Lean Administration. Ingo Laqua
So ist beispielsweise zwischen 1980 und 2000 im Maschinenbau die Fertigungstiefe um 17 Prozent, in der Automobilindustrie um 21% zurückgegangen (Arnold 2004). Ursächlich hierfür ist, dass sich die Unternehmen zunehmend auf ihre Kernkompetenzen wie Vermarktung und Entwicklung konzentrieren, während Produktionsleistungen extern zugekauft werden – bekanntermaßen auch immer öfter im Ausland.
• Eine marktgetriebene Produktdiversifizierung hat durch einen erheblichen Anstieg der Variantenvielfalt dazu beigetragen, dass die Aufwände in Auftragsabwicklung, Konstruktion, Arbeitsvorbereitung und Fertigungssteuerung nachhaltig gestiegen sind. Die hieraus resultierende Notwendigkeit der Standardisierung hat in vielen Unternehmen noch nicht stattgefunden, so dass mehr Varianten nahezu gleichbedeutend mit mehr Personalressourcen sind.
• Zunehmende behördliche Auflagen und wirtschaftliche Erfordernisse haben dazu geführt, zusätzlich erforderliches Expertenwissen im Unternehmen vorzuhalten. Umwelt- und Compliance Management oder das Claim Management im Projektgeschäft sind nur einige Beispiele für zusätzliche administrative Tätigkeiten, die früher nicht erforderlich waren, aber heute den Gemeinkostenbereich zusätzlich aufblähen.
Die zusätzlichen Aufgaben der Administration begründen alleine aber nicht den signifikanten Anstieg der Gemeinkosten. Tatsache ist vielmehr, dass die Administration mit der Produktivitätsentwicklung der Produktion nicht Schritt gehalten hat. Sie werden in diesem Buch lesen, wie viel offene und versteckte Verschwendung in den ‚verwaltenden Bereichen‘ immer noch alltäglich ist‚ so dass die Mitarbeiter zwar beschäftigt, aber nicht wertschöpfend tätig sind.
Wertschöpfung muss richtig definiert werden
Apropos Wertschöpfung: Nach derselben Statistik des VDMA beträgt die Pro-Kopf-Wertschöpfung im deutschen Maschinen- und Anlagenbau € 78.800 pro Mitarbeiter. Dieser Wert bedeutet anders formuliert die eingebrachte Arbeit eines Mitarbeiters als Beitrag zum Unternehmensergebnis. Eine Aussage, was davon wirklich wertschöpfend und wie hoch der Anteil der Verschwendung ist, wird damit jedoch nicht getroffen. Und das ist das Problem: Das wahre Ausmaß an Verschwendung und Wertschöpfung lässt sich in der Produktion vielleicht noch über Ausschuss- und Nacharbeitskosten ermitteln, in der Administration ist dies mit einer undifferenzierten Betrachtung betriebswirtschaftlicher Kennzahlen nicht möglich. Die betriebswirtschaftliche Definition der Wertschöpfung als Betriebsertrag abzüglich Vorleistung reicht im Sinne des Lean Management also nicht aus. Bei Lean Administration geht es um den Teil der Arbeit, bei dem wertschöpfend an einem Produkt der Administration gearbeitet wird. Welche Produkte dies konkret sind, beschreibe ich in Kapitel 3 ausführlich.
Die offensichtlichen Potenziale der Administration
Es gibt Potenziale in der Administration, die sofort offensichtlich sind, sobald man durch die Büros und Besprechungsräume europäischer Industrieunternehmen geht: Besprechungen mit viel zu vielen Leuten ohne Ergebnis, fluchende Sachbearbeiter, die dringend benötigte Unterlagen suchen oder überquellende E-Mail-Posteingangsfächer. Fasst man alleine dies in Zahlen, wird einem schnell klar, wie viel Verschwendung auf den Teppichetagen tatsächlich vorhanden ist:
• Bis zu zwei Stunden beschäftigen sich europäische Manager täglich mit der Bearbeitung von E-Mails, 32 Prozent dieser E-Mails bezeichnen sie als irrelevante und reine Zeitfresser (Handelsblatt vom 28.06.2007).
• Mitarbeiter in europäischen Unternehmen verbringen täglich durchschnittlich 67 Minuten ihrer Zeit mit der Suche nach Informationen (Informationbuilders.de vom 12.07.2007).
• Europäische Finanz- und Personalmanager halten 31,5 Prozent aller Meetings wegen ungenügender Vorbereitung, fehlender, aber relevanter Ansprechpartner und ausufernden Diskussionen für überflüssig (Financial Times vom 13.11.2009).
• Durchschnittlich dauert es 15 Minuten, bis ein Sachbearbeiter wieder durch externe Einflüsse (E-Mail, Telefon etc.) von seiner Arbeit abgelenkt wird (Umfrage von uSamp im Auftrag von Harmon.ie)
Hinzugekommen ist die neueste Errungenschaft des Internets: Social Media, Facebook, Twitter & Co. tragen nachhaltig zur Ablenkung der Mitarbeiter bei. Laut der Studie von uSamp resultieren inzwischen 9 Prozent aller Arbeitsunterbrechungen aus Mitteilungen von sozialen Netzwerken, SMS sind hier nicht eingerechnet. Die IT, die eigentlich entwickelt wurde, um Zeit zu sparen, bewirkt also genau das Gegenteil davon.
Noch schlimmer: Die versteckte Verschwendung in der Administration
Wenn sich die offensichtlichen Potenziale schon dramatisch anhören, ist es die Verschwendung, die nicht auf den ersten Blick offenkundig wird, erst recht. Nicht zuletzt deshalb, weil häufig endkundenrelevante Probleme entstehen, die nachhaltige Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit haben. Dies wird anhand folgender Fragestellungen deutlich:
• Wie viel Aufwand stecken Sie in die nachträgliche Ermittlung der Kundenanforderungen, weil diese zuvor nicht ausreichend spezifiziert wurden und wie oft müssen Sie dafür beim Kunden rückfragen?
• Wie viele Komponenten werden von der Konstruktion neu entwickelt und von der Arbeitsvorbereitung neu geplant, weil das Produktspektrum nicht ausreichend standardisiert ist?
• Wie oft beschäftigen sich Mitarbeiter mit Aufgaben, die eigentlich nicht in ihren Verantwortungsbereich gehören, beispielsweise der ‚einkaufende Konstrukteur‘, und welche Probleme ergeben sich daraus im Tagesgeschäft?
• Wie oft bekommen Sie vom Kunden keine vollständigen Zahlungen, weil die Technische Dokumentation nicht frühzeitig fertig war und mit den auszuliefernden Enderzeugnissen ausgeliefert werden konnte?
Die Liste könnte beliebig fortgesetzt werden und resultiert aus Problemen im Prozess, nicht richtig definierten Schnittstellen sowie unklaren Verantwortlichkeiten. Versteckt ist diese Art der Verschwendung deshalb, weil sie je nach Unternehmen und Branche unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann, weil sie in der Regel im Unternehmen nicht gemessen wird und weil es im Gegensatz zur offensichtlichen Verschwendung kaum Studien gibt, die das Ausmaß solcher Probleme quantifizieren. Dafür bedarf es schon einer detaillierten Analyse, die die Kernthemen administrativer Prozesse individuell auf den Punkt bringt und die hieraus resultierenden Potenziale in Zahlen bewertet. Hierauf werde ich im Kapitel 2 zu sprechen kommen.
Warum kurzfristige Produktivitätsprogramme keine Lösung sind
Das Resultat offener und versteckter Verschwendung sind hohe Gemeinkosten. Völlig unvorbereitet trifft ein Unternehmen die Erkenntnis, dass diese häufig erhebliche Potenziale beinhalten, nicht – und die Notwendigkeit, gegenzusteuern, ist auch hinlänglich bekannt.
Demzufolge gibt es auch andere Ansätze, um Gemeinkosten zu reduzieren: Die Gemeinkostenwertanalyse, das Target Costing oder das Zero-base-budgeting sind wohl die gebräuchlichsten Methoden, wenn es darum geht nicht direkt zuzuordnende Kosten in den Griff zu bekommen.
Das Problem mit diesen Verfahren ist, dass es sich in den vielen Fällen um einmalig angewandte ‚Hauruck-Ansätze‘ handelt, die zwar kurzfristig signifikante Einsparungen bringen, denen letztendlich aber die Nachhaltigkeit fehlt. Nehmen wir das Beispiel der Gemeinkostenwertanalyse. Hierbei werden, wie der Name schon sagt, die entstehenden Gemeinkosten hinsichtlich ihres erzeugten Wertes hinterfragt. Konkret werden dazu zunächst Inhalt und Aufwand der Tätigkeiten sowie die daraus resultierenden Kosten ermittelt und anschließend mit den Leistungsempfängern abgestimmt, welche dieser Leistungen zukünftig in welchem Umfang benötigt wird. Durch diese Abstimmung werden Tätigkeitsinhalte entweder vollständig gestrichen oder nach bestem Wissen und Gewissen optimiert. So weit so gut, denn ein systematischer Ansatz der Lean Administration, wie ich ihn in Kapitel 2 beschreibe, verfolgt grundsätzlich die gleiche Zielrichtung. Mit den klassischen Ansätzen zur Reduzierung der Gemeinkosten ist jedoch das Problem verbunden, dass sich die Einstellung der involvierten Mitarbeiter nicht grundsätzlich ändert. Die Anwendung einer solchen Maßnahme als reines ‚Kostenmanagement-Hilfsmittel‘ hat wenig damit zu tun, nachhaltig die Prozesse in Vertrieb, Einkauf, Buchhaltung & Co. zu verschlanken und das dringend erforderliche ‚Lean Thinking‘ bei den Mitarbeitern zu verankern. Letzteres und der fehlende Ansatz der kontinuierlichen Verbesserung sind deshalb die Gründe dafür, warum solche Produktivitätsprogramme häufig nur einen kurzfristigen Erfolg bringen