Der erste Landammann der Schweiz. Georges Andrey
Bonaparte 1803 zuwies. Mit Letzterem setzte er die pragmatische Politik fort, die sein Vater begonnen hatte. Einem König, der das stillschweigende Einigungsprinzip für die Schweizer Kantone personifizierte, stand ein langjähriger Landammann als privilegierter Mittler zwischen Kantonen und König gegenüber, und diese Rolle spielte Vater d’Affry hingebungsvoll. Napoleon als ausgewiesener Mediator der Eidgenossenschaft hatte einen Landammann zum Partner, der in Frankreich als Sprecher der Schweizer und in der Schweiz als Sprecher der Franzosen auftrat – ein makelloser Mittler ohne Fehl und Tadel, wie es d’Affry Sohn, der bevorzugte Gesprächspartner der Franzosen, war. Die Geschichte der d’Affrys, Vater wie Sohn, veranschaulicht die lange französische diplomatische Suche nach einem einzigen Gesprächspartner in einer Schweiz, deren Exekutivorgane traditionell weit verzweigt, aber dennoch einigermassen handlich sind. Das Frankreich des 18. Jahrhunderts träumt von einem Präsidenten der Eidgenossenschaft mit eingeschränkten Vollmachten. Den Schweizern der damaligen Zeit graute es noch vor dieser Vorstellung.
2 Ansicht der Stadt Freiburg Ende des 18. Jahrhunderts nach Emmanuel Curty.
3 Das grosse Schloss der d’Affry in Givisiez ausserhalb von Freiburg ist um 1539 erbaut worden. Es ist heute eine Altersresidenz.
Die Beziehungen zwischen Frankreich und der Schweiz sind durch eine grosse Besonderheit gekennzeichnet: Jeder verdankt dem andern derart viel, dass wir vielleicht die Erinnerung daran scheuen. Ist der gewichtige Beitrag des Auslands zum Bau unserer eidgenössischen Geschichte auch der rote Faden unserer Nationswerdung, so verschweigen wir ihn doch gerne. Dennoch lag die Neutralisierung eines natürlichen Raums zwischen Rhein und Rhône, Alpen und Jura schon seit dem 13./14. Jahrhundert im Interesse aller europäischen Grossmächte – insbesondere Frankreichs. Lange bevor sich Napoleon Bonaparte den Titel zulegte, übten die Könige Frankreichs die Rolle von Mediatoren in der Eidgenossenschaft aus. Doch an der Wende zum 19. Jahrhundert reiht sich in der Schweiz eine Gründungsetappe an die andere. Der Vertrag von Lunéville vom 9. Februar 18013 ist ein aussergewöhnlicher Augenblick in der Existenz der Schweiz, der sich durchaus mit dem Westfälischen Frieden vergleichen lässt. Hatte der Vertrag von 1648 dank der guten Dienste Frankreichs die Eidgenossenschaft vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation faktisch getrennt, so musste sich Österreich mit dem Frieden von Lunéville endlich dazu bequemen, die Unabhängigkeit der Schweiz in aller Form anzuerkennen. Es ist offensichtlich, dass der «General Erster Konsul» damit in der Eidgenossenschaft das Werk zu Ende führte, das die französischen Könige schon mit dem Westfälischen Frieden in Angriff genommen hatten, der zwar nicht die Unabhängigkeit der Schweiz anerkannte, die Frankreich im Sinne hatte, aber doch eine fast völlige Freiheit und Herausnahme aus dem Reich bewirkte. Tatsächlich ging mit der Revolutionszeit und ihren Folgen das offizielle Ende des österreichischen Einflusses auf Schweizer Boden einher: Abschaffung der verbliebenen Hoheitsrechte des Reiches über die Klöster und Bischöfe, Eingliederung des Fricktals und der österreichischen Enklaven des Fürstentums Tarasp im Unterengadin und der Baronie von Rhäzüns in die Schweiz. Die schon 1648 faktisch erreichte Lostrennung war endlich auch de jure besiegelt.
4 Guillaume d’Affry (1425–1493).
WURZELN UND FAMILIÄRES UMFELD
Die Familie d’Affry stammt aus Avry-sur-Matran im Kanton Freiburg und nicht etwa, wie der Dictionnaire historique de la Suisse4 irrtümlich vermerkt, aus Avry-devant-Pont. Seitdem sich Guillaume d’Affry 1476 in der Verteidigung Murtens gegen die Heere Karls des Kühnen hervorgetan hatte, ist der Bekanntheitsgrad der Familie unablässig gestiegen. In seinem Adelsbuch des Schweizer Militärs schreibt Abbé Girard 1787 über die Familie d’Affry, «man zählt sie zu Recht zu den erlauchtesten der Schweiz»,5 «den ältesten Häusern Freiburgs», die über eine «lange militärische Erbfolge»6 verfüge, denn schon seit dem 16. Jahrhundert waren die Geschicke der d’Affrys mit dem Dienst in Frankreich verwoben. Louis Auguste Philippe d’Affry war ein Nachfahre von drei Freiburger Schultheissen, Louis und François d’Affry und Peterman de Praroman, und eines Schultheissen von Solothurn, Wilhelm von Steinbrugg, sowie zweier Gouverneure von Neuenburg. Beaujon, Genealoge der Orden des Königs, wird am 8. April 1766 über diese Familie sagen, ihr eigne «vor allem der in diesem Volk seltene und vielleicht einmalige Vorteil, seit 230 Jahren ununterbrochen für Frankreich die Waffen getragen und niemals einer anderen Macht gedient zu haben.»7 Louis Nicolas Hyacinthe Chérin, Genealoge der Orden des Königs von 1787 bis 1790, schreibt seinerseits, «das Haus d’Affry im Kanton Freiburg in der Schweiz ist seit 1181 bekannt und hat sich seit 244 Jahren durch steten Dienst um Frankreich verdient gemacht».8 Nach der zur besonderen Auszeichnung verliehenen Ehrenwürde als Staats- und Kriegsrat im Jahre 1756 bescheinigt der Staat Freiburg am 15. November 1760 «die Anciennität des Hauses» und erklärt, «die Familie zählt zu jenen, denen die Republik den Adelsstand einräumt».9
5 François Pierre d’Affry (1667–1734).
Schon ab Ende des 17. Jahrhunderts dienten die d’Affrys Frankreich in sehr hohem Rang. François-Pierre d’Affry, geboren am 6. Mai 1620 in Freiburg, tritt 1648 im Rang eines Leutnants der Kompanie von Praroman in die Schweizergarden ein und wird 1659 Hauptmann einer Kompanie im Dienste Frankreichs. 1666 erhält er eine Freikompanie, danach wird er von 1670 bis 1679 und von 1682 bis 1686 Gouverneur von Neuenburg. Der Vater von sieben Kindern stirbt am 14. Mai 1690.10 Sein Sohn François Pierre Joseph d’Affry (1667–1734)11 trat sechzehnjährig als Kadett dem Regiment der Schweizergarden bei. Er wird Major im Regiment von Surbeck, sodann Oberstleutnant im Regiment Braendlé, Oberst im Regiment Greder, schliesslich Generaladjudant des Herzogs von Burgund und befehligt dann endlich ein Regiment, das seinen Namen trägt. Nach der Aufteilung der Güter seines Vaters in Freiburg am 8. Juli 1699 wird er Eigentümer der in Granges und Freiburg (Place Notre-Dame) gelegenen Häuser und der Hälfte der Wälder und Zehnten von Givisiez und Granges.12 Am 31. Juli 1700 ehelicht er Marie Madeleine von Diesbach-Steinbrugg (1678–1755),13 Tochter von Jean Frédéric von Diesbach, Bürger von Freiburg, und Marie Elisabeth von Steinbrugg aus Solothurn.
6 Der Vater des Landammanns: Louis Auguste Augustin d’Affry (1713–1793), Oberst der Schweizergarde in Paris und Gesandter von König Ludwig XV. in den Niederlanden.
1719 wird er zum Maréchal de Camp (Brigadegeneral) ernannt und dient unter Luxembourg und de Villars. Bei Beginn des polnischen Erbfolgekriegs wird er am 1. August 1734 Generalleutnant der Königlichen Armeen und nimmt an der Seite des Königs von Sardinien am Italienfeldzug gegen die Kaiserlichen teil. Am 19. September 1734 fällt François Pierre d’Affry «beim letzten Sturmangriff in der Schlacht von Guastalla, der weitgehend den Sieg in dieser Schlacht bewirkte», wie sein Sohn feststellt.14 Am 20. September wird er in der Kollegkirche St-Pierre von Guastalla beigesetzt.15
7 Marie Elisabeth d’Alt (1714–1777), Gattin von Louis Auguste.
LEHRJAHRE
EINE BEISPIELHAFTE MILITÄRISCHE LAUFBAHN
Man kann sich dem Leben des künftigen Ersten Landammanns nicht zuwenden, ohne zuvor die herausragende Persönlichkeit seines Vaters zu beleuchten. Manchmal wurden die beiden verwechselt, weil ihre Vornamen so ähnlich