Exerzitien - das Leben beleben. Willi Lambert
Neid und Missgunst, Trink- und Essgelage und Ähnliches mehr« (vgl. Gal 5,13–26). Der doppelte spirituelle Speisezettel stellt die Frage: Wovon nähren wir uns? Sind es Giftstoffe oder lebensfördernde Seelenspeisen? Paulus schreibt in seiner kräftigen Sprache: »Das ganze Gesetz ist in einem Wort zusammengefasst: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Wenn ihr einander beißt und verschlingt, dann gebt acht, dass ihr euch nicht gegenseitig umbringt« (Gal 5,14f.).
Die geistlichen Übungen von Ignatius sind ein Beitrag zur Nahrung des inneren, des seelischen Menschen. Da geht es in erster Linie nicht um Kilokalorien, vegetarisches, veganes Essen, sondern um die spirituelle Gewichtung: »Das Gewicht der Seele ist die Liebe«, so Ignatius. Exerzitien sind eine Art Diät und Reha-Zeit der Seele und beleben mit der Frage: »Wes Geistes Kind bin ich?« Die vielgenannte »Kirchenkrise« ist wesentlich eine Heilig-Geist-Vergessenheit.
Exerzitien – Leben einüben
Exerzitien, exerzieren stammt vom Lateinischen exercere, was »üben« bedeutet, und dies wiederum kommt aus der Formulierung »ex arce«, d.h. aus der Burg herausgehen. Das Heer übt sich, um im Notfall für den Kampf, den Schutz bereit zu sein. Für Ignatius gehörte das Üben von höfischen Sitten, diplomatischer Sprache und Verhandlungsführung, Verwaltungsaufgaben bis hin zum Training mit Waffen zum täglichen Geschehen; Letzteres liebte er besonders.
Leben lebt vom Üben, vom Einüben und Ausüben. Was gibt es, was ohne Üben geht? Sprechen, Singen, Musizieren, Arbeiten, berufliches Tun, Gesprächsführung, Entscheiden, Training beim Sport, Beziehungskultur, Tugenden, innere Haltungen, Wissenschaft mit ihren Experimenten. Gewohnheiten und alles Lernen sind ganz wesentlich verbunden mit Üben. Übung ist ein wiederholtes Tun auf ein bestimmtes Ziel hin und mit bestimmten Methoden. Das mag streckenweise anstrengend, ermüdend, langweilig und langwierig sein und nur mit Geduld und Lernbereitschaft und mit demütigem Repetieren zum Ziel führen. Es ist, wie Otto Friedrich Bollnow in seinem Buch »Vom Geist des Übens« schreibt: »Vom Kennen zum Können führt nur das Üben.« Und eine wesentliche Botschaft ist der vielsagende Titel des Bestsellers von Erich Fromm: »Die Kunst des Liebens«. Viele Liebesbeziehungen scheitern seiner Erfahrung nach daran, dass Liebe mit Verliebtheit verwechselt wird. Liebe wächst nur im gegenseitigen Lernen und Üben; man könnte auch sagen durch Inspiration und Transpiration.
Üben ist ein Akt der Hoffnung
In diesem Wort kommt zum Ausdruck, dass Üben nicht ein stures, sozusagen absichts- und hirnloses Wiederholen ist, sondern einem Sinn und Zweck dient. Dies wird auch deutlich, wenn man der Wortwurzel von Üben, nämlich »uoben«, nachgeht. Es bedeutet laut Lexikon: pflegen, bebauen, verehren. Die vermutlich aus dem bäuerlichen Bereich stammenden Menschen sahen im Prozess des Wachsens sozusagen drei Dimensionen: Man muss ein Feld bebauen, dann das Ausgesäte pflegen und schließlich müssen sie offensichtlich das ganze Geschehen mit einer Art Ehrfurcht wahrgenommen haben. Dieser Dreiklang bestätigt sich durch das lateinische Wort colere. Beim Lernen musste man sich die Sache einprägen: colere heißt pflegen, bebauen, verehren. Das Geschehen von Kultur und Kult kommt von dorther.
Wie differenziert und vielgestaltig das Üben ist, zeigt sich in einem etwas unbekannten Text aus dem zweiten Brief von Petrus. Er liest sich wie eine Treppe, auf der man bei jedem Wort innehalten kann: »Alles, was für unser Leben und unsere Frömmigkeit gut ist, hat seine göttliche Macht uns geschenkt, darum setzt allen Eifer daran, mit eurem Glauben die Tugend zu verbinden, mit der Tugend die Erkenntnis, mit der Erkenntnis die Selbstbeherrschung, mit der Selbstbeherrschung die Ausdauer, mit der Ausdauer die Frömmigkeit, mit der Frömmigkeit die Brüderlichkeit und mit der Brüderlichkeit die Liebe. Wenn dies nämlich bei euch vorhanden ist und wächst, dann nimmt es euch die Trägheit und Unfruchtbarkeit für die Erkenntnis unseres Herrn Jesus Christus« (2 Petr 1,3–8).
Sich disponieren – Gnade und Mitwirken
Die Übungen, so Ignatius, sollen helfen, »sich vorzubereiten« (se disponer), so wie man den Empfang eines Gastes vorbereitet. Wer sich darauf freut, die Begegnung ersehnt, wird tun, was er dafür tun kann. Die Zusage, das Kommen des Gastes sind dessen Entscheidung und Wirken, dessen Geschenk, dessen Gnade. Bedeutsam ist, dass Gott selber den Menschen zu dessen Tun disponiert (EB 20). Diese doppelte Disposition ist kurzgefasst die ignatianische Theologie, in der sich Gottes Gnade und menschliches Mitwirken vereinen. Dies ist eine Sichtweise, die immer wieder auch im ökumenischen Dialog erstaunt und dankbar verstanden und angenommen wird. Dies wird auch noch dadurch verstärkt, dass es in einer Vorbemerkung heißt, die begleitende Person solle »unmittelbar den Schöpfer mit dem Geschöpf wirken lassen und das Geschöpf mit seinem Schöpfer und Herrn« (EB 15).
Das Leben – ein Frommwerden
Das Leben ist nicht ein Frommsein,
sondern ein Frommwerden;
nicht eine Gesundheit, sondern ein Gesundwerden;
nicht ein Sein, sondern ein Werden;
nicht eine Ruhe, sondern eine Übung.
Wir sind’s noch nicht, wir werden’s aber.
Es ist noch nicht getan oder geschehen,
es ist aber im Gang und im Schwang.
Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg.
Es glüht und glänzt noch nicht alles,
es reinigt sich aber alles.
(Martin Luther)
Auf dem Weg des Lebens
»Alles wirkliche Leben ist Begegnung« – dieses oft zitierte Wort des Religionsphilosophen Martin Buber weist darauf hin, dass wir, dass alles nur lebt in und durch Beziehung; durch Beziehung mit andern, mit der Natur, mit uns selber – und mit Gott, dem Ursprung allen Seins. Ein wenig buchstabenspielerisch kann man neun menschlich-existentielle Stationen des Lebensweges mit Zwischenüberschriften überschreiben, die allesamt mit »G« beginnen. Es sind dies auch die geistlichen Landschaften des Exerzitienweges. Wo jemand gerade steht, welche geistlichen Schritte »dran« sind und welche Wandlungen, das zeigt sich auf dem Weg.
Geschaffen
»Der Mensch ist geschaffen.« Mit dieser Aussage beginnen die Exerzitien. Geschaffen sein heißt, alles, was wir sind, wahrzunehmen: unsere Wirklichkeit, unsere Freuden und Schmerzen, unsere Erfüllungen und unsere Begrenztheiten, unsere Hoffnungen und Befürchtungen, unsere Lebensgeschichten, unser Suchen und Finden, unser Leben und Sterben. Was hier in allgemeinen Begriffen benannt wird, lässt sich in tausend Geschichten erzählen. – Was löst dieser Blick in uns alles aus? Staunen, Erschütterung, Dankbarkeit, Lobpreis, Aufstöhnen, Fluchen, Ehrfurcht, Anbetung, Lieben? Und was »gibt« mir die Botschaft Jesu, wir seien Geschöpfe, Kinder, Söhne und Töchter Gottes und untereinander Geschwister; und Gott habe »Wohlgefallen an uns«? (vgl. Ps 18,20).
Gefallen
Die Welt wird nicht als permanenter Idealzustand erfahren, sondern als »gefallene Welt«. Als Welt, die in ihrem Wahnsinn dem Ursinn und ihren Möglichkeiten nicht entspricht. Kennzeichen dieser Welt sind vielfach: Machtgier, Lügen, Gewalttätigkeit, Grausamkeit, Gleichgültigkeit, Beziehungslosigkeit, Sucht, Verzweiflung, »die Hölle auf Erden«, wie manche sagen. Dies ins Bewusstsein kommen zu lassen mit dem Verwoben-Sein in ein Netz der Lebensfeindlichkeit und Liebesarmut (»Erbsünde«), mit Verletzungen, die man erlitten oder zugefügt hat, abgeleugnete Eigenschuld, Unversöhntsein, das ist eine harte Schule der Wahrheitsfindung; sie kann im biblischen Sinn aber auch erfahren werden als »Wahrheit, die freimacht« (Joh 8,32). Lebbar ist dies nur im Vertrauen auf Gottes Geist.
Gerettet
Die Rettung aus Seenot bzw. der Untergang von Menschen im Mittelmeer wird uns seit Jahren fast täglich vorgeführt. Es gibt Todesdrohung nicht nur auf den Meeren der Zeit, sondern in vielen Situationen, Lebensnöten, Missbrauchserfahrungen, Grausamkeiten, die einem die »Lust am Leben« genommen bzw. erst gar nicht entstehen haben lassen. Zugleich aber gibt es Menschen, die durch das Zusammenspiel von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Befreiung