Innenansichten eines Niedergangs. Urs Hofmann
ausnahmslos von Pfarrern geführten Redaktionen verstanden ihre Zeitschriften als Vermittlungsagenturen von Religion und Religiosität, aber auch als Kommunikationsräume zur Verhandlung von Werten. Sie trugen zur «Konstruktion, Repräsentation und Plausibilisierung individueller und kollektiver Identitätsangebote» bei.91 Die Zeitschriften dienten also der Sinnkonstruktion und der Selbstvergewisserung der protestantischen Gemeinde. Insbesondere die Leitfiguren des Basler Protestantismus nutzen diese Möglichkeit, sich neben der Auseinandersetzung mit theologischen Fragen auch sozialen, gesellschaftlichen und politischen Themen zu widmen. Für die Herausgeber und die tonangebenden Autoren bot sich damit gleichzeitig die Gelegenheit, Inhalt und Erscheinungsbild der jeweiligen Zeitschrift in ihrem Sinne zu prägen. Eine wesentliche Rolle in identitätsstiftenden Prozessen spielten neben Selbstbeschreibung und Traditionsbildung Abgrenzungs- und Ausgrenzungsdiskurse. Referenzpunkte waren die alternativen kirchlichen und kirchenpolitischen Richtungen. Abgrenzung von den anderen Richtungen hiess Abwertung der Konkurrenz, Entwurf eines überlegenen Selbstbilds, Verwischung von Widersprüchen zugunsten einer eindeutig definierten Identität, Definition eines Sündenbocks als Projektionsfläche für negative Begleiterscheinung der Modernisierung.92 Die hier untersuchten kirchlich-religiösen Zeitschriften aus Basel repräsentierten in diesem Sinne bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die fest gefügten theologischen und kirchenpolitischen Parteien, wie sie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts den schweizerischen Protestantismus prägten.93
2 – 1 – 1
SCHWEIZERISCHES PROTESTANTENBLATT
Das Hauptorgan der «Reformer» (der kirchlich Liberalen) war das Schweizerische Protestantenblatt, später Schweizerisches Reformiertes Volksblatt. Es trug im Titel einen programmatisch zu verstehenden Satz, den Johannes Oecolampad an Luther schrieb: «Wir sollen nur nicht in den Sinn nehmen, dass der heilige Geist gebunden sei an Jerusalem, Rom, Wittenberg oder Basel, an meine oder eine andere Person. In Christo allein ist die Fülle der Gnade und Wahrheit.» Die Zeitschrift erschien 1878 zum ersten Mal, jeweils samstags, im Umfang von rund acht Seiten. Per 1. Juli 1939 schloss sich das Schweizerische Protestantenblatt aus Basel mit dem Religiösen Volksblatt aus St. Gallen und dem Schweizerischen Reformierten Volksblatt aus Bern zusammen. Diese drei Zeitschriften des Zentralkomitees des Schweizerischen Vereins für freies Christentum beabsichtigten mit dem Zusammenschluss unter dem Dach des Schweizerischen Reformierten Volksblatts die Bündelung ihrer Kräfte – auch gegenüber der «kirchlichen Rechten» – zu einer nationalen «kirchlich-fortschrittlichen Christlichkeit».94 Die Verantwortlichen interpretierten die Zusammenlegung selbstredend als «ein[en] tüchtige[n] Schritt vorwärts». Der Zusammenschluss sei «völlig freiwillig» erfolgt.95 Ob abnehmende Abonnentenzahlen eine Rolle gespielt haben, ist nicht bekannt. Obwohl die Zeitschrift nun neu in St. Gallen herausgegeben wurde, hatte weiterhin mindestens ein Basler Vertreter Einsitz in der Redaktion, und spezifische «Basler Themen» waren bis Ende 1946 weiter vertreten. Ab Januar 1947 bestand keine verlegerische oder redaktionelle Verbindung der Zeitschrift mehr nach Basel. Das Schweizerische Reformierte Volksblatt wurde deshalb ab diesem Zeitpunkt nicht mehr in die vorliegende Untersuchung miteinbezogen.
2 – 1 – 2
DER KIRCHENFREUND
Den traditionellen Gegenpol zu den «Reformern» vertraten die «Positiven», sie pflegten einen kirchlichen Konservativismus und hielten das Erbe der Reformation und des Pietismus hoch: «Wenn es für die Liberalen wesentlichstes Anliegen war und blieb, dass die Volkskirche allen theologischen Lehrmeinungen, allen religiösen Überzeugungen freien Raum zu geben habe, so betonten die Positiven die unaufgebbare Bindung an die Autorität der Bibel und der alten Bekenntnisse.»96 Organ der Positiven war der Kirchenfreund. 1867 in Basel als Basler Kirchenfreund gegründet, erschien er jeweils am 1. und 15. des Monats. Auch diese Zeitschrift trug ihre Selbstbeschreibung im Untertitel: «Blätter für die evangelische Wahrheit und das kirchliche Leben». Weil die Verleger des Blattes, Helbing & Lichtenhahn in Basel, Ende 1918 angesichts der «Steigerung der Herstellungskosten» keine Möglichkeit mehr sahen, das Erscheinen des Kirchenfreundes fortzuführen, beschloss das Zentralkomitee des Evangelisch-kirchlichen Vereins, sein Zentralorgan zu übernehmen. Der Seitenumfang wurde dabei von 16 auf 8 Seiten reduziert. Glaubt man den Angaben der Redaktion, genügte die Zahl der Abonnenten «schon lange nicht mehr, um das Blatt sicherzustellen, obschon seit zirka zehn Jahren [...] die Zahl der Abonnenten beständig im Steigen begriffen war».97 Verlag und Redaktion waren nur mehr kurze Zeit in Basel ansässig, 1920 erfolgte die Verlegung nach Zürich. Mit Basel weiterhin verbunden blieb der Kirchenfreund durch Basler Redaktionsbeteiligung. Am 15. Dezember 1951 erschien die letzte Ausgabe der Zeitschrift, das Blatt hatte «einen zu kleinen Leserkreis», zudem machte ihm die doppelte Aufgabe, theologisches und erbauliches Blatt zu sein, offenbar zu schaffen: «Den einen war der Kirchenfreund zu theologisch, den andern zu wenig theologisch.»98 Statt aber klein beizugeben, plante der Schweizerische evangelisch-kirchliche Verein eine noch viel grössere Zeitschrift – unter dem Namen Reformatio sollte die umfangreiche Monatsschrift weiterhin der positiv-evangelischen Kirchenpolitik dienen, allerdings sprachlich «fasslicher, anschaulicher, zügiger» und inhaltlich breiter.99 Reformatio hatte hingegen keinen Bezug mehr zu Basel, weshalb diese Zeitschrift für die vorliegende Forschungsarbeit nicht systematisch, sondern nur punktuell, also themenbezogen untersucht wurde.
2 – 1 – 3
CHRISTLICHER VOLKSBOTE/CHRISTLICHER VOLKSFREUND
Ebenfalls der positiven Richtung zugerechnet werden können der Christliche Volksbote und der Christliche Volksfreund, die wöchentlich in der Basler Druckerei Friedrich Reinhard erschienen sind. Der Herausgeber des seit 1833 publizierten Christlichen Volksboten, entschloss sich 1941 vermutlich aus wirtschaftlichen Gründen dazu, die Zeitschrift einzustellen. Zu diesem Zeitpunkt zählte der Volksbote noch 1500 Abonnenten.100
Auch sein Pendant, der Christliche Volksfreund, sah sich in den 1940er-Jahren gezwungen, das Erscheinen aus Rentabilitätsgründen einzustellen. Während im ersten Jahr 2240 Abonnenten gezählt werden konnten, waren es zur Blütezeit der Zeitschrift über 10 000, zum 50-jährigen Bestehen 4365 und zum Zeitpunkt der Einstellung 1948 noch 2133.101 Als Hauptgrund für die Einstellung werden die «um ein Vielfaches» gestiegenen Kosten angegeben; «die Einnahmen decken in keiner Weise mehr die Ausgaben.» Dazu kam, dass wohl auch die Dringlichkeit, dem «mächtigen Vordringen der Reformbewegung, die damals [z. Z. der Gründung der Zeitschrift, U. H.] in die Gemeinden eindrang und weite Kreise bewegte und beunruhigte», entgegenzutreten, nicht mehr im selben Masse gegeben war.102
2 – 1 – 4
KIRCHENBLATT FÜR DIE REFORMIERTE SCHWEIZ
Die Vertreter der dialektischen Theologie hatten im Kirchenblatt für die reformierte Schweiz ihr eigenes Organ, dasjenige mit dem längsten Atem. Die wesentlich von Basel aus geprägte Richtung (Karl Barth, Eduard Thurneysen) hatte mit Gottlob Wieser, Pfarrer