Die Schweiz im Kalten Krieg 1945-1990. Thomas Buomberger

Die Schweiz im Kalten Krieg 1945-1990 - Thomas Buomberger


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Mit Vorträgen, Aufführungen, Sportanlässen, Radio- und Filmvorführungen sollte der Widerstandswille der Bevölkerung gestärkt werden. In rund 3000 zweitägigen «Aufklärungskursen» mit 200 Referenten wurde die Funktion der zensurierten Presse ergänzt beziehungsweise die Sichtweise der Geistigen Landesverteidigung unters Volk gebracht. Ein Netz von 7000 «Korrespondenten» rapportierte der Armeeführung die Stimmungslage in der Bevölkerung. Heer und Haus wurde damit während des Kriegs zum wichtigsten – offiziellen – Instrument der Geistigen Landesverteidigung, obwohl Etter sie «primär dem Bürger, dem Menschen, der freien Entfaltung des Geistes» überlassen wollte.31 Ein weiteres Projekt der Geistigen Landesverteidigung war die Gründung des Landessenders Beromünster oder des noch heute existierenden Schweizer Feuilletondienstes, der Schweizer Schriftstellern eine Publikationsmöglichkeit bot. Schliesslich ist auch die 1940 gegründete Schweizer Filmwochenschau ein Kind der Geistigen Landesverteidigung. Unter Androhung von Bussen wurde 1940 jedem Kinobetreiber auferlegt, vor einem Spielfilm die Wochenschau zu zeigen. Zwar sollte sie eine offiziös-schweizerische Sicht auf das Zeitgeschehen vermitteln, doch es irritierte, dass Filmsprache und Diktion der Sprecher der Filmwochenschau fatal ähnlich waren wie das hervorragend und verführerisch gestaltete, stark von Leni Riefenstahl geprägte, deutsche Pendant.

      Den emotionalen Höhepunkt fand die Geistige Landesverteidigung in der Landesausstellung 1939 in Zürich – an diesem Hochamt des Patriotismus entzündete sich der Landigeist, der noch während einer ganzen Generation hell lodern sollte. Die von Bundesrat Etter verantwortete Landi, die mit zehn Millionen Besuchen einen nie erwarteten Erfolg – trotz Querelen und Unstimmigkeiten im Vorfeld – feierte, war eine dreidimensionale Demonstration der Geistigen Landesverteidigung. Sie inszenierte etwa mit dem Schifflibach oder dem Dörfli eine Kultur eines friedliebenden, genügsamen, den Traditionen verhafteten Volkes, das sich von einer internationalistischen Zivilisation abgrenzte, einer Zivilisation der Verstädterung, Industrialisierung, Kommerzialisierung, Leere, Sinnlosigkeit und Gleichmacherei.32 Doch es war auch die Demonstration einer modernen Schweiz als freundliches Ferienland und internationale Verkehrsdrehscheibe mit einer leistungsfähigen Industrie. Auch architektonisch beschritt der Landistil, der eine gemässigte Moderne repräsentierte, neue Wege. Daneben zeigte die Ausstellung mit der Monumentalstatue «Wehrbereitschaft» von Hans Brandenberger, die einen Soldaten/Arbeiter darstellte, die im Titel dieser Skulptur ausgedrückte Integration. Die Bildsprache war indes kaum zu unterscheiden von den heroisierenden skulpturalen Darstellungen in Deutschland oder Italien.

      Haften blieb im kollektiven Gedächtnis vor allem das folkloristische Gemeinschaftserlebnis. Kaum einer hätte dieses Gefühl der Einigkeit und der Erhabenheit besser ausgedrückt als der Schriftsteller Alfred Graber, der in der Schweizer Illustrierten schrieb: «Der Gang über den Höhenweg beweist es. Hier spricht die Schweiz selbst, entkleidet von jeglichem Privatinteresse. Dein Land! Du lernst es neu und tiefer begreifen, du lernst – wenn du je gezweifelt hast – wieder glauben. An die Schweiz, an ihre hohe Sendung. Du lernst das Land lieben in seiner Vielfalt und sehen als eine Einheit.»33

      Wo kippt Stolz in Selbstgerechtigkeit um? Die Schriftstellerin Victoria Wolff, eine deutsche Emigrantin, die aufgrund einer Denunziation des Schweizerischen Schriftstellerverbands aus der Schweiz ausgewiesen wurde, der Gestapo in die Hände fiel, aber dennoch in die USA fliehen konnte, besuchte noch die Landi, als sie bereits ihren Ausweisungsbefehl hatte. Sie schrieb: «Der Schweizer, der bisher genug gehabt hat an biederen Tugenden, hat plötzlich das grosse Gefühl bekommen, und er wagt es endlich, jawohl, endlich wagt er es, das auch zu zeigen: es besteht aus Freude und Bewunderung und Stolz. Es ist da, weil er nicht nur weiss, was er selbst kann, sondern weil er vor sich sieht, was seine Landsleute können. Er kritisiert nicht mehr, er bewundert. Und das tut gut. Der Fremde, der auch bewundert, sieht es an jedem Gesicht.»34

      Die Geistige Landesverteidigung war nicht nur der schützende Rock von Mutter Helvetia. «Dass dieser Rückzug ins ausschliesslich Nationale, das ins Nationalistische abzugleiten drohte, nicht nur heroisch, sondern auch tragisch war, haben manche von uns bereits damals empfunden. […] Geistige Landesverteidigung kam in Gefahr, in geistige Selbstgenügsamkeit, ins Glück im Winkel, in Fremdenhass umzuschlagen»,35 schrieb rückblickend der Historiker Jean Rudolf von Salis, der ein feines Gespür für das Subkutane in einer Gesellschaft hatte.

      Als Bollwerk gegen faschistische Ideologien wurde die Geistige Landesverteidigung errichtet. Doch gegen Ende des Kriegs wurde sie um 180 Grad gewendet, und nach Kriegsende als Offensivwaffe gegen den Kommunismus eingesetzt. Etter hatte allerdings schon früh das Terrain vorbereitet. In seinen Reden von 1937 und 1939 kamen die Begriffe «Faschismus» und «Nationalsozialismus» nie vor, während er den Kommunismus als grösste mögliche Bedrohung hinstellte. «Wenn wir uns z. B. gegen die geistige und politische Infiltration durch den Kommunismus zur Wehr setzen, so verteidigen wir damit nicht nur die demokratische, wir verteidigen damit zugleich die geistige Schweiz. Der Kampf gegen den Kommunismus bedeutet in meinen Augen nicht nur eine politische Notwendigkeit. Er entspricht vielmehr auch einer wesentlichen Forderung der geistigen Verteidigung des Landes gegen den gefährlichsten Feind menschlicher Freiheit und Persönlichkeit.»36

      Erst mit der Uminterpretation nach dem Krieg entfaltete die Geistige Landesverteidigung während eines Vierteljahrhunderts ihre nachhaltige Wirkung, die noch mehr als vorher Konformismus und Duckmäusertum, Anpassung und Denunziation förderte und einen antikommunistischen Furor entfachte, der von kaum einem anderen westlichen Land übertroffen wurde. Diese Ära in der Schweiz lässt sich mit Fug und Recht als Zeitalter des Antikommunismus bezeichnen. Die Geistige Landesverteidigung erwies sich als das wirkungsmächtigste geistig-kulturelle Konstrukt des 20. Jahrhunderts, das die mentale Verfassung grosser Teile der Bevölkerung geprägt, einen retardierenden Einfluss auf die Aussenpolitik und einen beschleunigenden auf die Sicherheitspolitik hatte, das Reduit-Denken beförderte und eine Öffnung der Schweiz behinderte.

      Der Gotthard spielte in der Geistigen Landesverteidigung eine zentrale Rolle. Er hatte schon immer viele Bedeutungen: Passübergang, Bollwerk, Herz Europas, Wasserscheide, Sehnsuchtsort, Kraftquelle, mentale und materielle Festung. Der Mythos Gotthard wurde zur Zeit der Bedrohung durch Nazi-Deutschland fest eingebunden in die Geistige Landesverteidigung. Er evozierte die Vorstellung einer unverdorbenen Alpeninsel, wo der Sitz des edlen «homo alpinus helveticus» war, es bot sich das Bild des Wächters der Passstrasse an oder des Granits, aus dem die Willensnation Schweiz gefestigt ist.

      Doch wichtiger als der Mythos war die Funktion des Gotthards als Bollwerk. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und der rasanten Entwicklung der Waffentechnik stellte sich für die Schweiz die Frage, wie die Landesverteidigung zu gewährleisten sei. Es stritten sich dabei die Verfechter eines Grenzkordons mit den Befürwortern einer Zentralfestung. Eine 1872 eingesetzte Landesbefestigungskommission sollte die Frage klären. Mit der Eröffnung des Gotthardtunnels 1882 war die Sache entschieden. Der Krieg hatte die strategische Bedeutung der Eisenbahnen deutlich gemacht. Vier Jahre später wurde mit dem Bau einer Festung am Alpenübergang begonnen.37 Das Projekt sah eine Abwehrstellung in der Region Airolo und im Raum Andermatt vor. 1892 wurde mit den Arbeiten an den Festungswerken Daily und Savaton oberhalb von St-Maurice zur Sperrung von Simplon und Grossem St. Bernhard begonnen. Aus den Befestigungen wurde kein Geheimnis gemacht: Bis 1913 waren sie kaum getarnt, man konnte sie sogar besuchen.38 Die Tarnungen, oft in Form von Chalets oder Ställen, fanden allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg ihre grösste Verbreitung. Mit dem Kalten Krieg gewann die Tarnung als Teil des Verteidigungsdispositivs wegen der Spionagetätigkeit zusätzlich an Bedeutung.

      Während des Ersten Weltkriegs wurden die Alpenfestungen nur unwesentlich verstärkt. Bei Kriegsende 1918 kam die Armeeführung zum Schluss, die Festungswerke hätten ihren strategischen Wert verloren, der Unterhalt sei reine Geldverschwendung, neue sollten keine mehr gebaut werden.39 Eine pazifistische Grundströmung in Europa nach dem Ersten Weltkrieg liess die Rüstungsausgaben allgemein schrumpfen. Mit einem Memorial forderte Eugen Bircher, bedeutender Kriegschirurg, Divisionär und damals Präsident der Schweizerischen Offiziersgesellschaft (SOG), Gründer der Bürgerwehren 1918 und Mitbegründer der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB, heute


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