Der spirituelle Weg. Bertram Dickerhof
Verlangen, eine Bitte vor allen anderen erweckt wird: nämlich dass dieser Vater als Quelle des Heils allüberall erkannt, anerkannt, ja gepriesen werde und sein Reich komme. Dann würde einem jeden zuteil, was er in seinem tiefsten Herzen zu seiner Erfüllung ersehnt. In diesem Raum darf der Beter da sein mit seiner Bedürftigkeit und seiner Sehnsucht. Er darf Empfangender eines Heils sein, das zu schaffen er gar nicht imstande wäre. Daher ist letztlich nicht des Beters Wille und Vorstellung maßgebend, sondern Gottes Wille. Im Geist des Vaterunsers ist der sich mitteilende, unbedingt liebende Gott die absolute Mitte, nichts und niemand sonst. Wie das ruinierte Land aus Ezechiels unter dem Tempel verborgener Quelle – siehe den Text zu Beginn dieses Kapitels – Gesundung, frisches Leben, Fülle erfährt, so der Mensch von Gott her, wenn er annimmt, was ihm gegeben wird. Das Gegebene ist das, was jetzt und hier da ist. Was sonst sollte es sein? Um es zu nehmen, sind eigene Erwartungen und Vorstellungen loszulassen, wenn sie dem Empfangen im Wege stehen. Aus dem Sich-zu-eigen-Machen der gegebenen Wirklichkeit erwachsen Antwort und Ver-antwortung: Einsatz für die Gerechtigkeit, so dass alle „ihr tägliches Brot“ bekommen, Vergebung, Unterlassung von Verführung. Wer im Geist des Vaterunsers lebt, verwirklicht Gotteskindschaft auf Erden.
Als ich Indien verließ und wieder nach Hause fuhr, war ich reich beschenkt, weit über das hinaus, was ich hätte erwarten oder auch nur erahnen können. Allerdings hatte ich auch Angst: Würde ich den Schatz dieser Erfahrung bewahren können im dekadenten Westen?
Ein Weg, den sich die Erfahrungen am Howgli bald suchten, um sich zu inkarnieren, war die Gründung des Ashram Jesu. Doch dauerte es Jahre, bis ich die Geschehnisse meines Tertiats wirklich verstehen konnte. Ich merkte es an der Unfertigkeit meiner Antworten auf die Frage von Gästen im Ashram Jesu – selbst nachdem dieser schon einige Jahre lief –, wo denn der Jesus sei, nach dem die Stätte heiße, er werde ja kaum je genannt. Ich war mir zwar gewiss, dass Jesus da war, vermochte jedoch seine Präsenz nicht so zu vermitteln, dass die von der Frage aufgebaute Spannung wirklich aufgelöst gewesen wäre. Ich war mir der Gegenwart Jesu sicher, doch die Frage war berechtigt. Langsam erschloss sich mir als eine erste Antwort, dass Jesu Gegenwart in der Weise liege, wie im Ashram gebetet werde, insofern das Gebet dort in erster Linie ein Hören ist. Ich lernte dieses Hören als Zentrum jeder Spiritualität zu sehen, die mit der Wirklichkeit, wie sie ist, zu tun haben will. Hören vollzieht sich nicht nur, solange geredet wird, sondern auch ganz wesentlich darüber hinaus! Hören ist ein Prozess aus folgenden Momenten:
1. Ein Signal von außen, ein Ruf, eine Anrede, aber allgemeiner auch eine Situation, ein Ereignis wird nach innen genommen, an sich herangelassen. Dies ist nicht selbstverständlich. Es gibt „Rufe“, äußere Wirklichkeiten, die uns nicht erreichen oder die wir nicht zur Kenntnis nehmen wollen.
2. Die nach innen genommene Wirklichkeit löst Wirkungen aus: innere Bewegungen wie Gefühle, Gedanken, Empfindungen, Wünsche, Ängste, Bewertungen, spontane Zustimmung oder Abwehr, innere Konflikte, geistige Gegebenheiten, was auch immer. Wer eine persönliche Antwort geben will, muss in die Tiefe gehen: dieses innere Feld kennen und unterscheiden lernen – bis etwas in ihm durchbricht.
3. In der Klarheit, die in einem solchen Durchbruch entsteht, kann die ureigene, die herangereifte und durchgebrochene Antwort gegeben und in die Wirklichkeit so eingegriffen werden, dass die innerste Mitte sich äußert, quasi Fleisch wird, sich inkarniert.
In der Tat ist dem Gebet eine Entwicklung zum Hören eigen, wie beispielsweise auch Kierkegaards Erfahrung bezeugt:
„Als mein Gebet immer andächtiger und immer innerlicher wurde,
da hatte ich immer weniger und weniger zu sagen.
Zuletzt wurde ich ganz still;
ich wurde, was womöglich noch ein größerer Gegensatz zum Reden ist,
ich wurde ein Hörer.
Ich meinte erst, Beten sei Reden.
Ich lernte aber, dass Beten nicht bloß Schweigen ist, sondern Hören.
So ist es. Beten heißt nicht, sich selbst reden hören,
beten heißt still werden und still sein,
und warten, bis der Betende Gott hört.“4
Viele Menschen wissen, dass es in der Bibel ums Hören geht. Dass dies aber für die Spiritualität des alten wie des neuen Bundes fundamental ist, dessen sind sich nur wenige bewusst. Hören auf Gott, das Gehörte ernst nehmen und dementsprechend handeln – darum dreht sich die Bibel.
2. Hören in der Bibel
In der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, der Septuaginta, und in den Evangelien haben wir es mit dem Verbum „ακουειν“ zu tun, das sowohl die sinnliche Wahrnehmung (eines Geräuschs) bezeichnet als auch das Vernehmen des Inhalts als auch das Verstehen des Inhalts, wenn es sich beim Gehörten um eine Aussage, Nachricht oder Kunde handelt, bis schließlich hin zum Beachten des Gehörten (Gen 23,17), ja dem Tun des Gehörten, das dann Gehorchen heißt (Ex 24,7). In der hellenistischen Mystik ist der Gedanke selten, dass die Offenbarung der Götter durch Hören aufgenommen wird. Nicht so im Alten Testament, wo „Hören“, „Hören und Tun“ zentrale Bedeutung haben. Den sehr häufigen Wendungen „so spricht der Herr“ u. ä. korrespondiert notwendigerweise das Hören und Aufnehmen des Wortes durch den Adressaten.
Die „Zehn Gebote“ werden im Buch Deuteronomium gerade nicht „geboten“, dekretiert, sondern eingeleitet mit den Worten: „Höre, Israel, die Gesetze und Rechtsvorschriften … Ihr sollt sie lernen, auf sie achten und sie halten“ (Dtn 5,1). Ein Prozess der Aneignung, der Meditation des Gesetzes, des immer tieferen Verstehens ist notwendig, damit das Halten der Gebote überhaupt möglich wird: eben Hören, das ein Prozess in der Zeit ist und nicht nur der Moment, in dem das Wort gesprochen wird. Ähnlich ist es beim Liebesgebot. Auch hier ist die Forderung nicht das Erste, sondern es heißt: „Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft“ (Dtn 6,4.5). Das Hören ist das Fundament, aus dem das Lieben erwächst. Umgekehrt reift im babylonischen Exil, als die exilierte Oberschicht weinend an den Flüssen Babels sitzt und nach der Ursache für die eingetretene Katastrophe forscht, die Überzeugung, dass das Nichthören auf Jahwe der wahre Grund für das Desaster des Staates Israel war. Man hatte noch andere Eisen im Feuer, z. B. den Baal, der für das Wirtschaftswachstum steht, und darüber geriet das Hören auf Jahwe zu kurz: Der Prozess des Hörens, wenn er überhaupt stattfand, wurde nicht zu Ende gegangen, er erreichte nicht das eigene Herz.
Scheinen im Alten Testament das Gesetz und die Propheten bzw. ihre entsprechende Auslegung das zu sein, worauf zu hören, was zu meditieren und sich anzueignen ist, geht Jesus weiter. Als frommer Jude steht er in der Tradition seines Volkes. Er kennt das Gesetz und besteht darauf, sich um seine Erfüllung zu mühen: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. Amen, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist“ (Mt 5,17 f). Liebe und Barmherzigkeit sind für ihn Prinzip und Ziel des Gesetzes. Daraufhin legt er es aus. Sein Horchen auf Gott jedoch geht weit über das hinaus, was das Gesetz regelt: Sein ganzes Leben stellt er unter den Willen seines Vaters. „Darum sage ich euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen“ (Mt 5,20). Die Bedeutung des Tuns des Willens Gottes zu betonen, wird er nicht müde. Wer hört und danach handelt, der gründet das Haus seines Lebens auf Felsen; einen solchen nennt Jesus „Freund“, und er ist sein wahrer Verwandter. Das Gebet scheint für Jesus ein herausragender Ort des Hörens zu sein: So beim Weggang aus Kafarnaum, um auch andernorts zu predigen (Mk 1,35 ff), so bei der Auswahl der Apostel (Lk 6,12–16), so auch, als er erkennen muss, dass Israel als Kollektiv sich seiner Botschaft verschließen würde. Vehement weist er den ihn vor der Passion bewahren wollenden Petrus zurück mit den Worten: „Weg mit dir, Satan, geh mir aus den Augen! Denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen“ (Mk 8,33). „Was Gott will“, das ist es,