Zweifeln, nicht verzweifeln!. Volker Ladenthin
leichter als alle andern unterrichtet werden, da sie von üblen Gewohnheiten noch nicht besessen sind.“
Kinder lernen manches besser und leichter als Erwachsene. Es gibt Lebensphasen, in denen das Lernen bestimmter Inhalte besonders leichtfällt. Maria Montessori (1870–1952), die italienische Ärztin und Pädagogin, spricht von „sensiblen Phasen“: Wir sind zeitweise besonders sensibilisiert und aufnahmefähig für bestimmte Inhalte. In einigen Lebensaltern hören wir gern Spukgeschichten und Märchen, in anderen lesen wir lieber Liebes- und Abenteuergeschichten, oder wir besorgen uns gleich Sachbücher. Wenn wir lernen wollen, eine Sprache so zu sprechen wie die Einheimischen, tun wir gut daran, die Sprache möglichst früh im Leben zu lernen. Fremdländische Akzente kann man kaum vermeiden, wenn man eine Sprache zu spät im Leben lernt: Rudi Carrell (1934–2006), der beliebte Entertainer, hat seinen holländischen Akzent nie verlernt, obwohl er die größten Erfolge seines Entertainerlebens in Deutschland feierte.
Der Umstand, dass wir sterben, also endlich sind, hat demnach erhebliche Folgen für unsere Lebensplanung. Wenn wir einen Achttausender besteigen wollten, ist es nicht ratsam, allzu lange damit zu warten: Mit 85 Jahren wird man es kaum noch schaffen. Wer den Weltrekord im 100-Meter-Lauf brechen will, sollte dies vor dem 30. Lebensjahr versuchen. Offensichtlich setzt uns die Natur zuweilen absolute Grenzen, die bisher noch niemand überschritten hat.
Wir sehen: Unser Handeln ist durch unsere Endlichkeit bestimmt. Und zwar absolut bestimmt. Models und Leistungssportler erfahren dies ebenso wie Schauspieler, Frauen, die einen Kinderwunsch haben, Taucher, Dachdecker, Balletttänzer, Piloten oder Schichtarbeiter. Manches kann man ab einem bestimmten Lebensalter nur noch schlechter machen als vorher und manches gar nicht mehr. Man kann nicht zu jedem Zeitpunkt des Lebens alles machen. Wir tun also klug daran, unser Leben zu planen und die Zeit zu nutzen, die wir zum Leben haben. Der schnelle Tag ist schnell dahin. Unser Leben ist absolut begrenzt.
Wir leben ewig
Aber auch das Gegenteil stimmt: Unser Leben ist absolut unbegrenzt. Wir können es nämlich gedanklich verlängern. Wir können in Gedanken unseren Tod überschreiten oder überwinden. Wir überschreiten sogar mit Taten unseren Tod! Es gibt einen alten Weintrinker-Witz, der das sehr schön deutlich macht:
Ein Weinkenner wird gefragt: „Kann man eigentlich alle Weine der Welt probieren?“
Antwort: „Nein, aber man kann es versuchen.“
Der Hintersinn der Antwort ist recht eindeutig und lüstern: Der Weinkenner sucht einen guten Grund zum ausgiebigen Zechen. Aber die Antwort macht einen gleichwohl nachdenklich: Obwohl unser Leben begrenzt ist und wir uns damit abfinden müssen, könnten wir so leben, als ob es unbegrenzt wäre – als ob wir ewig lebten: „… man kann es versuchen …“ Dieser Witz empfiehlt es geradezu: Versuche doch mal so zu leben, als ob du ewig leben würdest! Versuche doch mal, nicht den Tod als Begrenzung zu sehen und angesichts des Todes zu leben, sondern so zu leben, als ob es den Tod nicht gäbe. Eines ist gewiss: Du würdest anders leben!
Der Gedanke, dass wir ewig leben – zuerst nichts als ein Gedankenspiel – hat Konsequenzen für unser schlichtes alltägliches Leben, ja sogar für den angenehmeren Teil des Lebens. Zwar können wir weder aus der Sterblichkeit noch aus der Unsterblichkeit direkt ableiten, wie wir leben und was wir tun sollen. Gleichwohl ändert sich unser Leben, je nachdem, ob wir unsere Tagesplanung auf die Endgültigkeit des Todes oder das „Als-ob“ des ewigen Lebens beziehen. (Behalten wir dieses Denkmodell einmal in Erinnerung!) Sicher ist: Wir wagen mehr, wir probieren mehr aus, wenn wir uns vorstellen, wir würden ewig leben.
Ethik des Alterns
In vielen Dingen des Alltags verhalten wir uns übrigens tatsächlich so, als ob wir nach unserem Tod weiterlebten: Eisenbahningenieure planen und bauen Bahnlinien, die auch dann noch in Schuss sein müssen, wenn ihre Planer längst in Rente stehen oder beerdigt wurden. Der Menschen müde Scharen haben Burgen, Schlösser und Kirchen gebaut, deren Fertigstellung die Planer nicht mehr erlebt haben. Ein berühmtes Beispiel ist der Kölner Dom, der im 13. Jahrhundert geplant und erst 1880 eingeweiht wurde. Tüftler konstruieren Geräte, die auch nach dem Tod ihrer Konstrukteure funktionieren … die Uhr, die Dampfmaschine, der Dieselmotor. Und beim Kernkraftwerk wissen ihre Bauherren, dass die Abfälle der Gegenwart noch in Jahrhunderten glühen und strahlen … Sie haben weit, weit über ihr eigenes biologisches Leben hinaus geplant (hoffentlich!).
Aber nicht nur im öffentlichen Leben handelt man so, als ob man ewig leben würde. Auch im Privatleben handeln wir so: Manche bauen ein Haus, das vermutlich noch steht, wenn sie längst gestorben sind. Wir setzen ein Testament auf, das die Dinge regelt für eine Zeit, in der wir gar nicht mehr „auf der Welt“ sind. Warum regeln wir sie dann?
Wenn wir Kinder zu versorgen haben, dann statten wir sie durch eine gute Schulbildung für eine Zeit aus, die wir gar nicht mehr erleben werden, die uns eigentlich gleichgültig sein könnte. Wenn wir für unseren Ehepartner eine „Vorsorgevollmacht“ unterschreiben, dann müssen wir ankreuzen: „Die Vollmacht gilt über den Tod hinaus: Ja/ Nein“. Warum wollen wir etwas über unseren Tod hinaus regeln? Das ist doch irrational! Warum fühlen wir uns für etwas verantwortlich, das wir gar nicht mehr erleben werden?
Prinzip Unendlichkeit
Spätestens bei diesem Verantwortungsgefühl verlassen wir den Raum der Endlichkeit. Wir fühlen eine Verantwortung für eine Zeit nach uns. Wir denken: „Irgendwie sind wir doch noch dabei!“ Woher sonst das Gefühl?
Wie lang diese Zeit währt, für die wir uns noch verantwortlich fühlen, mag sich unterscheiden: Bei den Bauherren der Großen Chinesischen Mauer war es eine sehr lange Zeit. Aber jede Sorge um unser Eigentum, jede Sorge um das eigene Kind überschreitet den Zeitraum unserer Endlichkeit. Wir bilden unsere Kinder aus für eine Zeit nach unserem eigenen Leben. Und wenn wir unsere Enkel kennenlernen sollten – was heute leichter möglich ist als früher –, dann sorgen wir uns sogar darum, ob unsere Kinder mit ihren Kindern gut umgehen, und schenken ihnen Geld für eine gute Kleinkindbetreuung.
Wir leben also gar nicht nur nach dem, was ich „Prinzip Endlichkeit“ nennen möchte – nach der Auffassung also, dass uns nur eine begrenzte Zeit zum Leben bleibt. Und man wird nicht fehlgehen in der Vermutung, dass Menschen nie und nirgends nur nach dem „Prinzip Endlichkeit“ gelebt haben und auch nie leben werden. Wer Pyramiden baut, denkt über seinen Tod hinaus. Wer auch immer vor 25000 Jahren in der Nähe von Willendorf eine Frauenstatue aus Stein gemeißelt hatte, wollte, dass sie auch nach dem eigenen Tod mögliche Betrachter erfreut.
Was die großen Konfessionen sagen
Genau diese Erfahrung nehmen nun viele Weltreligionen auf. Sie machen auf diesen Umstand unserer Natur und unseres Denkens aufmerksam: Niemand denkt nur an heute und bis exakt an sein Lebensende. Wirklich niemand.
Alle Weltreligionen versuchen, jene alltäglichen Erfahrungen aufzunehmen, zu ordnen und zu gestalten, die sich mit dem Leben nach dem Tod beschäftigen: Jede einzelne Konfession versucht herauszufinden, welche Gedanken man dem Leben angesichts des Todes widmen muss. Sie macht dies systematisch und als Institution, so dass nicht jede Generation wieder bei „0“ mit dem Sammeln und Ordnen beginnen muss. Sie überlegt, welche Fragen man sinnvollerweise stellt. Sie versucht zu bestimmen, was zu regeln ist und was nicht. Wie man die Gedanken in eine vernünftige Reihenfolge bringt. Wie man über das Leben angesichts des Todes nachdenken muss.
Jetzt
Und die Konfessionen stellen die wichtigste Frage: Wie soll man jetzt leben, wenn man weiß, dass man eine Verantwortung für das Leben nach seinem eigenen Tod hat? Der chinesische Philosoph Konfuzius (551–479) soll es in folgende Worte gefasst haben: „Pflege im Volk die Achtung vor dem Tod und das Andenken an die Vergangenheit, dann wird sittliches Empfinden im Volk geweckt und vertieft.“ Offensichtlich entspringt aus dem Wissen um die eigene Endlichkeit ein Gefühl für die Sittlichkeit, die Empfindung, nach sittlichen Regeln zu suchen.
Hier ist die grundlegende Frage aller Weltreligionen angetippt: Wie muss man jetzt leben, damit man Verantwortung für das Leben angesichts des Wissens um den Tod übernehmen kann?
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