Die Lean Reise. Manfred Oertle
die Prozesskostenrechnung. Sie rechnet Kosten beanspruchter Ressourcen beispielsweise über eine zeitliche Inanspruchnahme jenen Prozessen zu, die diese Ressourcen realiter in Anspruch nehmen.
Solange Sie bei der Optimierung der „Zwiebelschalen“ (vgl. Kapitel 1.4) noch nicht beim Controlling angelangt sind, sollten Sie die Gemeinkostenbereiche zumindest mit einer Prozesssicht steuern (wenn diese schon nicht über Kosten gesteuert werden können).
Wenn Lean-Experten, die über gute Kenntnisse in Bilanzierung, Kostenrechnung und Controlling verfügen, diese Art von Diskussion anstoßen, beißen sie häufig auf Granit. Die Rechnungslogik im Unternehmen, so die Antwort, sei schon richtig. Dahinter verbirgt sich die Ablehnung der Prozessperspektive sowie der Mangel an Offenheit, auch kurzfristig teurer gerechnete Maßnahmen umzusetzen. Damit folgt man allerdings nicht mehr dem Weg der schlanken Philosophie. Aus diesem Grund wird Lean seine großen Potenziale im Gesamtsystem nicht ausschöpfen können und klein und schwach bleiben. Grund: Die Maßnahmen sind kurzfristig angelegt und nur auf punktuelle Optimierungen anstatt auf die viel größeren Zusammenhänge im Gesamtsystem ausgerichtet. Obwohl Lean aufgrund seiner ganzheitlichen Philosophie im Kern auch betriebswirtschaftlich groß und kraftvoll ist.
Ganzheitliche Kalkulation und Steuerung
Das Thema Gemeinkosten führt zum nächsten Problem: den unterschiedlichen Anreiz-Systemen. Frage: Wird bei Ihnen ein Produktionsverantwortlicher gelobt, wenner einen Euro mehr ausgibt? Dies sollte eigentlich dann der Fall sein, wenn in anderen Abteilungen dadurch zwei Euro eingespart werden. Umgekehrt wehren sich beispielsweise Logistik-Verantwortliche, Personal aufzustocken, um nicht nur sortenreine Ladungsträger an die Produktionsbereiche zu fahren, sondern auch Kits oder sequenzierte Teile. Aber was ist, wenn Sie im Logistikbereich einen Euro mehr ausgeben, in der Produktion hingegen zwei Euro sparen? An genau diese Konfliktherde, die klar gemanagt werden müssen, werden Sie bei Ihrer Lean-Einführung sehr schnell geraten. Häufig treten sie in Rollout-Phasen auf. Dies ist der Grund, warum sich so manche Führungskräfte gerade in diesen Phasen häufig vornehm zurückziehen. Tun Sie das nicht, sondern verändern Sie die Anreiz-Systeme. Bonifizieren Sie Einkäufer, wenn sie 1 Euro mehr ausgeben müssen, damit der Produktion jedoch 2 Euro einsparen helfen. Bonifizieren Sie sie, wenn zwar 1 Euro höhere Transportkosten verursacht, aber Logistik-Prozesskosten im Unternehmen in Höhe von 2 Euro gespart werden. Setzen Sie die „Gesamtsystembrille“ auf. Kalkulieren Sie so. Und ändern Sie die Anreiz-Systeme.
Konsequenz im Denken und Handeln
Konsequenz im Denken und Handeln bedeutet, permanent eine Energie zu erzeugen, die Selbstzufriedenheit überwindet oder erst gar nicht aufkommen lässt. (Selbstzufriedenheit führt zu Trägheit und nachlassender Energie.) Das ist jedoch in vielen Unternehmen eine Herkulesaufgabe. Denn es gibt Mitarbeiter, die der Ansicht sind, dass der aktuelle Zustand doch gut sei und von daher nichts geändert werden müsse. Sie erkennen all jene Probleme nicht, die täglich auftreten. Schließlich sind diese ja hinlänglich bekannt: Man hat sich daran gewöhnt, deshalb werden sie nicht als Problem wahrgenommen. Man sieht vor allem nicht, dass der aktuelle und als „gut“ wahrgenommene Zustand ebenfalls nur durch Veränderungen entstanden ist, die in der Vergangenheit als Reaktion auf Chancen, Risiken, Gelegenheiten oder Bedrohungen durchgeführt wurden. Und man erkennt häufig nicht, welche Möglichkeiten bestünden, wenn man sich einmal auf die Reise machen würde.
Eines kann ich Ihnen bereits vor Reiseantritt versichern: Die Lean-Reise benötigt jede Menge Energie. Stellen Sie sich von daher darauf ein, zu jeder Zeit konsequent zu bleiben und entsprechend zu handeln.
Vor Antritt der Reise: Die Veränderungsbereitschaft fördern
Eine Reise in weitgehend unbekanntes Terrain weckt fast immer Ängste. „Was erwartet uns hinter dem Horizont?“ Keine Frage, solche Ängste sind auch im Vorfeld großer Veränderungen vorhanden – ob man dabei so weit gehen muss, grundsätzliche Verweigerungshaltungen als angeborenes Verhalten zu interpretieren, sei dahingestellt. Sicher ist, dass es nicht schadet, im Vorfeld einer langen Reise Maßnahmen zu treffen, die der Angst entgegenwirken.
Bereits ein erfahrener Reiseleiter, der vor Reiseantritt von seinen früheren Erfahrungen berichtet, kann das Gefühl von Sicherheit vermitteln. Und: Im betrieblichen Umfeld führen fast immer Wege zurück. Wenn eine Veränderung die Erwartungen nicht erfüllt, kann man das Rad jederzeit zurückdrehen und den Ausgangszustand wieder herstellen.
Auch die Beteiligung an Konzept und Ausgestaltung einer Veränderung gibt Sicherheit. Mitarbeiter, die ihren künftigen Arbeitsbereich unter Anleitung eines Experten aktiv mitgestalten können, erkennen leichter, was auf sie zukommt und beginnen Schritt für Schritt, den eigenen Fähigkeiten zu vertrauen.
Seitens der Führung sollten Ängste nicht geleugnet oder gar bestraft, sondern offen angesprochen bzw. relativiert werden. Dabei hilft das Argument, dass es bei veränderten Prozessen meist nicht um Leben oder Tod geht, sondern um verbessertes Arbeiten. Und lassen Sie Ihre Mitarbeiter mit auftauchenden Problemen nicht allein! Kommunizieren Sie offen, dass neue Probleme auftauchen werden, die den altbekannten Problemen aber darin ähneln, dass sie lösbar sind. Mehr noch: Fehler gehören zum Lernen. Und es ist noch niemand über Bord geworfen worden, der Fehler macht, offen zugibt und abstellt. Auch die sichere Erwartung zahlreicher Fehler – und deren Akzeptanz – gehört zu einem professionellen Change Management. Und auch ein Reiseleiter sollte die Fülle neuer Probleme kennen und auf diese vorbereitet sein. Denn strahlt er eine Unsicherheit aus, so wird sich diese sehr wahrscheinlich auf die Teilnehmer übertragen.
Sie sehen: Realismus und Offenheit sind Kardinaltugenden des Change Management. Realismus heißt, dass Ängste normal sind und im Vorfeld offen angesprochen werden müssen. Eine Angst, deren Ursachen bekannt sind, verliert einen großen Teil ihres Schreckens. Vor diesem Hintergrund heißt „Veränderungsbereitschaft fördern“ vor allem Ängste überwinden.
Auch wenn diese Botschaft simpel klingt, ist sie doch von größtem Wert. Für alle Beteiligten. Führungskräften, Veränderungsmanagern und Mitarbeitern muss vermittelt werden, dass Ängste normal sind und keine individuelle Schwäche. Der Umgang mit diesen Ängsten ist und bleibt ein zentraler Erfolgsfaktor im Veränderungsmanagement. Auch bei Lean.
Denknetze bilden – ein Exkurs
Dies ist kein Buch über Kognitions-Theorie. Dennoch möchte ich einen, zugegebenermaßen etwas laienhaften, Exkurs in die Hirnforschung unternehmen. Stichwort Denknetze: Das nachhaltige Verständnis gehörter Information setzt voraus, dass im Gehirn Wissen über den Kontext der Information vorhanden ist. Dieses Kontextwissen ist wiederum in einer Art Struktur oder Verbindung repräsentiert, einem Netzwerk. Nun lässt sich die Herausbildung solcher Denk- oder Verständnisnetze stimulieren und verdichten – durch Lernen, Training, Coaching, spielerische Anwendung (Planspiele) und schlichtes Üben. Die Vorstellung, dass man durch bloßes Zuhören lernt, ist ein Trugschluss. Nachhaltiges Verständnis setzt das Vorhandensein eines solchen Denknetzes voraus.
Diese Erkenntnis ist im Zusammenhang mit Lean von besonderer Bedeutung. Lean stellt in vielerlei Hinsicht eine eigene begriffliche, logische und kognitive Welt dar, deren Verständnis nicht per Frontalunterricht verkündet, sondern über eigenes Erkennen und eigenes Erleben „erfahren“ werden muss. Baustein für Baustein. Bei Lean bedingen sich viele Dinge gegenseitig auf eine eher mittelbare, auf den ersten Blick schwer erkennbare Weise. Gerade diese verborgenen Zusammenhänge machen einen wesentlichen Mehrwert von Lean aus – und werden nur im Kontext verständlich.
Weshalb ich Ihnen das erzähle? Nun, ein solches Denknetz bildet sich im Verlauf der Lean-Reise nur allmählich heraus. Heißt: Verständnis, Orientierung und Handlungssicherheit steigen mit zunehmender Reisedauer, können aber nicht von Beginn an vorausgesetzt werden. Weshalb es passieren kann, dass Informationen mehrmals gesendet werden, aber erst beim „x-ten Mal“ verstanden und „ins Denknetz eingeordnet“ werden können. Geben Sie den Reiseteilnehmern die Zeit, die faszinierende Landschaft von Lean wirklich erkennen und genießen zu können.
Ende des Exkurses.
1.3 Die Koffer