Extra Krimi Paket Sommer 2021. A. F. Morland
vorbei.
»Ich hab zweiundzwanzig gezählt«, sagte der Oberleutnant gleichmütig. »Nummer 23 haben wir leider verpasst, aber der wird uns keinen Ärger mehr machen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Zurück schafft er es nicht mehr. Die Oder hat hier eine stärkere Strömung, als es aussieht. Na, da sind ja unsere Erntewagen.«
In dem verlassenen Dorf tranken sie Kaffee aus Thermoskannen und Ellwein ließ sein Zigarettenpäckchen herumwandern. Der Oberleutnant musterte ihn immer noch wie einen schrägen Vogel, trotz seiner Jugend versprühte er viel Zynismus und seine Leute spurten, wenn er lässig einen Befehl hinwarf. Ein Landsertyp, nicht unbedingt Vertrauen erweckend, aber sicher tüchtig, und von seinen Männern verlangte er nur, was er selbst leistete.
Beim ersten Morgengrauen brachen sie auf.
Bevor Ellwein in Berlin losgefahren war, hatte er ein kurzes und unangenehmes Gespräch mit einem furztrockenen Juristen geführt, der beim Geheimdienstkoordinator im Bundeskanzleramt arbeitete und das Wort Kooperation noch nie gehört hatte, sogar ausfällig wurde, als Ellwein seine Kenntnisse ausbreitete: »Es gibt ein loses Spitzelnetz in Polen, über das der Grenzschutz gelegentlich erfährt, wann und wo eingeschleust werden soll.«
»Wer hat Ihnen das erzählt?«
»Unwichtig.«
»Von wegen. Wer?«
»Vergessen Sie’s, ich hab den Informanten auch schon vergessen.«
»O nein, so geht das nicht, das werden Sie ...«
»Genau so und nicht anders geht das.«
»Sie hören noch von mir! Sie Bond-Verschnitt!«
»Ich wusste gar nicht, dass man seine Eier abliefern muss, sobald man das Kanzleramt betritt.«
Das Netz existierte, sein Informant hatte ihn nicht betrogen und der forsche Oberleutnant hatte nicht nachgefragt, warum man ihn in dieser Nacht gerade an diesen Flussabschnitt kommandiert hatte. Aber das Netz konnte nicht auf Polen beschränkt sein, es musste weit nach Weißrussland und die Ukraine hineinreichen, wenn solche Meldungen bis zu achtundvierzig Stunden vor dem Schleusungsversuch eintrafen. Denn in Polen mussten sich die illegalen Einwanderer verborgen halten, weil sonst ihr Aufenthalt in einem so genannten sicheren Drittland aktenkundig wurde, oder anders: Sie mussten Polen so rasch wie möglich durchqueren, damit sie nicht - zufällig oder gezielt - entdeckt oder aufgehalten wurden. Dass diese Schleuserei trotz des Risikos ein grandioses Geschäft für die Schlepperbanden war, stand fest. Und wenn so eine Organisation erst einmal funktionierte, musste man sich nicht auf hilflose Menschen beschränken. Es gab Waren, Informationen, Gelder, Personen, die unbemerkt nach Deutschland zu schaffen waren - was äußerst generös bezahlt wurde. Oder aus Deutschland heraus.
Aber als Ellwein seine Idee vorgetragen hatte, den Grenzschutz einzuweihen, erstarrten die Gesichter vor ihm. Um Gottes willen! Das Netz aufrollen, dem man so viele Zugriffe auf illegale Einwanderer und falsche Asylbewerber verdankte? Und das zu einer Zeit, in der man jeden Tag im Zusammenhang mit der Zuwanderungsregelung eine neue Asylrechtsdebatte erwarten musste? War er denn von allen guten Geistern verlassen?
»Die Spionage ist nicht gestorben, nur weil die Sowjetunion nicht mehr existiert«, hatte Ellwein sie beschworen. »Das Geschäft ist sozusagen privatisiert worden, Patente sind jetzt wichtiger und lukrativer als Panzerzahlen und Raketenpläne und die Agenten schmuggeln nicht nur Menschen oder Zigaretten. Unsere alten KGB-Freunde arbeiten inzwischen auf eigene Rechnung, sie sind nicht weniger gefährlich, nur weil sie nicht mehr vom Obersten Sowjet entlohnt werden.«
Ellwein hatte gegen eine Wand gesprochen und zu den mildesten Beleidigungen gehörte noch die süffisante Frage, ob er für den BND händeringend neue Aufgaben suche, um seine Auflösung zu verhindern. Den schmerzhaftesten Schlag versetzte ihm ein Kollege, der ganz diskret murmelte: »Ich hatte doch läuten hören, dass Sie hinter einem rechten Ding her sind?!«
Dass er in ein Wespennest gestochen hatte, begriff Ellwein erst tags darauf: strikter Befehl, jede Kontaktaufnahme mit dem Grenzschutz war verboten. Wenn sein nächtlicher Ausflug bekannt werden würde, musste er mit einem Disziplinarverfahren rechnen. Aber Ellwein hatte nicht kneifen wollen, es gab Grenzen der Selbstachtung, die man nicht verletzen durfte, wenn man sich noch im Spiegel anschauen wollte, und von Gönter und Weinert hatte er die Schnauze gestrichen voll. Das war doch Kinderkram, herumzusitzen und Däumchen zu drehen, nichts zu tun und auf ein Wunder zu hoffen, während das Objekt sich über sie lustig machte. Okay, es gab Phasen, in denen man sich tot stellen musste, aber doch nur, um die Zeit abzuwarten, zu der man selbst aktiv werden konnte. Weinert würde das nie kapieren, und Gönter traute Ellwein nicht mehr hundertprozentig.
Sein Bekannter bedauerte am Telefon: »Die Sendung ist angekommen, aber dein Paket war nicht dabei.«
»Ein Päckchen ist ins Wasser gefallen.«
»Ja, hab ich auch gehört. Wahrscheinlich ist es jetzt ruiniert.«
Und wenn er nicht ertrunken war, würde der Mann diesen Weg nach Deutschland nicht mehr riskieren. Einmal pro Jahr reiste er ein und brachte Rohdiamanten mit, die ein Mitglied der Organisation unauffällig verkaufte. Der Erlös diente dazu, hiesige Agenten zu bezahlen oder Wissenschaftler zu bestechen, Patente zu erwerben oder Industriespionage zu finanzieren. Manche Regierungen zogen es vor, ihre Bestellungen auf diese Weise zu bezahlen, um keine Spuren bei den Banken zu hinterlassen.
Dem ersten, ungewöhnlich präzisen Tipp hatten sie nicht getraut, aber alle Einzelheiten trafen zu. Bei der letzten Kontrolle im Zug nach Wien musste etwas das Misstrauen des Kuriers so erregt haben, dass er sich nicht mehr auf seinen gefälschten Pass verlassen wollte. Zu der Zeit kannten sie schon seinen Tarnnamen und staunten nicht schlecht, als der Computer ihn bei der Auswertung einer Agentenmeldung identifizierte. Der Mann musste geahnt haben, wer das Boot aufgriff, und hatte lieber sein Leben als eine Festnahme riskiert. Also durften sie auch dieses Kapitel schließen.
Donnerstag, 21. September
Über Nacht war es kalt geworden, Rogge kehrte vor dem Gästehaus um und zog sich einen Pullover an. Die Sonne verbarg sich hinter einem grauen Schleier und auf seinem Marsch zum Beltenstein rüttelten ihn scheußlich kühle Böen durch. Sein letzter Wandertag, und wenn er Simon nicht erklärt hätte, er werde bis Freitag wegbleiben, wäre er heute schon abgefahren.
Von der ehemaligen Burg auf dem Beltenstein existierten nur noch wenige Mauern, der Eichenwald war bis zum Gipfel heraufgewachsen und nur durch eine kleine Schneise glitzerte wie ein heller Strich am Fuß des Berges die Bundesstraße, die hier auf der Trasse einer uralten Handelsstraße aus dem Böhmischen Richtung Rhein verlief.
Auf dem Parkplatz hätte Rogge sich am liebsten die Ohren zugehalten. Aus einem Bus stolperten, stürzten, drängten und purzelten Kinder heraus, die ihrem aufgestauten Bewegungsdrang durch Schreien, Toben und Rangeln erst einmal Luft machen mussten, bevor sie bereit waren, sich um eine energische Frau zu scharen.
Rogge schnitt eine Grimasse, blieb aber unwillkürlich stehen und hörte zu, nachdem sich ein Kreis um die Frau gebildet hatte. An die dreißig Kinder, zwölf, dreizehn Jahre alt, wie er schätzte, die meisten Jungen noch richtige Rüpelbolzen mit zu viel Kraft, einige Mädchen aber schon zurückhaltend, kleine gezierte Damen, die für solche Kindereien überhaupt kein Verständnis mehr besaßen. Ein Klassenausflug, Wandertag. Und die Frau mit den kurzen sandfarbenen Haaren und dem entschlossenen Kinn war die arme Lehrerin. Der Bus entfernte sich.
»So, jetzt schaut ihr alle mal runter ins Tal. Was seht ihr da?«
»Eine Straße.« - »Autos.« - »Luft.« Schrilles Lachen, ach Gott, was war man witzig.
»Richtig. Eine Straße. Und eine Straße, allerdings nicht so breit und glatt und asphaltiert, gab es hier schon vor über fünfhundert Jahren.«
Langsam schob sich Rogge näher heran und buchte ihr in Gedanken einen Pluspunkt gut. Laut anfangen, unmerklich leiser werden, der Lärm verstummte, alle mussten die Klappe halten und die Ohren spitzen, um sie