Der Schoppenfetzer und die Rache des Winzers. Günter Huth

Der Schoppenfetzer und die Rache des Winzers - Günter Huth


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das Steuer. Keine Aktionen! Ich wiederhole: keine Aktionen!“

      Kaum war die Stimme verstummt, als die Tür der Bank langsam aufgeht und ein Mann zögernd das Gebäude verlässt. Nachdem er sich nach allen Seiten umgesehen hat, rennt er in gebückter Haltung zu dem Kleinbus und setzt sich hinter das Steuer. Schütze 3 kann durch sein Zielfernrohr deutlich seine verängstigten Gesichtszüge erkennen.

      Wenige Sekunden später öffnet sich erneut die Tür der Bank und mehrere Menschen treten, dicht aneinandergedrängt, auf den Gehsteig.

      Schütze 3 ist jetzt in äußerster Konzentration. Welcher in dem Knäuel verängstigter Menschen war der Täter? Er presst sein rechtes Auge an das Okular. Langsam gleitet der Zielstachel suchend über die Köpfe der Gruppe. Sie sechsfache Vergrößerung des Glases bringt die verzerrten Gesichter der Geiseln in brutaler Schärfe vor das Auge des Beobachters. Der Mann in der Mitte der Gruppe trägt eine Militäruniform. Er drückt sich dicht an die Geiseln. Seine Hände sind von den Körpern verdeckt. Es ist nicht zu sehen, ob er tatsächlich eine Handgranate hält. So kann Schütze 3 keine eindeutige Information an die Einsatzleitung weitergeben. Er hat diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht, als der Geiselnehmer plötzlich beide Hände über den Kopf hebt. Mit einem schnellen Blick durch das Zielfernrohr kann Schütze 3 sich davon überzeugen, dass der Mann tatsächlich eine Granate in der einen Hand hält. Den Abzugsbügel hat er umschlossen und den Zeigefinger der anderen Hand durch den Ring des Sicherungsstiftes geführt. Abgezogen hat der Geiselnehmer noch nicht. Der Scharfschütze gibt eine entsprechende Meldung an den Einsatzleiter weiter.

      „Verstanden, Schütze 3. Haben Sie ein freies Schussfeld?“, kommt die Frage des Einsatzleiters.

      „Grundsätzlich ja“, gibt dieser zurück. „Ein sicherer Schuss ist aber nicht möglich, solange sich der Täter mit den Geiseln bewegt.“

      Kurze Pause, dann kommen die schicksalsschweren Worte aus dem Kopfhörer: „Schütze 3, Sie haben den finalen Rettungsschuss nach eigenem Ermessen frei! Der Täter ist extrem angespannt. Es besteht die Gefahr, dass er ein Blutbad anrichtet. Es muss unter allen Umständen verhindert werden, dass er die Handgranate entsichert.“

      „Verstanden! Finaler Rettungsschuss nach eigenem Ermessen frei“, bestätigt Schütze 3 den Befehl, dann verstummt der Funkverkehr. Der SEK-Mann ist nun völlig auf sich gestellt. Von einem Augenblick auf den anderen ist er zur letzten Instanz geworden. Für solche Augenblicke ist er ausgebildet worden.

      Er atmet tief durch. Sein rechtes Auge saugt sich regelrecht am Okular des Zielfernrohrs fest.

      Die Geiseln mit dem Täter nähern sich mittlerweile zentimeterweise dem Kleinbus. Schütze 3 folgt mit seiner Waffe, das Fadenkreuz ständig auf den Kopf des Mannes gerichtet.

      Der Blick von Schütze 3 konzentriert sich auf den Hinterkopf. Der Geiselnehmer trägt keine Kopfbedeckung, so dass sein militärisch kahlgeschorener Nacken gut zu erkennen ist. Das Fadenkreuz des Zielfernrohrs richtet sich auf die Stelle des Kopfes, an der sich das Kleinhirn befindet. Nur eine exakte Zerstörung dieses Teils des Gehirns gewährleistet, dass der Straftäter durch sofortige Zerstörung des zentralen Nervensystems praktisch ohne Zeitverlust ausgeschaltet wird, er also keinerlei Handlungen mehr vornehmen kann. Auch das Abziehen eines Sicherungsstiftes aus einer Handgranate ist ihm dann nicht mehr möglich.

      Die Schwierigkeit für Schütze 3 besteht nach wie vor darin, dass sich der Täter mit den Geiseln immer noch bewegt. Für einen sicheren Schuss muss er zumindest für einen kurzen Moment stillstehen.

      Der SEK-Mann atmet tief durch, dann legt er das letzte Glied des Zeigefingers der rechten Hand auf den Abzug seines Gewehrs. Dabei lässt er die eingeatmete Luft langsam wieder entweichen, bis seine Hand völlig ruhig ist. Langsam erhöht der Zeigefinger den Druck auf den Abzug.

      Überraschend kommt die Gruppe zum Stillstand. In der gleichen Sekunde bricht der Schuss. Schütze 3 ist so konzentriert, dass er den Schussknall überhaupt nicht wahrnimmt. Sofort repetiert er die nächste Patrone in das Patronenlager. Dabei nimmt er das Auge nicht vom Okular. So kann er sehen, dass der Geiselnehmer wie vom Blitz getroffen zusammenbricht, gleich einer Marionette, die man schlagartig von ihren Fäden getrennt hatte.

      Die Geiseln bleiben eine Schrecksekunde lang wie gebannt stehen, dann springen sie nach allen Seiten auseinander. Gleichzeitig stürmen maskierte SEK-Männer aus dem Nichts hervor und ziehen sie mit sich.

      Schütze 3 holt Atem und hebt den Kopf. In diesem Augenblick ertönt der Knall einer lauten Explosion, und die Gestalt des zusammengebrochenen Täters wird ein Stück emporgehoben und zur Seite geschleudert. Dann tritt für Sekunden bleierne Stille ein. Wie gelähmt starrt Schütze 3 hinunter auf die Szene, die für einen Moment wie ein eingefrorenes Standbild wirkt.

      Nun setzen mehrere Reaktionen gleichzeitig ein: Die Schreie der Geiseln erfüllen die Luft. Männer des SEK führen die Befreiten zu den Bussen der Rettungsdienste, die herangefahren kommen. Wieder andere Einsatzkräfte stürzen sich auf den Täter, der sich nicht mehr rührt. Rund um seinen Kopf und seinen Leib breitet sich eine Blutlache aus. Einer der Notärzte und Männer des Rettungsdienstes nähern sich auf ein Zeichen der SEK-Männer dem Geiselnehmer. Wie sie feststellen müssen, hatte der Täter beim Fallen den Sicherungsstift aus der Granate gezogen und war auf den Sprengkörper gestürzt. Dieser war unter seinem Körper explodiert, so dass praktisch keine Granatsplitter nach außen traten. Als sie den Mann herumdrehen, bietet sich ihnen ein schlimmer Anblick. Die Granate hatte ihre schreckliche Wirkung entfaltet.

      Schütze 3 löst sich aus seiner Erstarrung und beginnt mit routinierten Bewegungen sein Gewehr zu entladen und es im Koffer zu verstauen. Seine Aufgabe ist erledigt. Es dauert nur wenige Minuten, dann kommt die ruhige Stimme des Einsatzleiters aus dem Kopfhörer. „Sondereinsatzkräfte zurückziehen und an den Fahrzeugen sammeln. Der Täter ist ausgeschaltet. Alle Geiseln konnten unverletzt befreit werden. In der Bank befindet sich niemand mehr. Der Schuss, den der Täter abgegeben hatte, ist Gott sei Dank nur ein Bluff gewesen.“

      Nachdem Schütze 3 seine Utensilien wieder eingepackt hat, schließt er das Fenster und schiebt den Tisch an seinen Platz zurück. Dann zieht er wieder die Maske über sein Gesicht und verlässt die Wohnung. In seinem Inneren herrscht eine schwer erklärbare Leere. Nun muss er das Erlebte für sich verarbeiten.

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