hochperu, rebellierte gegen Vizekönig La Serna. Der Konflikt, der in einen Bruderkrieg zu münden drohte, absorbierte die Streitkräfte des Südens zu einem Zeitpunkt, an dem ihre Gegner stark geschwächt und verwundbar waren.
Anfang Februar, als Bolívar ans Krankenbett in Pativilca gefesselt war, meuterten die in der Festungsanlage Real