Wassergeflüster. Группа авторов
Eisenbahnbrücke. 5.00 Uhr
„1970, Ucayali, Ostperu. Ein junger Werner Herzog peitscht seinen von Kinski geführten Zug durch den dunstenden Regenwald. Indianer versorgten ihn und seine Crew mit Kokablättern, um die Strapazen erträglicher zu gestalten. Die Dreharbeiten laufen schleppend. Herzog muss viel improvisieren. Dann geschieht die Katastrophe. Ein plötzliches Hochwasser zerstört die Flöße und vernichtet den Proviant des Teams, das ratlos, hungrig und gestrandet in der feindlichen Natur zurückbleibt. Und weißt du noch, wie Herzog darauf reagierte? Verzweifelte er vielleicht oder beschloss, das Projekt abzubrechen? Nein, er nahm seine Kamera …“
Ich stöhnte hörbar auf, aber mein Vater starrte mich mit drängendem, erwartungsvollem Blick an. Ich räusperte mich und kitzelte den letzten Rest Pathos aus meinen Stimmbändern, um zu beenden: „… und hielt einfach drauf!“
Seine Augen weiteten sich noch etwas mehr. Die Hände waren mittlerweile zu Fäusten verkrampft, die er mit Wucht auf das ramponierte Polster des Sessels niederfahren ließ: „Genau! Und das werden wir auch tun. Wir werden wie gewohnt weitermachen und erstmal aufräumen, ehe wir alles neu einrichten.“ Und damit stemmte er sich nach oben und torkelte in unser durch eine schlammige Kruste verdrecktes Haus zurück.
Fischerdorf wurde ruhiger. Nach der Flut kehrten die Menschen vereinzelt in ihre Häuser zurück, manche würden nie mehr zurückkehren, hofften stattdessen auf einen Neustart anderswo. Nachdem sich Maria von meinem Vater getrennt hatte, beschloss er, von München in seinen Heimatort zurückzuziehen. Seitdem bestand unser Kontakt aus vereinzelten Telefongesprächen und zweijährlichen Höflichkeitsbesuchen.
Als ich über die ersten Fernsehbilder von dem Hochwasser erfuhr, besuchte ich gerade einen Schulfreund in Bonn. Noch bevor ich ihre Nummer wählen konnte, spürte ich es in meiner Tasche vibrieren. Als ich annahm, floss ihre Stimme nüchtern und kalkuliert aus dem Hörer, und für einen kurzen Moment hatte ich Angst, dass ich sie in einer Telefonkonferenz unterbrochen hatte.
„ – Hochwasser ist weiter angestiegen. Dein Vater musste evakuiert werden. Er hat nach dir gefragt. Sein Handy hat er verloren, aber er hat mir eine Nummer hinterlassen. Ich werde das Wochenende über geschäftlich in Salzburg sein, aber es wäre schön von dir, wenn du ihn besuchen könntest. Die Nummer lautet …“
Ich schnappte mir einen Fetzen Papier und schrieb mit. Sie wiederholte die Nummer und legte dann ohne Abschiedsfloskel auf. Genervt knüllte ich den Zettel zusammen, schob ihn in meine Hosentasche und holte ihn erst wieder hervor, als ich zurück in Regensburg war. Ich wählte die Nummer, und fast innerhalb der nächsten Sekunde meldete sich die heisere Stimme meines Vaters:
„Hallo?“
„Hi, Pa. Ich bins. Maria hat gesagt, ich könnte dich unter der Nummer erreichen … Wie geht es dir? In den Nachrichten sieht es so aus, als hätten sie die Lage unter Kontrolle gebracht.“
„Oh, schön von dir zu hören. Mir geht es gut, bin, bis die Flut zurückgegangen ist, bei Freunden untergekommen. Könntest du mich, wenn sich die Lage wieder normalisiert hat, besuchen kommen? Ich bräuchte deine Hilfe beim Aufräumen.“
„Natürlich, natürlich. Und wie sieht die Lage denn generell aus?“
„Nun, der Damm ist gebrochen. Fischerdorf, Natternberg und Niederalteich mussten evakuiert werden. Die Menschen, die nicht bei Freunden und Familie unterkommen konnten, wurden notdürftig in die Dreifachturnhalle nach Osterhofen gebracht, oder in Schulen. Überall werden Vergleiche zu 1954 gezogen …“
„ Papa?“
„Ja?“
„Versprichst du mir, dass du Maria anrufen wirst? Du weißt, dass sie sich Sorgen macht. Sie kann es nur nicht ausdrücken.“
„Mal schauen …“
„Es muss ja nicht lang sein. Nur als Geste, verstehst du? Ihr könntet euch über …“
„Ich sagte, mal schaun …“
„Okay. Ich muss leider bald auflegen. Ich bin zum Essen verabredet, also …“
„Hm … du kommst vorbei? Wenn alles vorbei ist?“
„Natürlich. Wir telefonieren nochmal. Alles wird gut, glaub mir.“
Es war ein sonniger Tag und in einiger Entfernung schleppten Menschen Mobiliar aus ihren Häusern zum Straßenrand. Wir waren ihnen weit voraus. Das Verbliebene stapelte sich als morscher, stinkender Schutzwall um unsere Sitzplätze vor dem Haus. Dies war unser Lager. Aus den Augenwinkeln erkannte ich, dass er an der Türschwelle stand und mich beobachtete. Ich erhob mich ebenfalls, und er winkte mir zu, ihm zu folgen.
Ich fand ihn im Keller. Wasserreste fraßen sich in kleinen Pfützen durch den in der Nässe schimmernden Beton. Der zurückgelassene Schatten eines Schrankes haftete schmatzend an einer der Wände. Mein Vater ging leicht in die Hocke und fischte mit seinen Armen konzentriert in der Dunkelheit des Bodens. Nach einer Ewigkeit zog er einen Streifen Kleinbildfilm heraus und bettete ihn wie eine Totgeburt auf seinem Unterarm. Als er sprach, klangen seine Worte bleiern und schwer: „Ich habe wieder angefangen zu fotografieren und Filme zu drehen. Zuerst mit Digitalkameras, aber es war nicht dasselbe, darum bin ich wieder zu meinem Format zurückgekehrt. Ganz altmodisch, weißt du. Ich hätte das Material nur noch zum Entwickeln geben müssen … “
Er seufzte und seine Schultern klappten nach unten. Dann erhob er sich, ließ das Band zurück in sein tintenschwarzes Grab gleiten und winkte mit der Hand nach oben.
„Komm, lass uns noch die Kommoden aus dem Schlafzimmer hinaustragen, dann machen wir Schluss für heute.“
Ich saß wieder in meinem Sessel. Mein einst so mächtiger Schutzwall hatte durch zwei aus ihm herausgebrochene Türen einen erheblichen Riss bekommen und gab nun einen großzügigen Blick auf den Straßenzug frei. Vor anderen Häusern hatten sich nun ebenfalls kleinere Möbelinseln gebildet, die auf den in der Sommerhitze schwirrenden Straßen zu schweben schienen. Als wir zu seinem Haus gefahren waren, hatte mein Vater mit verständnisvollen Gesten auf die einladenden Umzugswagen gezeigt. Es würde noch ruhiger in seinem kleinen Archipel werden. Ich lehnte mich zurück, schloss die Augen, und die Sonnenstrahlen umspielten mich mit fröhlichen orange- und rotfarbenen Tupfern, bis ich einschlief.
Als ich aufwachte, hatten die ersten wieder in Betrieb gesetzten Straßenlampen den Bürgersteig in fahles Neon getaucht. Ich erhob mich und betrat das Haus. In einem der hinteren Zimmer flackerte noch Licht. Mein Vater thronte, von drei halb ausgetrunkenen Bierflaschen und erkalteter Pizza beraten, gleich einem veralteten Prinzen auf der linken Seite eines gebrechlichen Plastiktisches. Ich weckte ihn auf, aber er schien mich nicht sofort zu erkennen. Endlich begann sich ein Lächeln in seine Gesichtszüge zu mogeln.
„Ich habe dir Pizza mitgebracht!“
Ich nickte stumm und half ihm hoch. Seine Beine gaben leicht nach und er musste sich an meiner Schulter stützen, bis wir den Gang erreichten.
„Hol noch dein Werkzeug. Ich fahr schon mal den Wagen vor.“
Die Straße lag verlassen vor mir. In keinem der gegenüberliegenden Häuser des Straßenzuges konnte ich Licht erkennen. Nein, noch war dieser Ort nur tagsüber lebenswert. Gedankenverloren prallte ich mit der Kniescheibe gegen die Stoßstange des VWs und fluchte laut. Immer noch mein Bein reibend, ließ ich den Motor an und parkte vor unserem Haus. Mein Vater wartete bereits ungeduldig auf mich und fing die Schlüssel behände auf, als ich sie ihm über das Dach hinweg zuwarf. Ohne weiteren Kommentar stiegen wir ein und fuhren los. Nach einer Weile schaute mein Vater herausfordernd zu mir herüber.
„Willst du mal was sehen?“
Ich nickte und er bremste scharf. Nachdem er einen Blick in den Rückspiegel geworfen hatte, hielt er an und stieg aus. Er winkte mir, ebenfalls auszusteigen. Als ich mich weigerte, kehrte er mir den Rücken zu und verschwand in der Nacht. Ich stöhnte laut, machte die Scheinwerfer an, um den Wagen in der Dunkelheit erkennbarer zu machen, öffnete die Tür und folgte ihm auf eine schmale Fußgängerbrücke.
Ich fand ihn an