Lebenskrisen und ihre Botschaften. Georg Lauscher
Georg Lauscher
Lebenskrisen und ihre Botschaften
Franziskanische Akzente
herausgegeben von Mirjam Schambeck sf
und Helmut Schlegel ofm
Band 28
GEORG LAUSCHER
Lebenskrisen und ihre Botschaften
Von Anfängen und Übergängen
echter
Herzlicher Dank geht an Eva Kasper für die sorgfältige Zuarbeit bei den Korrekturen und den Sponsorinnen dieses Bandes, die nicht genannt werden wollen. Mirjam Schambeck sf und Helmut Schlegel OFM danke ich für die Einladung und Aufnahme in die Reihe „Franziskanische Akzente“.
Ich gebe nur weiter, was ich empfangen und auf meine Weise verarbeitet habe. Was das Umgehen mit Lebenskrisen betrifft, habe ich viel gelernt von meinen Nachbarn in sozialen Brennpunkten und von Arbeitskolleg*innen in der Fabrik, von Menschen, mit denen ich mich verstehe – über die Grenzen von Nation, Kultur und Religion hinaus. Und ich lerne weiter von den Menschen, die ich geistlich begleite.
Wilhelm Bruners bin ich dankbar für sein aufrichtiges Zutrauen und die kräftige Ermutigung zu diesem Buch.
Den Aachener Franziskanerinnen bin ich dankbar für ihre Gastfreundschaft. Sie haben, ohne es zu wissen, mir die Arbeit an diesem Buch ermöglicht.
Inhalt
Vorwort
1. Brüche
Seelische und spirituelle Ermüdungsbrüche
2. Anfänge
„Das Licht leuchtet in der Finsternis"
Resonanzraum und Korridor in dunkler Nacht
Neu und nackt
Anfängergeist
Neu sehen lernen
Das Nichts des Lichts
Ein Riss – da kommt Licht herein!
Anfänger*innen beten gründlich
3. Übergänge
„Werdet Vorübergehende!“
Keine Entwicklung ohne Scheitern
Vom Erscheitern der neuen Lebensgestalt
Doch durch Trauer hindurch
Im Vorübergehen mit Gott
Ein gründender und bewegender Bruch
4. Die Botschaft(en)?
„Der Dornbusch ist der alte Weg-Versperrer. Er muss Feuer fangen, wenn Du weiterwillst“
Zum Weiterlesen
Abkürzungen
Anmerkungen
Vorwort
„Jimmy“ riefen ihn alle, diesen jungen Mann, wenn er zwischen den Hochhäusern des sozialen Brennpunktes freundlich winkte. Oft wurde er ausgenutzt. Auch von seinen Landsleuten, die wie er aus Albanien hier Zuflucht und Zukunft suchten. Eines Tages nun klopft er verzweifelt an meine Wohnungstür im 13. Stock: „Ich war telefonieren, in der Telefonzelle an der Hauptstraße. Es war ein so schlimmes Gespräch, dass ich danach schnell raus bin. Ich habe alles liegen lassen … all meine Papiere, mein ganzes Geld … Als ich es merkte und zurückliefin die Telefonzelle, war alles weg … Ich stehe vor dem Nichts…“ Lange sitzen wir uns gegenüber, bedrückt und schweigend. Nur einzelne Worte gehen hin und her. Doch plötzlich – nach einem besonders langen Schweigen – richtet Jimmy sich auf: „… und ich liebe mich mit meinen Problemen!“
Er war in einer verzweifelten Lage – äußerlich hatte sie sich nicht im Geringsten verändert –, und doch war plötzlich alles anders. Was war mit ihm geschehen? Ich weiß es nicht. Eine Wandlung. Ja. Aber ich konnte weder einen bestimmten neuen Gedanken seinerseits erkennen noch eine besonders gelungene Antwort meinerseits. Inmitten dieser verfahrenen Situation brach aus dem Nichts heraus etwas Neues auf. Oder genauer: Es kam aus der Resonanz zwischen uns. Alles lag nun da in einem neuen Licht, das sich plötzlich Bahn gebrochen hatte. In diesem Licht konnte sich Jimmy mit seinen Problemen lieben. Doch wie kam er – der staatlich indoktrinierte Atheist – dazu, sich an diesem Nullpunkt liebenswert zu finden? Ich weiß es nicht. Er wusste es vermutlich selbst nicht. Aber es war wahr. Der radikale Neuansatz am Tiefpunkt der Verzweiflung war wahr. Eindeutig und unumkehrbar. Doch welche Botschaft erfuhr Jimmy hier für seinen Lebensweg?
Die Krise ist der Ursprungsort jüdischen und christlichen Glaubens. In und durch Krisen hindurch kam und kommt der Glaube zur Welt. Konventionen und religiöse Konstruktionen mögen vorübergehend helfen. Früher oder später werden sie zerbrechen. Die Ursprungsorte des Glaubens sind oft markiert durch ein Überwältigtsein von etwas außergewöhnlich Schönem oder etwas außergewöhnlich Schlimmem, in dessen Folge sich Verwunderung oder Desorientierung einstellen, selige oder leidvolle Fassungslosigkeit. Zumindest bewährt und klärt, läutert und häutet sich hier Glaube in einer Entwicklung, die erst mit dem letzten Atemzug endet.
Von „Lebenskrisen und ihren Botschaften“ handelt dieses Buch. Es widerspricht der persönlich und politisch tiefsitzenden Illusion eines Lebens ohne Krisen und Konflikte, ohne Leiden und Anstrengung. Dieser moderne Mythos entspricht nicht der Realität. Er begegnet uns in den verschwiegenen Wahrheiten politischer Verhältnisse und auch im seichten Gottesbild innerhalb wie außerhalb der Kirchen, die ein gelingendes Leben ohne Reibungsflächen vorgaukeln. Ich misstraue solchen Ver-Sprechen aufgrund eigener und fremder Lebenserfahrungen. Mag sein, dass in einem oberflächlichen und entfremdeten Leben Krisen, schmerzliche Entscheidungen und riskante Anfänge weitgehend vermeidbar sind. Doch um welchen Preis? Um den Preis der Wahrheit und des Weiterwachsens? Lebensfremde Illusionen und Konstruktionen sind ohne schmerzhafte Brüche, Anfänge und Übergänge nicht zu entlarven. „Du wirst heute zum Christen getauft“, schreibt Dietrich Bonhoeffer zum Tauftag eines Neugeborenen aus dem Gefängnis. „… auch wir selbst sind wieder ganz auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen.“1
Ich lade ein, dem brüchigen Menschenleben treu zu bleiben und genau hinzuschauen, was durch seine Bruchstellen hindurch aufleuchten könnte. Es geht hier weniger um Information und Analyse. Es geht vielmehr um ein Verstehen von innen und von einer bejahenden Beziehung her. Die seelische Bewegung, in der die Seele Lebenskrisen durchleidet und überwindet, gleicht der Struktur einer Spirale. Die Seele umkreist den schwer verständlichen Kern einer Krise, indem sie ihn aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick nimmt. Auch wenn wir oft meinen, im Kreisen auf der Stelle zu treten und wieder am alten Punkt angelangt zu sein, findet die Seele intuitiv auf diese Weise ihren Weg zur Heilung. Dabei muss unser Geist die Seele oft schützen vor übernommenen und tief eingeprägten kontrollierenden und bewertenden Denkmustern. Eine sanfte geistige Selbstdisziplin ist hier zu üben, die den augenblicklichen Zustand verständnisvoll annimmt. „Was nicht angenommen ist, kann nicht verwandelt, nicht erlöst werden“, lautet eine Grunderfahrung der spirituellen Theolog*innen der frühen Kirche. Dieser Satz wurde zur Kurzformel für das Geheimnis der göttlichen Menschwerdung.
Im verstehenden Umkreisen und Annehmen werden zurückliegende schmerzliche Erfahrungen auf eine neue Ebene gehoben, in einem doppelten Sinn aufgehoben. Sie werden nicht achtlos übergangen, sondern in die