Lebendige Seelsorge 6/2019. Verlag Echter

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Kern

      geb. 1981, Dr. theol., Postdoc Fellow an der Theologischen Fakultät der Universität Leuven, Belgien; aktuelles Forschungsprojekt unter dem Titel „Critical embodiments – A performative theology of provocative political performances“.

      Diese Kraft, die im Mut von Betroffenen wurzelt, desillusioniert. Indem sie die Schattenseiten der Strukturen aufdeckt, nehmen sie ihnen ihre Unschuld und Selbstverständlichkeit. Im Gegenlicht der Erzählungen werden Strukturen entzaubert, inklusive der Narrative, die sie umgaben und stabilisierten: Hollywood ist keine Traumfabrik, in Hinterzimmern lauern Alpträume. Katholische Kirche(n) sind nicht einfach ‚Kirche für die Menschen‘, sondern in unmenschliche Seilschaften und Praktiken verstrickt, die Verbrechen ermöglich(t)en und Täter schütz(t)en.

      PERFORMATIVITÄT VON ERZÄHLUNGEN

      Diese kritische Kraft von Erzählungen lässt sich mit einem Begriff der Sprechakttheorie rekonstruieren und näher bestimmen: Performativität. Dieser Begriff geht zurück auf den englischen Sprachphilosophen John L. Austin, der ihn Mitte der 1960er Jahren einführt. Von dort wird er in vielfältigen Weisen in politischen und kritischen Theorien aufgegriffen, bei Stanley Cavell etwa, bei Jacques Derrida, Michel de Certeau oder Judith Butler (vgl. Austin; in systematischer Theologie hat die Rezeption von Performativer Theorie kürzlich begonnen, etwa in Gregor Hoffs Konzipierung von Fundamentaltheologie als performative Theorie, in Peter Zeilingers Konzept einer Gemeinschaftohne-Souveränität, in Martin Kirchners Netzwerk „Eine performative politische Theologie für Europa“, in meinem aktuellen Forschungsprojekt zu „provocative political performances“ an der KU Leuven).

      Eine der Perspektiven, die Austin einführt, ist, dass Sprechakte nicht nur einen Gehalt haben, sondern auch stets eine Handlungsdimension. Sagen und Tun gehen Hand in Hand, und zwar nicht bloß in dem Sinne, dass Sagen zu Konsequenzen im Handeln führt, sondern dass im Sprechakt selbst etwas getan wird. Zu sagen „Ich verspreche dir…“ bedeutet, im Sagen selbst das Versprechen zu geben, d. h. es zu tun, und in der Folge auf bestimmte Verpflichtungen festgelegt zu sein.

      Erzählungen können, zweitens, aber auch anders handeln, eben in der Weise der geschilderten Erzählungen aus Metoo-Bewegung und Missbrauchs-Debatte. Sie bestätigen dann keine Strukturen, sondern intervenieren kritisch und kreativ in diese: Sie benennen Facetten, Erfahrungen, Gegebenheiten, die bisher ungesagt und unerkannt waren. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf Bedingungen und Strukturen, die wie selbstverständlich dasjenige regulierten, was sichtbar, sagbar, lebbar werden durfte – wer wie wo erscheinen konnte und (an-) erkennbar war. Sie decken die Ausschlussmechanismen dieser Strukturen auf und die Weisen, wie Lebensfacetten und -gestalten gerade nicht erscheinen konnten.

      Sie fordern darin implizit eine Veränderung innerhalb der entsprechenden Strukturen und – das ist der entscheidende Punkt – nehmen hier und jetzt bereits diese andere Ordnung der Sichtbarkeit, Sagbarkeit und körperlichen Präsenz in Anspruch: Sie realisieren sie performativ im Moment des Sprechens, Zeigens, der körperlichen Präsenz. „Du hast mir das Recht abgesprochen, zu erzählen, jetzt aber tue ich es! Ich widerspreche dir hiermit und realisiere einen bisher verworfenen, abgeschlagenen Teil von Leben in einem andersartigen Raum!“.

      Strukturell betrachtet handelt es sich um einen dreiheitlichen Vorgang aus Ort, Praxis und Raum. Die Praxis des Erzählens bezieht sich auf spezifische Orte (Hollywood, katholische Kirche). Diese Orte sind nicht nur konkret geographisch lokalisierbar, sondern sind durch sozial und kulturell etablierte und geteilte Inhalte und Zusammenhänge identifiziert, mit Sinn und Bedeutung gefüllt. Spezifische Personen gelten ggfs. als repräsentativ für diese Orte (Regisseure bei Oscarverleihungen, Bischöfe bei Jahresversammlungen). In diesen diskursiven und repräsentativen Strukturen sind Sinn und Bedeutung gewissermaßen festgezurrt und beanspruchen eine selbstverständliche Geltung. In ihnen ist festgelegt, was an diesen Orten und über diese Orte gesagt, getan und gelebt werden kann – und anerkennbar ist.

      Genau in diese Struktur intervenieren die Erzählungen kritisch und kreativ. Indem sie Ausgeschlossenes, Verworfenes, Verstummtes zu artikulieren beginnen, widersetzen sie sich den Ausschlussmechanismen der Strukturen und bestreiten ihre Selbstverständlichkeit. Sie spielen bisher verborgene oder unsichtbare Inhalte, Formen, Facetten ein und verschieben Sinn und Bedeutung der Orte. Die Praxis der Erzählungen öffnet dadurch einen Raum, in dem etwas Anderes zu greifen beginnt, das die Orte kritisch verändert und ihre Geltungsmacht bestreitet – wenn nicht sogar gänzlich aufhebt.

      Diese kritische Infragestellung hat eine kreative Seite: Im Akt des Erzählens selbst werden veränderte Bedingungen der Sagbarkeit, Sichtbarkeit und Lebbarkeit in Anspruch genommen, die bisher ausgeschlossen, de-realisiert, nicht-anerkennbar waren. Sie treten hier und jetzt performativ in Erscheinung und implizieren die Forderung, auch zukünftig lebbar zu sein.

      EVANGELIUM ALS INKARNATIVE ERZÄHLUNG

      Das Evangelium Jesu ist eine inkarnative Erzählung in diesem Sinn. Ein Beispiel dafür sind die Geburtserzählungen des NT. Dort wird nicht nur über Inkarnation/Menschwerdung erzählt. Vielmehr haben die Erzählungen in performativer Hinsicht – in dem, was sie tun – eine inkarnative Qualität.

      Für heutige Leser*innen und Hörer*innen mag diese Dimension verdeckt oder fern sein, vielleicht weil die Geburtserzählungen zu sehr in Weihnachtsharmonie und Friedensutopie der stillen Nacht eingepackt sind. Aber für Menschen in den Kontexten, in denen sie zuerst erzählt wurden, müssen sie diese kritische und kreative Kraft entfaltet haben. Denn sie widersprechen herrschenden politischen Theologien vehement: Der Gott in Menschengestalt ist dem Befehl des göttlichen Kaisers – seinem Dogma – entgegengesetzt. Nicht in der Herrschaftsfigur des sol invictus auf dem römischen Thron, sondern in Menschengestalt abseits der imperialen Wege zeigt sich das Antlitz Gottes. Indem so die Herrschaftstheologie des Imperiums durch die Geburtserzählung infrage gestellt wird, wird ebenso die Selbstverständlichkeit bestritten, mit der Menschen ihre Körper dem Imperium unterwerfen sollten.

      Diese Ent-Unterwerfung spielt sich nicht nur in einer fernen Zukunft ab, sondern wird jetzt und hier im Akt des Erzählens selbst realisiert. Bedingungen


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