Carl Friedrich von Weizsäcker. Ino Weber

Carl Friedrich von Weizsäcker - Ino Weber


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empfindender Wissenschaftler 1939 reagieren? Welche Position war die vernünftige? Bei Weizsäcker war die Gemengelage aus rationalen und irrationalen Motiven offensichtlich komplex. Auswandern kam für ihn allerdings überhaupt nicht in Frage. Es gab sicher keine Absicht, die Atombombe zu bauen, aber auch keinen verschwörerischen Plan, es gegebenenfalls zu verhindern.

      Einzelne Beweggründe herauszugreifen, wird der Komplexität der Lage nicht gerecht. Auffällig ist nur Weizsäckers Entschlossenheit, unter offenkundig militärischem Auftrag weiter zu forschen, sie ist eine unzweifelhafte Tatsache. Es bestand die erhebliche Gefahr, Hitler in den Besitz einer Atombombe zu bringen, und dies wurde von den Beteiligten anscheinend in Kauf genommen. Die wissenschaftliche Neugier war sicher ein gewichtiger Grund, aber es gab möglicherweise noch ein stärkeres, wenngleich nur halbbewusstes Motiv: Weizsäckers Vorstellung, mithilfe der künftigen Bombe, deren Entwicklung in Anbetracht des weltweiten wissenschaftlichen Fortschritts ohnehin nicht mehr zu verhindern war, könne die Menschheit schließlich die Institution des Krieges endgültig abschaffen, einfach deshalb, weil sie unter dieser immens zerstörerischen Bedrohung dazu gezwungen sein würde. Natürlich setzte dieses Gedankenspiel ein Obsiegen der Vernunft voraus, was angesichts der weltpolitischen Lage äußerst zweifelhaft erscheinen musste.

      1946 bis 1957

      In der Zeit von 1946 bis 1957 widmet sich Carl Friedrich von Weizsäcker noch intensiver als bisher der Physik, nämlich als Abteilungsleiter am Max-Planck-Institut in Göttingen und zusätzlich als ordentlicher Professor für Physik an der Göttinger Universität. Seine fast einjährige Internierung, vor allem das letzte halbe Jahr in Farm Hall (England) bis März 1946, hatte allerdings Spuren hinterlassen, nicht aufgrund auszuhaltender Härten, sondern weil genügend Zeit war, um über den grauenvollen Krieg und die eigene Rolle im Nazi-Deutschland nachzudenken. Wie Weizsäcker sich selbst eingestehen musste, überstiegen die Ereignisse seine „intellektuelle Verarbeitungsfähigkeit“,7 Trotz bewusster geistiger und ethischer Distanz übte Hitler eine mysteriöse Anziehungskraft auf ihn aus, wobei besonders seine Gabe beeindruckte, dem verzagten Volk wieder Hoffnung zu geben inmitten des niederdrückenden wirtschaftlichen Elends in den frühen Dreißigerjahren. Man muss dies richtig verstehen: Für Weizsäcker stand zweifelsfrei fest, dass es sich in der Person Hitlers um einen gefährlichen Scharlatan, einen menschenverachtenden Rassisten, Kriegstreiber und Verbrecher handelte, den Weizsäckers Vater zutiefst hasste und dem auch der Sohn durchaus reserviert gegenüberstand. Aber der Diktator schien „irgendeine Mission8 zu haben.

      Ahnungen und unklare Wahrnehmungen waren zwischen 1933-1945 derart vorherrschend, dass die gebotene „rationale Nüchternheit“ erst nachträglich neu erlernt werden musste. Nach Weizsäckers eigener Aussage blieb sein geistiges Verhältnis zu den politischen Zeitproblemen, ja seine gesamte Vorstellung von Politik überhaupt, bis 1952 eher unscharf. Ernst von Weizsäcker, der seinen ältesten Sohn schon als Kind spielerisch und doch sehr gründlich in politischer Theorie unterwies, riet ihm einmal rundheraus, möglichst nicht in die Politik zu gehen.

      1945 spürt Weizsäcker deutlich die kollektive Selbstverblendung, die nach Kriegsende in Deutschland weiter andauert. Was offensichtlich fehlt und dringend nachgeholt werden muss, ist eine intensive, heilsame Trauerarbeit. Wer die historischen Fakten leugnet oder nicht anzuschauen bereit ist, kann seine eigene Schuld nicht erkennen. In der Konsequenz wird so auch die Arbeit am notwendigen Bewusstseinswandel verweigert, was für die kulturelle Entwicklung ein ausgesprochenes Hemmnis darstellt. Verdrängung ist ein politisch eminent gefährliches Problem. Neue Krisen sind vorprogrammiert. Dies sind wichtige Überzeugungen, die zu jener Zeit in Weizsäcker heranreifen.

      1950 reist er in die USA und stattet der Quäker-Universität in Haverford (Pennsylvania) einen Besuch ab. Von Professor Douglas Steere, den er als Freund bezeichnet, ist er tief beeindruckt, denn dieser Mann ist offenbar ein lebendes Beispiel dafür, wie glücklich eine strikte Glaubensauslegung gemäß der Bergpredigt und das furchtlose, unbeirrte Praktizieren dieses Glaubens machen können. Gern hätte er ebenfalls der inneren Stimme gehorcht, aber zu einem solchen Schritt, die angestammte Zugehörigkeit zu seiner lutherischen Kirche einfach aufzugeben, ist er dann doch nicht bereit. Außerdem ist er davon überzeugt, dass auch die modernen Quäker kaum etwas Konkretes zur Rettung der Welt beitragen können.

      Weizsäcker erfuhr viel von den Gräueltaten der Nazis. So verzichtete er auch konsequent auf die gängige Schutzbehauptung, nicht gewusst zu haben, was an Unrecht tatsächlich geschehen war. Zur relativ schonungslosen Selbstkritik gehörte der leise Vorwurf, den er gegen sich erhebt, als die Wahrheit über Auschwitz bekannt wird: „… ich hätte es ja wohl erfahren können. Aber man war ja auch in der Selbstverteidigung begriffen.“9 Auch Weizsäcker war letztlich nicht frei davon, während der Aufarbeitung des Erlebten zugleich nach geeigneten Gründen zu suchen, die ihn entlasten und das eigene Verhalten rechtfertigen konnten. Doch eins wurde ihm allmählich vollkommen klar: Er hatte den Nationalsozialismus zwar überlebt, aber noch längst nicht bewältigt.

      Sich seiner Zugehörigkeit zur gesellschaftlichen Oberschicht sehr bewusst, erkennt Weizsäcker das widersprüchliche Problem, dass man trotz aller moralischen Bedenken mit den Nazis zusammenarbeitete. Für dieses Phänomen gibt er zwei Gründe an: „Bewahrung des Bestandes“ und „Hoffnung auf eine Änderung“. Wohl ahnend, dass diese Motive seinen Stand in wenig schmeichelhaftem Licht erscheinen lassen, schiebt er den Hinweis nach: „Einige aus dieser Schicht haben sich dann zum aktiven Widerstand entschlossen, bis zum Opfer der eigenen Person; diese, zu denen ich persönliche Beziehungen hatte, habe ich hoch geachtet, aber ich habe mich ihnen nicht angeschlossen.“10

      Ernüchtert von der Gewissensklärung, kommt bald ein neuer politischer Wille zum Vorschein. Allerdings scheitert Weizsäcker zunächst noch an der harten Realität. Nicht zuletzt machen ihm sein immenses Arbeitspensum und die Zersplitterung seiner vielen Interessen sehr zu schaffen. „Ich fühlte einen Auftrag, etwas für eine radikale Veränderung zu tun, aber ich fand die Kraft nicht in mir vor.“11 Er gerät in eine längere Phase depressiver Verstimmungen, die erst 1952 endet. Ausschlaggebend war eine schmerzhafte, aber offenbar sehr heilsame persönliche Krise, eine sogenannte „midlife crisis“, wie er es selbst nannte. Der feste Entschluss, sich auf die familiären und beruflichen Pflichten zu beschränken, zugleich die bewusste Aufgabe einiger bislang gehegter „Größenträume“, machten den Weg frei für reale Erfolge.

      1954 gelingt es Weizsäcker, in der Deutung der Quantentheorie einen entscheidenden Durchbruch zu erzielen. Diesem wissenschaftlichen Erfolg folgt 1957 mit der „Göttinger Erklärung“ auch die politische Wirkung.

      1957 bis 1969

      Die Jahre zwischen 1957 und 1969 verlebt Weizsäcker als Professor für Philosophie an der Universität Hamburg. Da diese Berufstätigkeit seinen Neigungen sehr entspricht und eher als „geistiges Vergnügen“ denn als Arbeit empfunden wird, ist dieser Lebensabschnitt eine besonders freudvolle Zeit. Indessen ist auch der politische Denker aktiv, und die Kritik an der Gesellschaft, am herrschenden System, wächst stetig an. Auf theoretischer Ebene setzt sich Weizsäcker intensiv mit globalen Problemen auseinander. Daneben arbeitet er praktische Themen konkret aus, die ihm persönlich besonders am Herzen liegen, so z.B. „die politische Verantwortung des Nichtpolitikers“ und die „Bedingungen des Friedens“.12

      Seine „Gedanken über die Zukunft des technischen Zeitalters“ bringt er bei einem Festvortrag in der Hamburger Handelskammer zu Gehör (1965). Der Ton wird kritischer, bleibt aber gemäßigt. Von einer ausgesprochenen Protesthaltung ist trotz aller Seitenhiebe auf einige Fehlentwicklungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft kaum etwas zu spüren. Als seriöser Wissenschaftler will und muss er glaubhaft bleiben. Es geht darum, mit kompetenten, sachlichen Äußerungen ohne Emotionen möglichst gute Wirkungen zu erzielen.

      Weizsäcker genießt bereits in den späten Fünfzigerjahren ein hohes Ansehen im In- und Ausland. Die zahlreichen Ehrungen, die ihm seit 1957 zuteil werden, bestätigen dies eindrucksvoll. 1959 erhält er das Große Bundesverdienstkreuz, 1961 den Orden Pour le mérite für Wissenschaft und Künste. 1963 ist eine traditionell


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