Gotthardfantasien. Lars Dietrich
du den Berg und seinen Wolkensteg?
Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,
In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,
Es stürzt der Fels und über ihn die Flut.»
Nicht den Teufel und seine Brücke also erwähnt er, obwohl der genaue Ort dieser Sage ins Blickfeld kommt, sondern das ungreifbar Urtümliche der Drachen, einer schauerlichen Vorwelt, durch die passieren muss, wer in das heiterleuchtende Italien will. Das Stichwort Maultier aber bindet die archaische Vision an die konkrete Praxis des damaligen Passverkehrs. Goethe hat die Maultierkolonnen, die täglich über den Gotthard zogen und mit kleinen Glocken behängt waren, damit sie im häufigen Nebel nicht verlorengehen konnten, mehrfach beschrieben. Die erste Fahrstrasse über den Pass wurde erst 1830 eröffnet. Goethe hat sie nie gesehen.
Im Gegensatz zur gewissermassen zeitlosen Existenz der ragenden Berge war der Gotthard von Anfang an ein Ort der technischen Herausforderungen. Seine Geschichte ist bis heute auch eine der Ingenieurskunst. Schon als Ort der Sage war er zugleich ein Ereignis des Fortschritts: Der Teufel, der die erste Brücke baute, war technisch begabt, während die Urner, die ihn überlisteten, indem sie ihm die versprochene Seele in Form eines Ziegenbocks überstellten, nur Bauernschläue vorweisen konnten.
Erheiternd ist übrigens, dass schon Haller vor der Frage stand, wie er den Gotthard denn beschreiben solle. Dessen symbolisches Gewicht verlangte nach einer Erwähnung. So machte er ihn kurzerhand zu einem himmelstrebenden Berg und liess eine Strophe mit dem Vers beginnen: «Denn hier, wo Gotthards Haupt die Wolken übersteiget …» Ein solches Haupt sucht man auf dem Gotthard nun wirklich vergebens.
Es hätte allerdings die Möglichkeit gegeben, die zwei Gipfel, die dem Pass am nächsten stehen, den Pizzo Centrale im Osten und den Pizzo Lucendro im Westen, zu einer Zwillingsgruppe zu stilisieren, mit dem Übergang in der Mitte, und so doch noch ein plastisches Gebilde zu gewinnen. Das ist aber nie versucht worden, obwohl die beiden Berge, je knapp 3000 Meter hoch, von eindrücklicher Kontur sind. Ihre Namen sind indessen nicht ins allgemeine Bewusstsein gedrungen und auch heute nur den Alpinisten und Soldaten bekannt; im 18. Jahrhundert waren sie wahrscheinlich noch namenlos. Dagegen findet sich schon früh, auch etwa bei Scheuchzer, der Versuch, den Gotthard symbolisch aufzuwerten, indem man ihn zum Ursprung aller großen Flüsse Europas erklärte. Rhone und Rhein, Ticino und Reuss, Aare und Inn (mithin die Donau) sollten seiner Felsenbrust entspringen, wodurch er, in Analogie zum menschlichen Blutkreislauf, als das Herz nicht nur der Schweiz, sondern des Kontinents hätte gelten können. Aber geografisch ist die schöne Vision leider unhaltbar. Haller, den der mythische Gedanke vom zentralen Ursprung der Gewässer durchaus beschäftigt hat, zog dafür nie den Gotthard in Erwägung, sondern zuerst den Furkapass, später überraschenderweise das Schreckhorn. Die sechste Strophe vor dem Ende des Gedichts begann ursprünglich so:
«Aus Furkens kaltem Haupt, wo sich in beyde Seen
Europens Wasser-Schatz mit starken Strömen theilt,
Entspringt die helle Aar …»
Wozu Haller in einer Anmerkung erklärt, dass mit den «Seen» zwei Meere gemeint seien: «Der Rhodan nach dem mittelländischen Meere, die Reuß und Aare in den Rhein und die Nord-See.» Der Rhodan ist die Rhone, und was die Furka betrifft, stimmt die Aussage, dass die Wasser von hier zu den «beyden Seen» fliessen. Nur für die Aare trifft es nicht zu, obwohl geografisch wenig fehlt. An der Aare aber war dem Berner sehr gelegen; schliesslich strömte sie mitten durch seine Vaterstadt, und der Rest der Strophe ist ein Hymnus auf sie. Also liess Haller die Aare in den späteren Auflagen am Schreckhorn entspringen, was geografisch nicht ganz falsch ist, obwohl das Lauteraarhorn, das Finsteraarhorn oder das Wetterhorn ebensogut in Frage gekommen wären, aber mit dem Ursprung der Rhone hat das Schreckhorn leider gar nichts zu tun, also auch mit dem Mittelmeer nicht. Die definitive Fassung ist demnach sachlich falsch, auch wenn sie prächtig tönt: «Aus Schreckhorns kaltem Haupt, wo sich in beyde Seen / Europens Wasser-Schatz mit starken Strömen theilt …»
Das scheinbar kleinliche Kritteln an einem großartigen Gedicht rechtfertigt sich hier insofern, als dabei die Schwierigkeit sichtbar wird, den nationalen Wunschgedanken vom Ursprung der europäischen Flüsse aus einem einzigen Berg im Herzen der Schweiz zwingend zu begründen. Wieder einmal stellt die empirische Wirklichkeit der patriotischen Fantasie ein nüchternes Bein. So hält man sich denn in der Gegenwart lieber an das Werk der Ingenieure und Mineure, an den ruhmreichen Tunnel.
Dieser Beitrag wurde übernommen aus: Peter von Matt, Das Kalb vor der Gotthardpost. Zur Literatur und Politik der Schweiz, © Carl Hanser Verlag München 2012, S.62–67.
Verena Stössinger
Heidelbeeren und der heilige Antonius
Hinter Amsteg, nach der Kurve beim schwarzsteinernen Kraftwerk, das wirkt wie eine Kaserne, ist die Strasse fast leer. Nur ab und zu überholt uns noch ein Urner Auto, und zweimal kommt ein Bus entgegen. Wie eng das Tal hier schon ist. Steil bewaldete Hänge, an denen Nebel klebt; darüber sind manchmal Bergwände sichtbar, weiss gesprenkelt von Schnee. Fast wie in Norwegen, denke ich – habe ich schon am Vierwaldstättersee gedacht, der aussieht wie ein Fjord. Grau und streng. Aber hier sind mehr Laubbäume zwischen den Tannen, und die Häuser sehen sehr anders aus: sind dunkler in ihrem Schindelkleid, geduckter und giebliger. Und es gibt mehr Kirchen.
Intschi, Gurtnellen-Wiler. Strassendörfer, die wirken, als schliefen sie einen tiefen Schlaf. Die Gasthäuser zu, kein Mensch unterwegs, und alles sieht etwas ärmlich aus, aber schon sind die Häuser wieder verschwunden. Die Strasse steigt an. Ziegen weiden auf schrägen Wiesen, wir sehen ihre dicken weissen Hintern. Ein Bauer mäht mit der Sense. Unter der strasse schäumt die weissgraue Reuss zu Tal, in Galerien ziehen Güterzüge und elegante weissrote Fernzüge vorbei, und unter dem Himmel hängt das Betonband der Autobahn. Als wir aussteigen auf einem gekiesten Parkplatz, hören wir erst nur den Lärm der Autos. Er ist lauter als das Tosen der Reuss. Wir schauen uns um. Ein gelber Wanderwegweiser, auf dem Waldboden Brennnesseln, Farn und Erdbeerpflanzen, und «siehst du die Pilze?», fragt Jürgen. Drei verschiedene Arten sind es; er kennt zumindest die eine. Braunweisse Boviste.
In Wassen hat es einen Volg, der offen ist. Wir halten an. Jürgen kauft Birnen und Vogelfutter und ich e Birewegge, die sehr gut riecht. Aber die Tankstelle ist auch hier nicht besetzt; niemand da, der uns helfen kann, den Druckabfall beim hinteren rechten Rad zu korrigieren, auf dem ein gelbes Warnlicht auf dem Display hinter meinem Leihwagensteuerrad beharrt. Wir fahren damit weiter, was bleibt uns übrig; sind auf einmal mit der Autobahn auf gleicher Höhe und sehen, wie sich die Autos, die südwärts fahren, stauen. Sind immer noch Herbstferien? Oder gibt es gar keine Zeit mehr, in der nicht gereist wird? Langsam schon gar, und mit Blick für Unerwartetes? Kurz vor Göschenen finden wir nämlich einen Wunderbaren Stand. Eine Art Kiosk: Berg- und Ziegenkäse gibt es da, Alpenrosenhonig, Rauchwürste, Speck und Heidelbeerkonfi, eingemacht am 1. September 2015, wie auf dem Etikett steht. Wir kaufen Käse und Konfi, denn ja, natürlich: die Heidelbeeren sind aus der Gegend, sagt die Frau im roten Pullover mit eingestricktem weissem Kreuz, die sie verkauft: Sie pflückt sie selbst und mag auch die gezüchteten nicht, obwohl die grösser sind und das ganze Jahr über erhältlich, und wir erzählen von den Beeren, die uns die Schwägerin noch Mitte September vom Luzerner Markt nach Basel brachte. Urner Heidelbeeren aus der Gegend von Gurtnellen waren es. Und während die Verkäuferin wissen will, was die denn da gekostet haben, und zu rechnen beginnt, denke ich wieder an Norwegen. An das Häuschen am Austdalvatnet, wo wir schon fünf lange helle Sommer verbracht haben; erst zu dritt, noch mit Nina, danach zu zweit. Schüsselweise haben wir da Heidelbeeren gegessen, jeden Tag, die Stauden stehen bis vor die Tür, und Jürgen, der sie seit seiner Kinderzeit Blaubeeren nennt, hat jeweils auch Marmelade daraus gekocht auf dem Herd mit dem Holzfeuer und die vollen Gläser dann im Handgepäck nach Hause transportiert, so lange man das noch durfte. Nur einmal hat ihn ein Zöllner am Flughafen angehalten und wollte sehen, was er in der Tasche hatte, die er so sorgsam trug. «Alles Marmelade! Selber gemacht!», sagte er, worauf der Zöllner stotterte: «P-Potz Cheib!»
Heidelbeeren schmecken aber nicht nur gut, sie sind auch sehr gesund. Sie enthalten viel Vitamin C und Antioxydantien,