Gottesflüsterer. Albert Damblon
Getröstete Menschen wissen, was tröstet:
–„die Tränen des Arztes, als er von meiner sterbenden Tochter Abschied nahm“;
–„meine Tochter, als sie etwa mit vier Jahren nach der Scheidung von meinem Mann mit ihrem Hamster spielte. Sie kam zu mir und sagte: ‚Mutti, du brauchst nicht mehr zu weinen, mein Hamster weint auch nicht mehr‘“;
–„wie ein Freund mich herzlich und fest in die Arme genommen hat“;
–„die Anteilnahme von Türken beim Anblick meines behinderten Sohnes“.
Menschen, die trösten, vermitteln Gottes Trost. Ihre Anteilnahme verweist über das eigene Handeln hinaus. Auch einfache Worte und Zeichen im Gottesdienst können trösten. Eine Lesung aus der Heiligen Schrift öffnet das Herz. Oder es ist die Hand, die der Banknachbar zum Friedensgruß reicht, oder das Brot, das am Altar geteilt wird. Tröstlich ist es, am Schluss des Gottesdienstes gesegnet zu werden und dann nach Hause zu gehen. Trösten wir im Namen Gottes die nicht getrösteten Menschen.
Verlassenes Kind
Das Kind war inzwischen zwölf Jahre alt. Es besuchte die Quinta des ehrwürdigen Gymnasiums und hatte sich dadurch Selbstständigkeit erworben. Jeden Morgen zog es allein durch die Innenstadt, um das Portal der Schule zu erreichen. Taxi Mami war in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts unbekannt. Ihm machte der Fußweg nichts, weil es morgens viel zu sehen gab. Das Kind fühlte sich wohl in seiner Haut. Es war kein Überflieger, jedoch solider Durchschnitt in seiner Klasse.
Seine Eltern hatten sich bisher geweigert, einen Fernseher anzuschaffen. Damals war er noch lange nicht in jedes Wohnzimmer vorgedrungen. Immer dann, wenn das Kind um einen Apparat bettelte, schaltete der Vater auf pädagogisch stur. „Wer weiß, wie Fernsehen deine Schulentwicklung beeinflusst. Du sollst in Ruhe lernen.“ Also blieb der mögliche Fernsehtisch leer. Für die Mutter war er eine Anrichte, um die Orchideen zu platzieren. Doch dann entwickelte sich ein eigenartiger Brauch. Ein Schwager hatte seiner Familie einen Fernseher gekauft. Stolz präsentierte er ihn, alle sollten ihn bewundern. Zur großen Samstagabendschau im Deutschen Fernsehen gingen die Eltern regelmäßig dorthin. Wie Frankenfeld und Kulenkampff nisteten sie sich bei Onkel Ludwig und Tante Eva ein.
Jedes Mal blieb das Kind allein zu Hause. Für einen harmlosen Fernsehabend war es angeblich zu jung. Deshalb musste es zu Bett gehen. Was sollte es auch alleine in einem leeren Wohnzimmer! Gegen 19 Uhr 30 appellierte der Vater zum ersten Mal. „Mach dich bettfertig. Du weißt, wir fahren zu Onkel Ludwig.“ Das Kind stellte sich störrisch. Ein Appell reichte nicht. Zehn Minuten später wiederholte der Vater ihn mit genauso wenig Erfolg. Jetzt wurde es ernst. „Nun mach aber endlich. Ich möchte den Anfang von Frankenfeld mitbekommen. In zwei Minuten bist du im Bett, oder es setzt was.“ Das Kind wehrte sich schüchtern. „Ich will nicht allein bleiben.“ „Ach jammere nicht. Du bist doch nicht allein. Onkel Ludwig wohnt ein paar Straßen weiter und um zehn sind wir wieder zu Hause!“ „Nein, ich kann nicht schlafen, wenn ich alleine bin.“ „Nun stell dich nicht so an. Zwei Stunden, länger sind wir nicht weg. Zwölf Jahre bist du. Ein Gymnasiast hat doch keine Angst. Du gehst jeden Morgen allein zur Schule.“ „Ich kann aber wirklich nicht schlafen.“ „Schluss jetzt, ab ins Bett, Augen zu und dann bis morgen früh!“
Das Kind beugte sich. Es hörte noch, wie die Eltern abfuhren, dann lag es wach in seinem Bett. Es grübelte. Jeden Samstagabend bekam es Panik, ohne den Grund zu wissen. Mit vielen Gedanken und offenen Augen wälzte es sich hin und her. Hoffentlich passierte den Eltern nichts. Von nächtlichen Unfällen auf eisglatten Straßen las es viel in der Zeitung. Die Kirchenglocke schlug. Erst halb neun. Bis zehn waren es noch anderthalb Stunden. Das Kind würde ja gerne schlafen, aber die Augen fielen nicht zu. Und je mehr es daran dachte zu schlafen, desto wacher wurde es. Zwischendurch ging es einmal zur Toilette, obwohl es gar nicht musste. Wieder zurück ins Bett, das weich und warm war; daran lag es nicht, darin fühlte sich das Kind wohl. Nur Einschlafen gelang nicht. So lag es mit offenen Augen und starrte zur Decke. Der Spalt zwischen den Gardinenschals ließ das kalte, weiße Mondlicht in sein Zimmer. Schattenspiele an der Wand erzeugten manche Fantasien. Zauberfeen, Riesen und Drachen kämpften miteinander. Das Kind schloss die Augen, um sich vor den Trugbildern zu schützen, nicht um zu schlafen. Es zählte den Glockenschlag der Kirchturmuhr. Immerhin schlug es schon neun. Die Hälfte des Alleinseins war bereits überstanden, denn die Eltern kamen immer pünktlich zurück. Ein weiterer Einschlafversuch brachte nichts. Hellwach stand das Kind auf und schlich zum Fenster. Vorsichtig schob es den Vorhang ein wenig zur Seite. Vielleicht bog der graue Käfer des Vaters um die Ecke. Dann hätte sich alles gelöst. Nichts tat sich auf der Straße. Sie war menschenleer. Kein Auto fuhr vorüber. Erst recht war weit und breit kein grauer VW zu sehen. Das Kind kroch mutlos ins Bett zurück. Die Eltern hielten doch zu ihm. Es war nur der Samstagabend, der Probleme machte. Das Kind stand wieder auf, lief durch die dunkle Wohnung und sprach mit sich selbst, um seine Angst zu verjagen. Nichts nutzte, das Kind blieb allein und fühlte sich verlassen. Deshalb gab es seinen Kampf auf. Starr und steif zog es sich zurück ins Bett, und sein Herzklopfen war wie ein Zeitzeichen.
Endlich wurde ein Schlüssel im Schlüsselloch gedreht. Die Haustür knarrte. Flurlicht fiel in die Diele. Die Eltern warfen einen flüchtigen Blick ins Kinderzimmer, das gehorsame Kind tat so, als ob es schlief. Ein paar Minuten später war es tatsächlich eingeschlafen.
Gottesgeschichten
Josua sagte zum ganzen Volk: Wenn es euch nicht gefällt, dem Herrn zu dienen, dann entscheidet euch heute, wem ihr dienen wollt: den Göttern, denen eure Väter jenseits des Stroms dienten, oder den Göttern der Amoriter, in deren Land ihr wohnt. Ich aber und mein Haus, wir wollen dem Herrn dienen. Das Volk antwortete: Das sei uns fern, dass wir den Herrn verlassen und anderen Göttern dienen. Denn der Herr, unser Gott, war es, der uns und unsere Väter aus dem Sklavenhaus Ägypten herausgeführt hat (Jos 24,15–17).
Vor einiger Zeit berichtete mir ein Bekannter von seiner Herzoperation. Er hatte einige Bypässe und eine neue Herzklappe erhalten. Ihm stand noch die Angst im Gesicht geschrieben. Ja, die Angst sei schlimmer als das Drum und Dran zur Operation. Wie ein kleines Kind habe er Angst gehabt. Aber im Nachhinein sei er fest überzeugt, „der da oben“ habe ihn nicht allein gelassen. „Der da oben“ habe ihm geholfen. Er wiederholte es, ohne den da oben wäre er jetzt nicht mehr. Das Wort „Gott“ sprach er nicht aus. Immerhin hatte der Mensch mit dem da oben eine positive Erfahrung gemacht. Er habe ihn ins Leben zurückgeholt. Viele halten kritisch dagegen, das sei doch naiv. Die Medizin und die Kunst des Chirurgen hätten ihn am Leben gehalten. Falls ich so argumentiere, sind auch die gegenteiligen Geschichten über Gott naiv. In ihnen wird Gott mit dem Tod verbunden. Als mein Mann starb, erzählt die Witwe, hat der da oben uns allein gelassen. Dabei brauchte ich meinen Mann noch. Ich könnte wieder auf die Medizin verweisen. Vielleicht waren die Ärzte überfordert.
So steht Geschichte gegen Geschichte, Geschichten der Freiheit gegen Geschichten der Unterdrückung, Geschichten der Angst gegen Geschichten des Mutes. Der Mensch muss sich entscheiden, welcher Geschichte er vertraut und welche er erzählt. Stimmt er der Gottesgeschichte vom Leben zu, oder ist die Gottesgeschichte vom Sterben ihm näher? Gott und das Leben oder Gott und der Tod?
Das Volk Israel muss sich in Sichem zwischen verschiedenen Geschichten entscheiden. Da stehen die Götter der Amoriter neben dem Gott, der das Volk Israel aus dem Sklavenhaus Ägyptens befreit hat. Diese Geschichte ist das Fundament des jüdischen Glaubensbekenntnisses. Keine andere hat Israel so bestimmt wie die Befreiungstat Gottes. Gott führt aus der tödlichen Unterdrückung zum Leben, weil er kein Gott des Todes ist. Daran glauben die Israeliten und davon lassen sie sich nicht abbringen, gleichgültig, welche Geschichte sie mit Gott erlebt haben oder noch erleben werden.
Die Freiheitsgeschichte Israels ist keine Glaubensgeschichte eines einzelnen Menschen, der am Herzen operiert worden ist. Sie dreht sich um ein ganzes Volk. Eine solche Geschichte brauchen Menschen, um gegen den Tod an das Leben zu glauben. Deshalb erzählen sie sich die Geschichte, Sabbat