Bilingue. Rainer Schneuwly

Bilingue - Rainer Schneuwly


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Kernpunkt der Bieler Kommunikation», so Conrad.

      Der Welschbieler Journalist Jean-Philippe Rutz sagt, er beginne in Biel ein Gespräch, etwa wenn er im Restaurant etwas bestelle, grundsätzlich in Französisch. Schliesslich gelte es zu demonstrieren, dass Biel auch französischsprachig sei und dass Französischsprachige das Recht hätten, in ihrer Sprache bedient zu werden. Wenn sich erweise, dass das Gegenüber das Französische nicht beherrsche, sei er aber überhaupt nicht irritiert und wechsle ohne Umschweife auf Hoch- oder Schweizerdeutsch. Meistens wird Rutz, in Biel aufgewachsen, auf Französisch bedient.

      Ich habe 2018 in Biel getestet, ob das Bieler Modell auch wirklich zur Anwendung kommt: Neun Mal betrat ich ein Geschäft oder eine Gaststätte und sprach jene Sprache, welcher sich die Verkäuferin oder der Kellner nicht bediente. In einem Warenhaus wurde ich mit «Grüessech, bonjour» begrüsst. Ich wählte nach der zweisprachigen Begrüssung Deutsch, was wir in der weiteren Unterhaltung fortführten. Resultat: In acht von neun Fällen passten sich die Gesprächspartnerinnen und -partner meiner Initialsprache an.

      Nicht in meiner Sprache wurde ich einzig in einem Kiosk am Guisan-Platz bedient. Obwohl ich auf Französisch gesagt hatte, ich wolle diese Packung Kaugummi kaufen, sagte die Verkäuferin: «Drüsächzg» – das mache 3.60 Franken. Auch als ich mit einem Zögern eine zweite Aussage provozierte, wiederholte sie «Drüsächzg». Vielleicht missachtete sie das Bieler Modell, weil sie gerade in ein intensives Gespräch mit der deutschsprachigen Kollegin involviert war, als ich den Kiosk betrat. Und passte sich mir, dem Kunden, deshalb nicht an.

      In Anlehnung an den Begriff «Bieler Modell» kann man von einem «Schweizer Modell» sprechen. Dies dann, wenn beispielsweise ein Italienischsprachiger auf einen Deutschsprachigen trifft, beide die andere Sprache mindestens passiv beherrschen und deshalb jeder in seiner Sprache sprechen kann. Auch dieser Begriff ist in der Linguistik eingeführt; ihn hat laut Conrad ebenfalls der Sprachwissenschaftler Gottfried Kolde in den 1980er-Jahren geprägt. Dieses Modell wird in den Eidgenössischen Räten verwendet oder in Sitzungen von überregionalen Unternehmen, die mehrsprachige Angestellte beschäftigen. Conrad sagt, das Schweizer Modell komme in Biel durchaus auch zur Anwendung. Sie zitiert etwa eine Informantin, die ihr berichtete, in ihrem Büro rede sie Deutsch, die Kollegin Französisch.

      Geringere sprachliche Anpassung in Freiburg

      Die Berner und Neuenburger Linguisten wollten in den Jahren 2000 bis 2004 eigentlich nur den Sprachgebrauch in Biel erforschen. Sie erhielten aber von etlichen Bieler Auskunftspersonen den Hinweis, in Freiburg unterscheide sich die Situation stark von jener in Biel. Das liess die Wissenschaftler aufhorchen und sie beschlossen, in der Saanestadt ebenfalls siebzig Gespräche durchzuführen. In Freiburg wurden die Interviews eher in Deutsch durchgeführt, um wie in Biel die Akzeptanz der Minderheitensprache zu testen.

      Resultat: Erstens verweigerten in Freiburg mehr Personen das Gespräch als in Biel. Die Studierenden führten die Interviews jeweils mit einem versteckten Mikrofon durch – sowohl in Biel als auch in Freiburg –, waren aber aus rechtlichen Gründen gezwungen, unmittelbar nach dem Gespräch die Befragten darauf hinzuweisen und zu fragen, ob die Aufnahme verwendet werden dürfe.

      Zweitens passten sich die Befragten in Freiburg nur in 22 der 70 durchgeführten Interviews der von den Studierenden gewählten Initialsprache an. Es kam somit in nur rund halb so vielen Gesprächen (in Freiburg 22; in Biel 46) zu einer Anpassung. Zahlreich waren die Situationen, in denen die Studierenden Deutsch sprachen, aber eine französische Antwort erhielten. «Nicht selten wurden unsere Mitarbeitenden auch direkt aufgefordert, ihre Kenntnisse des Französischen aktiv einzubringen und die Sprache zu wechseln. Die Anzahl Aufnahmen, in denen unsere Mitarbeitenden gebeten wurden, die Sprache zu wechseln, ist mit elf mehr als doppelt so hoch wie in Biel», schreibt Conrad.

      Die Auswertung der Befragungen in Freiburg zeige, fährt Conrad fort, dass Französisch in Freiburg häufig unverzichtbar sei und französischsprachige Personen «ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass die deutschsprachige Kundschaft oder ein deutschsprachiger Passant Französisch spricht oder dieses zumindest versteht». Anders als in Biel verweigere die französischsprachige Mehrheit in Freiburg somit der deutschsprachigen Minderheit das Recht auf Deutsch und folglich das Recht auf Einsprachigkeit – unabhängig davon, ob nun das Schweizer Modell verwendet oder der Kunde aufgefordert werde, die Sprache zu wechseln. «Hingegen fordert die französische Mehrheit dieses Recht für sich selber ein, wenn sie ein Deutsch redendes Gegenüber bittet, die Sprache zu wechseln. Die sprachlichen Rechte und Pflichten innerhalb der beiden Freiburger Sprachgruppen sind damit unterschiedlich verteilt.»

      Die St. Michaelsgasse (Rue St-Michel) in Freiburg. In dieser Gasse, die zum Kollegium St. Michael und zur Universitäts- und Kantonsbibliothek führt, halten sich stets viele Schülerinnen und Schüler sowie Studentinnen und Studenten auf. Entsprechend zweisprachig ist das Ambiente. (Bild: Charles Ellena)

      In Anlehnung an das Bieler und das Schweizer Modell könnte man also von einem «Freiburger Modell» sprechen: Nicht die Initialsprache der Kundin, des Kunden ist entscheidend für die Fortführung des Gesprächs, Umgangssprache ist prinzipiell die lokale Mehrheitssprache.

      Auch in Freiburg habe ich die aus den frühen Nullerjahren dieses Jahrhunderts stammenden Forschungsergebnisse stichprobenartig überprüft. In zehn Läden respektive Restaurants sprach ich das Personal in Senslerdeutsch an. Das Resultat dieser Stichproben ist natürlich nicht repräsentativ, es stimmt aber ziemlich gut mit den Erkenntnissen der Neuenburger und Berner Linguisten überein: In mehreren Fällen reagierte das Personal gar nicht auf mein Deutsch und forderte das Geld in Französisch ein. Allerdings beklagte sich niemand über mein Deutsch und niemand forderte mich auf, Französisch zu reden. Es ist aber ganz klar, dass man es sich in Freiburg einfacher macht, wenn man von Beginn an Französisch spricht. Ein Verkaufsgespräch ist meist eine Situation, in der nicht viel Zeit vorhanden ist. Es muss rasch gehen. Also traute ich mich beispielsweise nicht, in einer Bäckerei, wo Punkt zwölf Uhr mittags alle ein Sandwich wollten, den Deutschtest zu machen. Ich verlangte mein Brot auf Französisch.

      Indem die Deutschsprachigen in Freiburg selbst stets Französisch sprächen, bestätigten sie die Stärke des Französischen in der Stadt noch, merkt Conrad an. Ihr ist im Übrigen aufgefallen, dass häufig weder die Aussprache noch das Vokabular oder die Syntax sonderlich deutsch geprägt sind, wenn Deutschsprachige in Freiburg Französisch parlieren. Mit anderen Worten: Sie sprechen im Allgemeinen gut Französisch.

      Nicht selten merkt ein Französisch sprechender Deutschfreiburger im Gesprächsverlauf in einem Freiburger Laden aufgrund einer kleinen sprachlichen Unsicherheit oder anhand des Akzents, dass das Gegenüber deutschsprachig ist. Dann lacht man und setzt den Dialog in Deutsch fort.

      André Perler, ein junger Deutschfreiburger Dialekt-Experte und Radiomacher, sagt, er spreche in Freiburg das Personal in Läden und Restaurants grundsätzlich in Deutsch an. Er signalisiere so, dass er als Deutschfreiburger in Freiburg das Recht habe, Deutsch zu sprechen. Sein Kollege Marco Koller, Lokaljournalist und Student, sagt meistens «Guettag, Bonjour» – und drückt damit aus, dass er deutschsprachig ist, signalisiert aber gleichzeitig Flexibilität. Es komme eben auch auf die Situation an, sind sich Perler, Koller und ein weiterer junger Freiburger, der Student Matthias Schafer, in einem Gespräch zu diesem Buch einig. In einer kleinen, von Französisch sprechenden Portugiesen betriebenen Bäckerei beispielsweise sei es nicht sinnvoll, auf Deutsch zu pochen. Verlangen könne man aber beispielsweise Deutschkenntnisse des Personals in einer grossen Institution wie der Post.

      Koller und Schafer haben festgestellt, dass in Freiburg hin und wieder das Englische verwendet wird, wenn beispielsweise jemand mit französischer Muttersprache, der nicht gut Deutsch spricht, auf einen Deutschsprachigen trifft – doch das geschehe eher selten, sagt Koller. Er erzählt, ein Kellner in einer Freiburger Bar habe beispielsweise auf Englisch gewechselt, als dieser bemerkte, dass er das Gespräch für seine Deutschschweizer Kollegen von Französisch auf Deutsch übersetzte. Auch informiere die Verwalterin seines Mietshauses die Bewohner in Französisch und Englisch über gewisse Hausregeln, nicht aber in Deutsch.

      Evelyne Zbinden, eine


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