Zivilisation in der Sackgasse. Franz M. Wuketits
Revolte helfen kann
Habe Mut, dich deiner Gefühle zu bedienen!
VORWORT
In den zivilisierten Ländern westlicher Prägung sind, verschiedenen Quellen zufolge, bis zu fünfundzwanzig Prozent der Menschen psychisch krank. Auch wenn sich eine „psychische Erkrankung“ oft nicht sehr präzise bestimmen lässt – durch Stress bedingte Krankheiten, Depressionen und das Burnout-Syndrom sind deutlich auf dem Vormarsch. Viele Menschen sind in der heutigen maßgeblich vom ökonomischen Imperativ bestimmten Lebenswelt überfordert. Berufs- und Alltagsleben verlangen vom Einzelnen oft ein Tempo und eine Flexibilität, die dem Menschen als Gattung nicht entsprechen. Die neuerdings viel gebrauchte Metapher vom globalen Dorf verwischt die Tatsache, dass der individuelle Mensch als reales Subjekt nicht global, sondern nur in seinem eigenen kleinen Mikrokosmos zu existieren vermag.
Die Evolutionsgeschichte des Menschen umfasst einen Zeitraum von rund fünf Jahrmillionen, für die Entwicklung der technischen Zivilisation im heutigen Sinn reichte praktisch ein Jahrhundert. Zweifelsohne ist der Mensch ein sehr anpassungsfähiges Lebewesen, diesem Umstand verdankt er seinen bisherigen Evolutionserfolg. Aber auch seiner Anpassungsfähigkeit sind Grenzen gesetzt. Die längsten Etappen seiner Evolution verbrachte der Mensch als Jäger und Sammler in kleinen Gruppen, heute leben die meisten Menschen in anonymen Massengesellschaften. Sie flüchten in Millionenstädte, die längst aus allen Fugen zu geraten drohen, arbeiten in Großkonzernen, ohne den „Sinn“ ihrer (obendrein häufig unzulänglich bezahlten) Leistung noch zu erkennen, gehen familiärer Bindungen verlustig und fühlen sich nutzlos und ausgebeutet zugleich. Politik und Wirtschaft nehmen auf das Individuum und seine Bedürfnisse anscheinend überhaupt keine Rücksicht mehr. Das Ergebnis sind „entwurzelte Seelen“. (Wer will, kann hier auch das häufig strapazierte Wort „Identitätsverlust“ verwenden.)
Diese Tendenzen wurden inzwischen natürlich vielerorts erkannt. Das vorliegende Buch soll daher keine Zivilisationskritik im herkömmlichen Sinne sein. Es weist vielmehr den fundamentalen Widerspruch zwischen dem auf, was der Mensch seiner eigenen Natur zufolge ist und was die heutige Zivilisation von ihm verlangt. Vor allem aber zeigt es Wege aus dem Dilemma auf, in welches sich der Mensch in den letzten Jahrzehnten hineinmanövriert hat. Nicht zuletzt soll es die wahre Bedeutung des Individuums und der Individualität hervorkehren. Allerorten sind heute Organisations- und Kontrollmenschen am Werk, an Profit und Kapital orientierte Planer und Macher, die nichts anderes im Sinn haben, als den Einzelnen zu entmündigen und der Möglichkeiten seines Wohlbefindens zu berauben. Ihnen gilt es die Stirn zu bieten – und zwar gerade im Interesse des individuellen Wohlergehens. Schließlich kann es auch einer Gesellschaft nur dann gut gehen, wenn es ihren Individuen gut geht.
Diejenigen von uns, die Sympathien zu Tieren hegen, machen sich längst Gedanken über deren Wohlbefinden und Wohlergehen. Sie plädieren für eine „artgerechte“ Haltung insbesondere unserer Heim- und Nutztiere. Ich plädiere analog dazu für eine „artgerechte Menschenhaltung“. Das bedeutet zuallererst, dass wir die – teils bahnbrechenden – Erkenntnisse über den Menschen ernst nehmen müssen, Erkenntnisse, die in den vergangenen Jahrzehnten in Disziplinen wie Evolutionsbiologie, Verhaltensforschung, Soziobiologie oder Anthropologie über unsere Art zusammengetragen wurden. Solang gesellschaftliche, politische und ökonomische Strukturen an diesen Erkenntnissen vorbeigehen, ist ein weiterer Verlust von „Menschlichkeit“ (im doppelten Sinn des Wortes) vorprogrammiert – mit unabsehbaren Folgen für den Einzelnen wie für die Kollektive. Wir können natürlich nicht in die Steinzeit zurückkehren. Zu überlegen ist aber, wie wir die heutige Lebenswelt gestalten wollen, um dem „Steinzeitmenschen in uns“ gerecht zu werden. Dazu soll dieses Buch einige Impulse liefern.
Es ist ein Sachbuch, gedacht für einen breiten Kreis kritischer Leser, die ihr eigenes Unbehagen darin formuliert finden und dazu ermuntert werden sollen, neue Wege in der Entwicklung unserer Zivilisation zu erkennen. Ich werde sowohl meine Analyse und Kritik als auch meine „Verbesserungsvorschläge“ anhand konkreter Beispiele vortragen, die gut nachvollziehbar sind. Letztlich soll jedem Einzelnen klar werden, dass die Strukturen, die es „aufzubrechen“ gilt, auch seiner eigenen Einsicht und Initiative bedürfen. Man kann dieses Buch auch als einen längeren Essay lesen. Es bietet keine „letzten Wahrheiten“ an, sondern greift Probleme auf, die vielen von uns gleichsam unter den Nägeln brennen, aber nicht „mit einem Schlag“ gelöst werden können. Doch bekanntlich beginnt auch eine Reise von tausend Meilen mit einem ersten Schritt.
Auf den akademischen Fachjargon werde ich daher weitgehend verzichten; wo die Einführung von Fachbegriffen vonnöten ist, sind diese im Text und später im Glossar in aller gebotenen Kürze und Präzision erklärt. Das Glossar verfolgt obendrein den Zweck, dem Leser anhand bestimmter Begriffe weiterführende Informationen zu liefern und einige Begriffe in dem hier speziell verwendeten Sinn zu erklären. Längst unüberschaubar geworden ist die Literatur zu den in diesem Buch angesprochenen Wissensdisziplinen. Das Literaturverzeichnis, nach einzelnen Kapiteln des Buches gegliedert, enthält daher nur diejenigen Arbeiten, auf die ich im Text direkt Bezug genommen oder die ich als Hintergrundinformation benutzt habe. Interessierten Lesern können sie als weiterführende Lektüre dienen.
Noch ein paar Worte zur Gliederung des Buches. Die beiden ersten Kapitel geben einen knappen Abriss unserer Naturgeschichte und der Grundprinzipien, die unsere gesellschaftliche Entwicklung bestimmt haben und nach wie vor unsere sozialen Beziehungen maßgeblich beeinflussen. Das dritte Kapitel befasst sich kritisch mit unserer Zivilisation und zeigt, wie ihre Erfordernisse mit unserer Natur zusammenprallen. Im vierten Kapitel widme ich mich dem geplagten Individuum in unseren Massengesellschaften und einer zunehmend verwalteten und überregulierten Welt. Von der fatalen Beschleunigung, die unsere Zeit kennzeichnet und den Einzelnen überfordert, handelt das fünfte Kapitel, während das sechste Kapitel zur Besinnung auf das „Mensch-Sein“ einlädt (auf melodramatische Effekte werde ich dabei allerdings weitgehend verzichten). Schließlich gebe ich im siebenten Kapitel dem Impuls, der mich dieses Buch zu schreiben veranlasst hat, besonderen Ausdruck und plädiere für eine artgerechte Menschenhaltung.
Ich darf dieses Vorwort mit einer kleinen Episode schließen. Vor ein paar Monaten war ich zu einem Vortrag an der Universität Klagenfurt eingeladen. Auf dem Weg vom Bahnhof zu meinem Hotel und dann zur Universität plauderte ich locker mit meiner Gastgeberin, einer jungen Biologin. Beiläufig bemerkte sie, ihr Vater – Dr. Martin Bertha, ein Arzt – habe gelegentlich gesagt, dass man für eine artgerechte Menschenhaltung plädieren müsse. Unmöglich konnte der gute Mann vom vorliegenden Buch etwas geahnt, geschweige denn gewusst haben. Im Übrigen hatte Frau Aenne Glienke von der Agentur für Autoren und Verlage schon im Vorfeld meiner Überlegungen zu diesem Buch die artgerechte Menschenhaltung ins Spiel gebracht. Das Thema also liegt anscheinend in der Luft. Manchen Lesern werde ich wohl aus der Seele sprechen. Es mag ihnen helfen, ihre eigenen Gedanken zu ordnen, manches in unserer heutigen Lebenswelt aus einer in gewisser Hinsicht vielleicht ungewohnten, aber erhellenden Perspektive zu betrachten und ihr Kritikvermögen zu stärken. Sollte das gelingen, dann ist der Zweck dieses Buches erreicht.
Franz M. Wuketits
Wien, im November 2012
EINLEITUNG: WOZU DIESES BUCH?
Der Mensch ist aus seiner gewohnten Welt hinausgeworfen in eine fremdartige Umgebung.
Das selbstverständliche Vertrautheitsgefühl mit den umgebenden Menschen und Dingen ist verloren gegangen.
Otto Friedrich Bollnow
Es steht